Wanderjahre: Sind sie überhaupt noch zeitgemäß?
Wir waren letztens in der Stadt. Beim Nachhausefahren sahen wir zwei junge Männer, die mit einem Beutel, der an einen Holzstab gebunden war auf dem Rücken neben uns auf dem Bürgersteig laufen. Die Stäbe mit dem Beutel kann man sich vorstellen wie die Beutel, die auch Hirten immer über der Schulter tragen. Im Beutel befindet sich meistens etwas Proviant. Beide waren ziemlich dürftig gekleidet, die Kleider waren schon sehr alt und auch dreckig. Die beiden sind mir natürlich gleich aufgefallen und so fragte ich dann auch meine Mutter, was das denn für Typen wären. Meine Mutter meinte dann, das wären junge Männer auf der Walz. Ich hatte davon noch nie etwas gehört und so begann sie mir erst einmal zu erklären, was es überhaupt bedeutet auf der Walz zu sein.
Sie meinte es wäre ein sehr alter Brauch, früher traf man ihn noch mehr an als heutzutage. Es handelte sich meistens um junge Männer in der Handwerksbranche, die ihre Lehre bei einem Betrieb abgeschlossen haben. Sie entscheiden sich dann dafür eins oder zwei Jahre mehr oder weniger auf der Straße zu leben und wie Nomaden von Stadt zu Stadt zu ziehen und dort nach Arbeit zu fragen. Wenn sie Glück haben, können sie dort für ein paar Monate arbeiten und erhalten als Bezahlung Verpflegung und Unterkunft. Das ganze müssen sie wie gesagt eins oder zwei Jahre durchziehen und dürfen sich währenddessen auch nicht ihrem Zuhause nähern. Sie dürfen nicht nach hause und Essen holen.
Mich interessierte dann natürlich, was das ganze denn überhaupt bringen würde. Meine Mutter meinte, sie wisse es auch nicht genau, wahrscheinlich hätten es die Menschen gemacht, um nach ihrer Lehre Erfahrungen zu suchen. Wenn man immer mal woanders arbeitet, so gewinnt man auch unterschiedliche Eindrücke, weil es überall ein bisschen anders gehandhabt wird. Außerdem ist man vielleicht gerade in diesem Alter ziemlich abenteuerwitzig und möchte viel reisen. Für mich wäre das aber trotzdem nichts, vor allem, weil man sich seinem Zuhause eben nicht nähern darf.
Wie gesagt hatte ich von der Walz oder den Wanderjahren, wie es Wikipedia nennt, noch nie etwas gehört. Kennt ihr ebenfalls Leute, die auf der Walz sind oder waren? Was bringt das ganze? Was darf man und was darf man nicht? Darf man sich seinem Zuhause wirklich nicht nähern? Auch nicht seinem Heimatdorf? Wo lebt man? Bekommt man überhaupt irgendeine Unterstützung oder muss man sich da wirklich alleine durch kämpfen? Sind die Wanderjahre heute überhaupt noch realisierbar bzw. gibt es Leute, die immer noch auf die Walz gehen? Ich denke die wenigsten würden es heute wirklich ohne ihren Fernseher, PC oder ihr Handy aushalten. Wäre das was für euch?
Nimm es mir nicht böse, aber das klingt für mich doch alles sehr nach der Geschichte von Hans im Glück, der auch seinen Beutel an einen Stab hängt und mit diesem dann durch die Gegend zieht. Realistischer würde sich deine Geschichte anhören, wenn die jungen Männer einen Rucksack bei sich tragen würden, und zwar einen richtigen, modernen Rucksack. Und nicht einen Stoffsack an einem Stab, so wie du es beschreibst. Das würde heutzutage bestimmt niemand mehr machen, zumindest kann ich mir das nicht so recht vorstellen.
Ich selber kenne niemanden, der in irgendeiner Form vergleichbare Wanderjahre eingelegt hätte zu dem, was du beschreibst. Gut, ich kenne eine ganze menge Leute, die nach ihrer Lehre erst einmal von Betrieb zu Betrieb gewechselt sind, bis sie dann endlich eine Arbeitsstätte gefunden hatten, die ihnen zugesagt hat und bei der sie dann geblieben sind. Aber Handwerker, die mehr oder weniger von Haus zu Haus ziehen und die als Entlohnung für ihre Arbeit nur Verpflegung und Unterkunft verlangen, die sind heute sicherlich sehr selten. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es sie eigentlich gar nicht mehr gibt.
Schließlich könnten solche Menschen ziemliche Probleme mit dem Staat bekommen. Das klingt nämlich irgendwie alles verdächtig nach Schwarzarbeit, würde ich sagen. Mit der Rechtslage kenne ich mich da allerdings nicht aus, nur ist es doch so, dass diese Menschen nicht einfach anderen Leuten helfen um ihnen einen Gefallen zu tun, sondern dass sie wirklich eine Entlohnung für ihre Arbeit bekommen. Sie werden ja mehr oder weniger in Naturalien bezahlt und ob man das vielleicht auch irgendwie angeben muss, das weiß ich eben nicht. Auf jeden Fall haben sie keinen festen Wohnsitz, können diesen nicht bei einer Versicherung angeben und sind somit vermutlich auch nicht immer krankenversichert. Und in die Rentenkasse können sie auch nicht einzahlen, weil sie ja kein Geld für ihre Arbeit bekommen. Für mich ist dieser Brauch in der heutigen Zeit nicht mehr realisierbar, ich kann es mir zumindest einfach nicht vorstellen.
Aber wie gesagt, da ich mit den rechtlichen Grundlagen absolut nicht vertraut bin, könnte es auch sein, dass es tatsächlich noch realisierbar ist, in der heutigen, modernen zeit auf die Wanderjahre zu gehen. Nur glaube ich nicht, dass jemand heutzutage noch seine Siebensachen packt, sie in einen Beutel legt und diesen dann an einem Stock gebunden über der Schulter trägt. Hört sich nicht realistisch an, wenn man nicht in der Vergangenheit lebt.
Dieses Stofftuch, in dem alle Sachen seinen Platz finden und dann an einem Stab getragen wird, gibt es tatsächlich auch heute noch. Dies ist im Zimmererhandwerk (und auch einigen anderen Handwerksberufen) eben Tradition und wird auf der Walz genauso getragen, wie iCandy es beschrieben hat. Auch die Kleidung ist noch genauso geschnitten, wie es seit ewigen Zeiten üblich ist, deshalb fallen die jungen Männer auf der Walz heutzutage auch gleich ins Auge.
Wenn man sich entscheidet diesen Beruf zu erlernen und nach erfolgreicher Abschlußprüfung auf die Walz zu gehen, gibt es in der Tat bestimmte Regeln, die man einzuhalten hat. So ist der eigene Heimatort in einem bestimmten Umkreis (ich glaube, es sind 50km) absolut tabu und man muss eben diesen Abstand einhalten. Die Handwerksbetriebe, die von diesen jungen Männern angesteuert werden, müssen sie in der Regel auch für eine bestimmte Zeit aufnehmen und ihnen Arbeit geben, dafür leben und essen sie dort auf Kosten des Meisters, bzw. Inhabers. In einem Buch wird genau aufgeschrieben, wie lange die Leute dort beschäftigt waren, auch eine Bewertung ihrer Arbeitsleistung kommt dort hinein.
Um z.B. selbst einen Meistertitel in dem Beruf zu erlangen, gehört die Walz unabdingbar zu den Vorraussetzungen, die man erfüllen muss. So eine Walz dauert drei Jahre und einen Tag und wird in aller Regel zu Fuß zurückgelegt.
Diese Wanderjahre gibt es immer noch. Es gibt auch schon Themen hier im Forum darüber. Es nannte sich früher "auf die Walz gehen".
@olisykes91: Warum sollten sie Rucksäcke tragen? Traditionsgemäß tragen sie die Zimmermannsuniform und auch ein Säckchen am Stab und das habe ich selber auch schon gesehen und das erst vor kurzer Zeit hier in der Stadt. Das symbolisiert, dass sie mit nichts losziehen und nichts brauchen. Weder Geld noch sonstwas. Nur Wechselklamotten, die sie dann auch immer wieder waschen müssen.
Es ist so, dass man nachweislich in einem Heft dokumentiert und von allen wo sie gearbeitet haben unterschrieben eine gewisse Anzahl an Stationen durchleben müssen. Sie sind ohne Geld unterwegs und arbeiten nur für Kost und Logie. Auch das ist heute noch zeitgemäß. Wenn sie dann eine gewisse Zeit unterwegs waren und das alles nachweisen können, können sie den Meister machen. Ob mittlerweile Handys erlaubt sind, weiß ich nicht.
olisykes91 hat geschrieben:Realistischer würde sich deine Geschichte anhören, wenn die jungen Männer einen Rucksack bei sich tragen würden, und zwar einen richtigen, modernen Rucksack.
Ein richtig moderner Rucksack gehört aber nicht zu der Kluft dazu, welche Gesellen auf der Walz tragen. Wer auf die Walz geht, muss einige Regeln beachten. Dazu gehört eben auch, dass man in der Öffentlichkeit die entsprechende Kluft trägt. Genau an dieser kann man Gesellen auf der Walz ja auch erkennen. Da kann man nicht einfach einen modernen Rucksack nehmen. Das Bündel gehört eben einfach dazu.
Schließlich könnten solche Menschen ziemliche Probleme mit dem Staat bekommen. Das klingt nämlich irgendwie alles verdächtig nach Schwarzarbeit, würde ich sagen.
Auch auf der Walz muss man sich an einige Formalitäten halten. Das hat nichts mit Schwarzarbeit zu tun. Man muss auch ein Wanderbuch mit sich führen, in dem dann auch die Anstellungen eingetragen werden. Ebenfalls lässt man sich da die Städtesiegel eintragen, wenn man irgendwo war.
Hört sich nicht realistisch an, wenn man nicht in der Vergangenheit lebt.
Der Brauch stammt natürlich aus dem Mittelalter. Soweit ich weiß, war das zeitweise sogar Pflicht, bevor man sich irgendwo niederlassen durfte. Aber trotzdem gibt es auch heute noch Leute, die auf die Walz gehen. Ein Freund von mir (Zimmermann) hat das auch gemacht. Er meinte am schwersten fiel es ihm, in den dreiJahren nicht auf Besuch nach Hause zu dürfen. Denn es gibt ja einen bestimmten "Bannkreis". Aber dafür war er im Ausland viel unterwegs und hat viel gesehen und kennen gelernt.
Ich habe auch schon öfter Wandergesellen als Anhalter mitgenommen. Ein eigenes Fahrzeug dürfen sie ja nicht haben und öffentliche Verkehrsmittel sind wohl verpönt. Auf Festivals laufen auch oft Wandergesellen in der typischen Kluft rum. Letztens habe ich sogar eine Frau gesehen, die auch in Kluft und wohl auf Wanderschaft war. Fand ich interessant. Die Tradition lebt also tatsächlich weiter und vielleicht sogar wieder mehr auf.
Ich habe auch in meiner Heimatstadt des Öfteren auffällig gekleidete Männer gesehen und wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, bis eine Freundin mich ebenfalls über die Walz aufklärte. Ob sie aber wirklich die von dir beschriebenen Beutel dabei hatten, daran kann ich mich nicht erinnern. Davon hatte ich bis dahin nie etwas gehört, zumindest wusste ich nicht, dass man das in der heutigen Zeit tatsächlich noch macht. Ob es irgendwelche Regeln gibt, kann ich dir aber nicht sagen.
Ich denke, dass so ein Wanderjahr dem Menschen persönlich eine Menge bringt, denn es ist ja vom Prinzip her nichts anderes als das beliebte "work and travel". Man lernt dabei sicher viele Leute kennen, man lernt sich durchzubeißen, mit Heimweh umzugehen und macht viele neue Erfahrungen. Und es macht sich anschließend sicher gut auf dem Lebenslauf.
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