Durch bloßes Hören der Stimme auf anderes Aussehen schließen

Ich höre eigentlich nie allzu oft Radio. Aber wenn mich meine Eltern dann irgendwo hinfahren müssen, so bin ich quasi gezwungen Radio zu hören. Die Stimmen der Radiomoderatoren kenne ich natürlich auswendig, weil ich mit diesem Radiosender, den meine Eltern schon seit Ewigkeiten hören, aufgewachsen bin. Erst neulich bin ich dann auf der Suche nach einem Lied, das im Radio immer gespielt wird auf YouTube auf den Kanal dieses Radiosenders gestoßen. Dort wurde das Lied als Unplugged Version angeboten. Ich habe mir dann auch mal die anderen Videos auf diesem Kanal angesehen und dort wurden auch alle Radiomoderatoren vorgestellt.

Ich hatte mir echt alle Moderatoren völlig anders vorgestellt. Das allererste Mal hörte ich nicht nur ihre Stimme, sondern saß, wie sie aussahen. Und vielleicht kennt ihr es auch: Wenn man die Stimme einer Person hört, so schließt man meistens auch schon auf deren Aussehen. Man kann eigentlich gar nicht wissen wie die Person aussieht, aber man macht sich so seine Gedanken und bildet sich in seiner Fantasie seine eigene Figur mit dieser Stimme. Und wenn man die Person dann das erste Mal sieht, ist man erstaunt, wie falsch man eigentlich mit seiner Einschätzung lag.

Wie ist das bei euch? Hattet ihr auch schon mal bei einer Person wie zum Beispiel einem Radiomoderatoren, ein völlig falsches Bild von ihr wegen ihrer Stimme? Kann man sich durch das bloße Hören einer Stimme überhaupt vorstellen, wie eine Person aussehen könnte? Geht das eigentlich? Hattet ihr euch eine Person auch schon mal ganz ähnlich vorgestellt wie sie dann ausgesehen hat? So bemerkt man erst einmal welches Bild Blinde von jedem Menschen, der ihnen begegnet, sogar von ihren eigenen Familienangehörigen haben.

Ich habe eine Zeit sehr viel Radio gehört und natürlich habe ich mir von meinen Lieblingsstimmen schon Bilder vorgestellt. Und um ehrlich zu sein, habe ich mir die meisten auch ganz anders vorgestellt. Aber wirklich enttäuscht bin ich nicht von den Gesichtern zu den mir doch sehr sympathischen Stimmen. Und eine schöne Stimme ist für einen Radiomoderator ja eigentlich auch viel wichtiger, als ein gutes Aussehen.

Auch ich musste oft damit Erfahrung sammeln, dass ich mir zu einer gehörten Stimme, eine Person vorgestellt hab und diese dann überhaupt nicht so aussah, wie ich dachte. Sowas kam natürlich oft bei Radiomoderatoren, aber auch manchen Sängern vor, aber was ich viel lustiger fand - bei Arbeitskollegen.

Ich war noch recht neu in meinem damaligen Betrieb und durfte den Telefondienst verrichten und wir hatten außer den vielen Kundenanfragen auch viele Mitarbeiter im externen Bereich, welche ziemlich häufig im Büro anriefen. Den ein oder anderen hatte man mit der Zeit schon öfter in der Leitung gehabt und seine Stimme war einem vertraut und man machte sich halt zu jeder Stimme ein Gesicht. Ab und zu kamen diese Mitarbeiter kurz ins Büro, wenn sie etwas abholen oder abgeben oder an einer Besprechung teilnehmen mussten. Manchmal waren sie dabei aber so in Eile, dass man diese Gesichter nicht einfach zuordnen konnte und bei manchen hatte es länger und ein paar Mal mehr gedauert, bis man endlich wusste, welches Gesicht zu welchem Namen und zu welcher Stimme gehörte.

Bei den meisten davon passte die sympathische Stimme überhaupt nicht zu der Person, die dazugehören sollte, weil mein inneres Bild einfach komplett zerstört war. Es war sehr gewöhnungsbedürftig, die Realität mit dem inneren Bild zu vereinbaren und das vorige Bild zu verbannen.

Der Mensch lässt sich schnell irritieren, solange er nur die Stimme hört, je nachdem, ob sie ihm sympathisch oder unsympathisch erscheint, bastelt er sich daraus ein inneres Bild, von welchem er er glaubt, dass es auf diese Person zutreffen muss. Oft spielen Erfahrungen und Vergleiche mit anderen, bereits bekannten Personen, eine große Rolle.

Wo Du hier gerade das Radio anführst, iCandy, fällt mir doch direkt wieder eine wirklich nette Geschichte aus meiner Vergangenheit ein, als ich nämlich vor etwa zwölf Jahren nebenberuflich beim Radio arbeiten wollte, dort angefragt habe und bei einem großen Sender in Stuttgart auch direkt hätte anfangen können. Damals wurde ich eingeladen, mir das alles anzuschauen und wurde dann auch gleich auf meine Qualitäten als Telefontante und Staumeldungenweitergeber getestet und es war ein wirklich ausgesprochen lustiger und netter Nachmittag in diesem Sender, den ich auch privat wirklich gerne gehört habe. Irgendwann kamen dann auch, während ich dort saß, zwei junge Männer um die Ecke gebogen und haben sich über einen Beitrag unterhalten, der gesendet werden sollte, aber wohl noch nicht ganz fertig war.

Der eine der beiden Männer war ein ausgesprochen cooler Typ, jung und drahtig, sah aus wie ein Skater, und war wohl für den Schnitt zuständig. Der andere, klein und mit Halbglatze, eher unscheinbar, wäre mir vermutlich in der Innenstadt nie aufgefallen, aber als ich ihn sprechen hörte, hat es mich wirklich gerissen, denn die Stimme kannte ich! Und vor allem hat sie überhaupt kein bisschen zu diesem Mann gepasst, der sie trug. Es handelte sich bei diesem ebenfalls überaus sympathischen Kerl um einen der Moderatoren dieses Radiosenders und ich weiß heute noch, wie erstaunt und regelrecht geplättet ich war, als dieser Mensch so plötzlich vor mir stand, den ich mir offenbar anhand seiner Stimme komplett anders vorgestellt hatte, ohne überhaupt zu wissen, dass ich eine Vorstellung von ihm habe.

Insofern kann ich also tatsächlich bejahen, dass auch ich wohl dazu neige, mir Vorstellungen vom Aussehen verschiedener Personen zu machen, deren Stimme ich irgendwann einmal gehört habe. Mir fällt das allerdings meistens doch erst dann auf, wenn ich irgendwo im Fernsehen oder im Internet Bilder oder Shows sehe, bei denen diese Moderatoren gezeigt werden oder als Gast eingeladen sind, sodass ich sie eben auch zu sehen bekomme. Ich bin dann regelmäßig erstaunt und denke mir auch jedes Mal, dass ich mir diese Person ganz anders vorgestellt hätte – aber gleichzeitig stelle ich dann fest, dass ich gar nicht hätte sagen, können, wie ich sie mir denn vorgestellt habe. Eine Vorstellung hatte ich also wohl grundlegend doch, wenngleich auch vielleicht keine, die sich auf eine bestimmte Haarfarbe, einen Körperbau oder sonst irgendetwas bezieht, das man so direkt wahrnehmen kann. Das ist sehr schwierig zu erklären.

Ich denke, dass ich mir bisher noch niemanden, dessen Stimme ich kannte, wirklich so vorgestellt habe, wie er auch tatsächlich aussah. Und ich werde insofern ebenfalls nicht vergessen, dass es mal eine Talkshow gab, ich glaube, mit Hans Meiser damals, in der Menschen sich wünschen konnten, bestimmte Synchronsprecher verschiedener bekannter Schauspieler im Rahmen der Sendung zu treffen. Damals gab es auch eine Dame, die sich gewünscht hatte, den Sprecher der Synchronstimme von Tom Selleck als Magnum einmal kennenzulernen, und als dieser gut gealterte Mann den Saal betrat, war ich wirklich baff. Für mich sieht Tom Selleck als Magnum[url/] aus wie derjenige, dem diese Stimme wirklich gehört, nämlich [url=http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1a/Norbert_Langer_001.png]Norbert Langer.

Aufgrund meiner Blindheit habe ich eigentlich keine andere Möglichkeit, als mir Menschen anhand ihrer Stimme vorzustellen. Bei Familienangehörigen und Freunden mag das etwas Anderes sein, weil man durch gelegentlichen Körperkontakt ebenfalls auf gewisse äußere Merkmale schließen kann, aber fremden Personen oder Bekannten kann ich kaum meine tastenden Finger entgegenstrecken, ganz abgesehen davon, dass ich es selbst deplatziert finde und nicht möchte.

Allerdings entspricht meine Vorstellung einer Person wohl kaum dem Bild, das sich ein sehender Mensch anhand der Stimme machen könnte, weil in meiner Vorstellungskraft bestimmte Attribute einfach fehlen. Begriffe wie eine Haarfarbe, die Farbe des Kleidungsstils oder auch die Schilderung von genauen Gesichtszügen sind für mich nicht relevant, weil es für mich immer nur leere Begrifflichkeiten sind, mit denen ich keine Assoziationen verbinde. Somit dürfte mein anhand der Stimme gemachtes Bild nicht so allumfassend sein, wie üblich.

Es gibt einige „Regeln“, anhand derer man sich ein vergleichsweise gutes Bild machen kann. Menschen mit einer zarten, fast dünnen Stimme sind oftmals klein und zierlich, während Menschen mit einer tieferen Stimme und optional schwerem Atem oft größer und etwas korpulenter sind. Auch über Jung und Alt lässt sich schnell eine Aussage treffen. Die Betonung der einzelnen Worte und der verwendete Jargon geben nicht nur Auskunft über die Interessen eines Menschen, sondern oft auch über dessen Umfeld, Herkunft und Freundeskreis. Auch durch die Gesprächsthemen der einzelnen Personen kann man leicht auf das Aussehen schließen: zwei Mädchen, die sich über das nächste Outfit für eine Party unterhalten, werden anders zurechtgemacht sein, als zwei Mädchen, die sich gerade über Backrezepte austauschen. Menschen, die leise sprechen und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, werden anders gekleidet sein und unauffälliger auftreten, als diejenigen Zeitgenossen, die am liebsten die ganze Welt als ihre Bühne nutzen würden. Man kann also durch die Stimme allein und durch die damit gesprochenen Worte schon ein recht gutes Bild über einen Menschen erhalten, nicht nur das Aussehen, sondern oft auch den Charakter betreffend.

Natürlich habe ich mich damit auch schon fürchterlich geirrt, weil es immer Menschen gibt, die aus den von mir geschaffenen Rastern herausfallen. Beispielsweise passierte es mir, dass ich einen heute guten Freund damals fragte, auf welche Schule er denn gerade ginge, weil er so eine hohe Stimme hat, dass man ihn für einen Teenager von vielleicht 16 Jahren halten könnte; tatsächlich war er zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt. Ein anderes Mal wollte ich in der U-Bahn für eine Dame aufstehen, die ich für mindestens 70 Jahre alt hielt. Durch meine Geste ziemlich verwirrt, erklärte sie mir auf Nachfrage, dass sie erst vierzig sei und ihre Stimme sich vermutlich nur durch den hohen Zigarettenkonsum schon so alt anhöre. Diese Dinge passieren freilich nicht nur beim Alter, sondern oft auch bei der Charakterisierung eines Menschen; so stellt sich heraus, dass jemand, den man für fürchterlich oberflächlich hielt, in Wirklichkeit ein warmherziger und offener Mensch ist und umgekehrt. Ich würde mir aber inzwischen durchaus eine gewisse Menschenkenntnis zutrauen, die ich rein durch die Stimme erlange.

Mir passiert das oft am Telefon. Wenn ich eine Stimme am Telefon höre, habe ich unweigerlich eine genaue Vorstellung von dieser Person. Leider hat diese Vorstellung noch nie mit der Realität übereingestimmt. Ich musste eine Zeit lang ziemlich oft telefonieren und habe einige der Leute dann getroffen. Obwohl ich irgendwann genau wusste, dass meine Vorstellung nie stimmt, habe ich es mir nicht angewöhnen können, mir eine irgendwie neutrale Person vorzustellen.

Einen Extremfall habe ich einmal erlebt, als ich für eine Krabbelgruppe Mitglieder gesucht habe. Es meldete sich telefonisch ein junges Mädchen, welches gerne mitmachen wollte, sie klang zumindest sehr jung. Ich stellte sie mir klein, blond und ein wenig hilflos vor, zumindest war ich mit sicher, dass sie sehr jung war.

Als die Frau dann persönlich vorbei kam, konnte ich das Bild vom Telefon und die Realität nur schwer zusammenbringen, aber die Stimme war nun mal dieselbe. Es war eine ältere Frau (was sogar besser passte, da ich auch schon fast vierzig war), sie war groß, ein bisschen füllig und dunkelhaarig und Lehrerin, also genau das Gegenteil von meinem Bild. Ich erzählte es ihr später von dem Bild, das ich durch ihre Stimme von ihr hatte und sie musste sehr lachen. Es war bei ihr so, dass ihre piepsige Stimme aber wirklich nicht zu ihrem Äußeren passte.