Sorgt mehr Aufklärung für weniger Ehrfurcht?

vom 12.08.2011, 12:47 Uhr

Weil ich heute morgen mittelmäßig spontan zum Zahnarzt gefahren bin und mir dort eine Füllung repariert wurde, kam mir auf dem Nachhauseweg ein Gedankengang in den Sinn, der mich wirklich beschäftigt hat. Ich habe mich nämlich urplötzlich gefragt, wie mein Zahnarzt wohl auf die Frage reagiert hätte, um was für eine Art von Material es sich bei dieser Füllung, die er als „Abdeckung“ bezeichnete, handelt. Ich gehe davon aus, dass mein Zahnarzt mir auf diese Frage recht ausführlich erklärt hätte, woraus sich das Material zusammensetzt und es mir auch vor der Anbringung am betroffenen Zahn gezeigt hätte, denn er ist für Fragen jeder Art rund um die Ausführung seiner Arbeit sehr zugänglich und es scheint mir manchmal sogar so als würde er sich regelrecht über ein gewisses Maß an Interesse freuen.

In diesem Zusammenhang fiel mir aber wieder ein, dass ich vor einigen Wochen im Radio gehört habe, dass es im letzten Jahr eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren gegen Ärzte wegen Behandlungsfehlern gegeben hat, von denen, wenn ich mich richtig erinnere, auch 80 % der Fälle für die jeweils klagenden Patienten erfolgreich ausgingen. Im Radio wurde außerdem noch erwähnt, dass dieser Anstieg an Klagen wohl darauf zurückzuführen sei, dass sich mittlerweile deutlich mehr Menschen mit Vergleichen der Leistung ihrer Ärzte auseinandersetzen, auch mit verwendeten Materialien und Arbeitstechniken, und dass man als Patient heutzutage ohnehin deutlich besser aufgeklärt sei als noch vor einigen Jahren.

Im Auto auf dem Nachhauseweg habe ich mich urplötzlich gefragt, wie das noch vor wenigen Jahrzehnten war, etwa, als meine Eltern so alt waren wie ich heute, also vor gut dreißig Jahren. Ich kenne meine Eltern zwar als mittlerweile zum Teil doch kritisch, aber vor allem immer noch als beinahe Obrigkeitshörig. Oft höre ich, wenn ich ihnen von meinen Arztgeschichten und irgendwelchen Kritikpunkten erzähle, die ich anzubringen habe, solche Aussagen wie: „Der Arzt wird das schon können, vertrau dem mal.“ Und ich meine, dass genau diese Einstellung und auch ein damit verbundenes Nichthinterfragen vor dreißig oder vierzig Jahren durchaus noch an der Tagesordnung war.

Während ich über all das nachdachte, wurde mir klar, dass gerade diese Berufsgruppen, die entsprechend viel Verantwortung für die Gesundheit, Leib und Leben tragen, doch früher diejenigen waren, die man nicht kritisiert hat, deren Methoden man nicht hinterfragt hat und denen man grundlegend auch vertraut hat. Ich würde sogar behaupten wollen, dass es immer noch ältere Herrschaften gibt, die einem Arzt geradezu mit Ehrfurcht begegnen. Und ich denke, dass genau diejenigen Menschen auch die sind, die einen Behandlungsfehler eher tolerieren und hinnehmen würden als die Generation, die einige Jahrzehnte später zur Welt kam, mittlerweile aufgeklärter ist und sich schlau macht, in Frage stellt, was ihr gesagt wird, hinterfragt, recherchiert, sich aufklären lässt, eine zweite Meinung einholt und all das.

Abschließend habe ich mir die Frage gestellt, ob diese Obrigkeitshörigkeit, Ehrfurcht und Demut von damals durch die heutigen Möglichkeiten der Informationsquellen und der generell deutlich zugenommenen Aufklärung tatsächlich völlig am Verschwinden sind? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch heute noch viele Menschen gibt, die einem Professor Dr. med. mit gesenktem Kopf gegenübertreten, so wie ich das noch von meinen Großeltern und sogar teilweise von meinem Vater kenne, der auch nicht hinterfragt, ob alles richtig gelaufen ist oder ob das Ergebnis der Arbeit dieses Arztes nicht eigentlich hätte besser sein müssen.

Was meint Ihr? Sorgt diese Aufklärung der heutigen Zeit und der allgemeine Drang dazu, mehr zu hinterfragen, sich besser zu informieren und auch der Trend dazu, eine zweite Meinung einzuholen, dafür, dass vor allem Ärzte heutzutage doch mehr als „normale Menschen“ angesehen werden und nicht mehr wirklich als die „Halbgötter in Weiß“? Oder denkt Ihr, dass wir heutzutage einfach schwerer zufrieden zu stellen sind und ohnehin einen gewissen Grundrespekt vor anderen Menschen verloren haben, sodass nicht klar zu ergründen ist, ob es sich um eine vernünftigere Sichtweise von uns allen handelt, mit der wir unseren „Dienstleistern“ gegenübertreten oder doch eher um um eine Form von Anspruchsdenken und -haltung, die uns dazu bringt, gewisse Leistungen einfach einzufordern?

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» moin! » Beiträge: 7218 » Talkpoints: 22,73 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



Ich finde schon, dass die Ehrfurcht heute durch die verbesserte Bildung und die weite Möglichkeit der Informationsquellen abgenommen hat, aber das lässt sich nicht nur in der Medizin beobachten, sondern auch bei der Religion, wie ich finde. Früher war es ja doch eben so, dass man dadurch, dass es kein Internet gab und sich nicht unbedingt jeder an Fachlektüre traute, die Menschen von den einzelnen Fachgebieten weniger wussten, es gab eben Spezialisten und denen vertraute man, weil man selbst von den Sachen keine Ahnung hatte, woher auch? Wenn der Arzt sagt, sie brauchen diese oder jene Behandlung, dann würde das früher keiner großartig Hinterfragen, weil man sich nicht informieren kann und die Möglichkeit einen weiteren Arzt zu Rate zu ziehen, gab es auch nicht immer. Letztendlich würde ich eigentlich fast sagen, dass den Menschen nicht viel mehr übrig blieb, als den Ärzten zu vertrauen und ihren Diagnosen zu glauben, es gab kaum Möglichkeiten es zu hinterfragen und sich zu informieren.

Heute schaut das natürlich ganz anders aus. Zum einen lässt sich ja doch sehr häufig beobachten, dass Menschen ihre Diagnose selbst erstellen, bevor sie zum Arzt gehen! Hat man beispielsweise bestimmte Symptome bei sich beobachtet, einen Ausschlag oder dergleichen, kann man das im Internet eingeben und durch genaue Berichte, Fotos und nicht zuletzt auch durch Schilderungen von selbst betroffenen herausfinden, was das eigene Leiden sein könnte. Nicht einer versucht dann auch schon mal selbst rezeptfreie Medikamente und dergleichen aus, bevor er sich an den Arzt wendet und wenn man erst mal in der Praxis ist, sagt dann auch keiner, Herr Doktor, schauen Sie mal hier, sondern platzt sofort mit seiner Eigendiagnose heraus. In gewisser Weise zeigt das schon sehr gut, dass Menschen sich heute selbst Gedanken machen und nicht einfach zum Arzt gehen und sich dort helfen lassen wollen.

In dieser Hinsicht könnte man also schon behaupten, dass die Leute ihre Ehrfurcht verloren haben, aber ich finde das im Grunde auch ganz in Ordnung, weil diese Ehrfurcht in dem Sinne nichts Gutes war. Jedem Arzt kann ein Fehler unterlaufen und es ist natürlich im eigenen ermessen, ob man ihn nun dafür verurteilt oder nicht, aber es wird früher wohl nicht so häufig passiert sein, dass man dem Arzt die Schuld gegeben hat, sondern eher so, dass man es dabei belassen hat und sich gesagt hat, man konnte nichts mehr tun und der Arzt hat sein bester gegeben. Einerseits mag das für die Menschen in dem Zusammenhang besser gewesen sein, weil sie niemandem die Schuld gegeben haben und heute denkt man in solchen Fällen ja doch darüber nach, wieso man nicht lieber woanders hingegangen ist und ob man einem geliebten Menschen in einem anderen Krankenhaus nicht doch besser geholfen hätte. Mit der Religion schaut das ganz ähnlich aus, weil Menschen durch die laufende Aufklärung auch die Ehrfurcht vor einem Gott verloren haben.

» Crispin » Beiträge: 14916 » Talkpoints: -0,43 » Auszeichnung für 14000 Beiträge


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