Unfall-Erzählung entwickelt eigene Dynamik

Eine Bekannte erzählt euch, was ihrem Mann kürzlich passiert ist. Dieser war an einem Freitag auf der Autobahn unterwegs zur Arbeit. Es regnete sehr stark. Plötzlich sah er vor sich das Aufleuchten von Bremslichtern. Er bremste ebenfalls heftig und riss den Wagen nach rechts. Die rechte Autoseite schrammte an der Leitplanke entlang, bevor der Wagen zum Stehen kam. Der hinter ihm fahrende PKW donnerte voll in den ersten Wagen. Die nachfolgenden Autos konnten früh genug bremsen und hielten vor der Unfallstelle.

Was war geschehen? Der Fahrer des ersten Wagens war nicht vernehmungsfähig, als die Polizei und ein Krankenwagen eintrafen. Der Mann der Bekannten hatte nur einen leichten Schock, konnte aber auch zu dem Unfall nur sagen, dass er nicht wusste, was passiert war. Der dritte Wagen hatte den ersten zu Schrott gefahren und ebenso seinen eigenen. Auch er war nicht vernehmungsfähig. Die beiden Fahrer wurden in ein Krankenhaus gebracht. Beide hatten großes Glück gehabt und wurden kurze Zeit später wieder entlassen. Es stellte sich heraus, dass die Unfallursache ein Hase gewesen war.

Nach ein paar Wochen trifft die Bekannte beim Einkaufen eine ehemalige Hausbewohnerin, die sie in den Arm nimmt und ihr Bedauern ausdrückt. Es stellte sich heraus, dass diese gehört hatte, dass ihr Mann in einen Unfall mit zehn Autos verwickelt war, wovon die Hälfte nur noch Schrott war. Der eine Fahrer lag noch im Koma und einer hatte beide Beine gebrochen. Während ihr Mann ebenso noch an den Unfallfolgen litt. Auf der Autobahn soll ein Wildschwein gestanden haben. Der Irrtum wurde natürlich sofort richtig gestellt. Aber kann mir einer sagen, wie eine Geschichte innerhalb kurzer Zeit so aufgebauscht und verändert werden kann?

Dieser Effekt tritt oft beim wiederholten Erzählen von Erlebnissen auf. Am Anfang ist die Geschichte noch neu und für den Erzähler selbst auch noch interessant. Je öfter er sie erzählt, desto eher gewöhnt er sich an sie und findet sie nicht mehr so aufsehenerregend. Von sich schließt er dann auf Andere und schmückt die Geschichte ein bisschen auf, um sie wieder zu etwas Besonderem zu machen. Bekannt ist dieses Phänomen unter den Begriffen Anglerlatein und Seemannsgarn.

Vielleicht ist es ja wirklich so, wie schon von „anlupa“ beschrieben, dass man auch immer ein bisschen versucht, die Geschichte für unbeteiligte aufregender zu gestalten, als sie es eigentlich ist, weil man sich selbst in den Mittelpunkt schieben will und vielleicht auch die Aufmerksamkeit genießt. Aber wie man dann von einem Hasen auf ein Wildschwein kommt, wüsste ich sehr gerne mal. Wahrscheinlich wird es auch so gekommen sein, dass die Geschichte einmal richtig, ordentlich und sachlich erklärt wurde, worauf hin dann die Geschichte natürlich von Mund zu Mund weiter getragen wurde.

Dieses Phänomen hatten wir mal in der Schule besprochen und hierbei kamen wir sogar bis zum Streitpunkt, ob man so vielleicht die "Geschichten" aus der Bibel in Frage stellen könnte. Hier wurden die Geschichten ja auch erst nach langer Zeit verschriftlicht, während sie zuvor nur mündlich weiter getragen wurden. Wenn man hier Geschichten immer nur mündlich weiter trägt und jeder noch seinen eigenen Senf dazu dichtet und meint mal etwas gehört zu haben, ist es sicherlich kein Wunder, wenn aus einem Hasen schnell mal ein Wildschwein und wenn aus drei Autos schnell ein Massenunfall mit zehn Autos wird.

Bei solchen Geschichten ist das normal. Ich werde mal versuchen, dir das Ganze möglichst genau zu erklären. Nach einem Unfall gibt es Leute, die das zuerst gehört haben. Diese müssen die Neuigkeiten natürlich gleich unter die Leute bringen und die Geschichte erzählen. Wenn dann kleine Lücken in der Geschichte sind, dann werden die entweder selbst gefüllt mit eigenen Erfindungen oder auf die Nachfrage der Person, die zuhört. Diese merkt sich das dann natürlich auch nicht ganz und erzählt es einer andere Person. So entstehen immer größere Lücken in dieser einen Geschichte und die Ereignisse werden immer aufgebauschter. Man möchte ja auch, dass einem möglichst viele Leute zuhören und Aufmerksamkeit schenken, deswegen schmückt man die Geschichte dann natürlich noch mehr aus. Das, was dir passiert ist, ist ein gutes Beispiel dafür.

Ich denke, dass jeder von uns das schon mal gemacht hat und das deswegen auch kennt. Ich denke auch, dass es nicht schlimm ist, wenn man eine Geschichte wirklich mal harmlos (!) ein bisschen ausschmückt. Aber dein Erlebnis ist ein gutes Beispiel dafür, was dabei rauskommt, wenn man es übertreibt und wenn die anderen Leute die Geschichte, die eigentlich schon mehr einer Lüge gleicht, glauben und dann genau so oder noch mehr ausgeschmückt weitererzählen.

Das Einzige was man in so einer Situation machen kann, ist, die Situation klar zu stellen und das Erlebnis noch mal so zu schildern, wie es wirklich stattgefunden hat. So weiß dann wenigstens eine Person, was stimmt. Ich denke nicht, dass es was bringt, wenn man versucht herauszufinden, wer die ganzen Details dazu erfunden hat. So viele Leute werden diesen Tratsch schon anderen Leuten erzählt haben und die kann man alle gar nicht fragen. Sollte man es dennoch schaffen, kann es trotzdem sein, dass diese Person es dann leugnet und man hatte nachher nur viel zu viel Stress für nichts.

Ich kenne das eigentlich nur zu gut. Eine Geschichte wird mehreren Leuten weitererzählt und spannender verändert, als es tatsächlich war. Ich denke das hat viel damit zu tun, dass man ja keine langweilige Geschichte erzählen möchte und dann einfach ein bisschen etwas ausschmückt, sodass sich eine große Geschichte mit viel Spannung entwickelt. So sind ja auch die Sagen entstanden. Der Mensch macht das also nicht erst seid gestern, sondern schon sehr lange und das Verhalten hat sich verfestigt.

Natürlich kann man in so einer Situation nicht so viel machen, man hat nur die Möglichkeit es gerade zu stellen und die Geschichte in der Original Version zu erzählen. Das ist dann zwar nicht so spannend aber die Wahrheit und das sollte ja auch etwas zählen. Auf jeden Fall muss man aber die Wahrheit sagen und darf sich dann nicht noch betrauern lassen. Außerdem würde ich auch erfragen, wo diese Lügengeschichte herkommt und wer damit angefangen hat.

Es wird wohl so sein, dass jeder etwas zur Geschichte hinzugibt. Wenn es einem nicht gefällt, seinem Kumpel zu erzählen, dass ein Hase auf der Autobahn einen Unfall mit mehreren Autos verursacht hatte, dann muss eben etwas Größeres herhalten, wie zum Beispiel ein Wildschwein. Das hört sich spannender an, da kann man seine Stimme erheben, denn jeder weiß ja, wie gefährlich so ein Wildschwein sein kann. Es ist wirklich schlimm, damomo, sich solch einen bösen Eber auszusuchen, nur weil ein kleiner Hase zu läppisch wirkt beim Erzählen.

Mit Anglerlatein oder Seemannsgarn könnte ich ja noch etwas anfangen, anlupa, aber gleich solch eine Geschichte bei einem unangenehmen Unfall auftischen, das ist schon schwer verständlich. Du siehst das richtig, Hufeisen, wenn man die Menschen beim Erzählen fesseln will, muss die Geschichte spannender sein, damit ein Oh und ein Ach je kommt.

Ramones, man kann und muss nicht Detektiv spielen, um herauszufinden, wer die Geschichte so verändert hat, das wird man niemals herausfinden. Den Weg der Geschichte wird man nicht nachprüfen können, das wäre Unsinn. Es würde auch keiner zugeben, so erfinderisch gewesen zu sein. Trotz der negativen Geschehnisse ist solch eine Geschichte am Schluss noch zum Staunen und es ist gut, dass sie anders passiert ist. Trotz des Ärgers müssen die Beteiligten unter Umständen noch grinsen.