Wie viel Aussagekraft hat das BIP/Kopf?

vom 10.02.2012, 20:25 Uhr

Das Bruttoinlandsprodukt ist das Maß für die wirtschaftliche Leistung eines Staates. Es fasst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen zusammen, die in einem Land innerhalb eines Jahres hergestellt werden. Um nun die Kaufkraft zu bestimmen, wird meistens einfach das Bruttoinlandsprodukt durch die Anzahl der Einwohner dividiert. Beispielsweise hat Österreich ein BIP/Kopf von knapp 46.000 US-Dollar, Deutschland knapp 41.000 US$. Nun stellt sich mir allerdings die Frage, wie aussagekräftig dieser Wert ist? Kann man den Wohlstand der Bevölkerung tatsächlich mit diesem Wert messen?

Kürzlich bin ich auf einen Artikel bei Wikipedia gestoßen, der mich das Gegenteil vermuten lässt: Äquatorialguinea, ein Staat im westlichen Zentralafrika hat ein für Afrika astronomisch hohes Bruttoinlandsprodukt/Kopf von über 16.000 US$. Jedoch las ich, dass die Bevölkerung trotzdem genau so arm ist, wie in anderen armen Entwicklungsländern Afrikas. Die blühende Wirtschaft hat Äquatorialguinea seinem Reichtum an Bodenschätzen zu verdanken. Allerdings kommen die Einnahmen aus diesem Wirtschaftszweig zu einem großen Teil der wenigen Reichen zugute. Ein Großteil der Bevölkerung muss trotzdem in großer Armut und von weniger als 2$ pro Tag leben. Der Präsident soll ein Privatvermögen von über 3 Milliarden $ haben.

Auch in Luxemburg wird das BIP verfälscht. In den meisten Tabellen findet man den Zwergstaat an der Spitze aller Länder, mit einem BIP/Kopf von über 100.000 US$. Natürlich ist Luxemburg wohlhabend und die Bevölkerung genießt einen hohen Lebensstandard, allerdings hat in diesem Fall das BIP/Kopf wenig Aussagekraft. Denn über die Hälfte des erwirtschafteten Bruttoinlandproduktes stammt von Pendlern aus Deutschland, Frankreich und Belgien, was nicht zum Wohlstand der Luxemburger beiträgt.

Kann man das BIP/Kopf trotzdem grundsätzlich mit dem Einkommen der Bevölkerung gleichsetzen? Habt ihr noch andere Beispiele, die das Gegenteil aussagen?

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» mendacium. » Beiträge: 750 » Talkpoints: 17,61 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Solche statistischen Maße können sehr sehr leicht zu großen Verzerrungen führen. Den Gesamtwert durch die Anzahl der Bevölkerung zu teilen berücksichtigt nun mal nicht die eigentliche Verteilung innerhalb des jeweiligen Landes. Von Wichtigkeit ist also der qualitativ inhaltliche Aspekt der Zahl und nicht die Zahl an sich. Das zeigtest du bereits mit dem Beispiel von Afrika. Diese Kaufkraft pro Kopf müsste demnach eine potentielle Kaufkraft sein, also eine, die theoretisch möglich wäre.

Für mich stellt sich dieser Wert nicht als ein Wohlstandsindikator dar. Die USA bspw. hatte vor der Krise ein höheres Wachstum als die EU Staaten, und warum? Die vielen überschuldeten Haushalte haben konsumiert, ohne es bezahlen zu können. Oder wenn zum Beispiel ein Öltanker ein Leck hat, steigert er die dafür benötigten Reinigungskosten und damit die angebliche "Produktivität". Oder die angebliche Produktivität, die jedoch katastrophale Umweltbelastungen zur Folge hat. Aber Produktivität spiegelt in keiner Weise die Lebensverhältnisse wider. Ich bezweifel sowieso, dass man mithilfe einer Zahl komplexe Lebensumstände und die zahlreichen Faktoren mitberücksichtigen kann, sodass alles zusammen mithilfe eines Wertes ausgedrückt werden soll.

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» esprit*87 » Beiträge: 456 » Talkpoints: 1,38 » Auszeichnung für 100 Beiträge


Generell kann das BIP/Kopf ein Indikator für die wirtschaftliche Situation eines Landes sein. Tendenziell (!) ist es so, dass Länder die ein höheres BIP/Kopf aufweisen auch generell mehr Wohlstand verzeichnen können, als Länder mit einem niedrigen BIP/Kopf. Natürlich muss man diese Messgröße aber auch kritisch sehen, denn es wird hier nicht auf die Verteilung des Geldes eingegangen, sonder mehr auf die allgemeine wirtschaftliche Lage des Landes, die natürlich - wie in deinem Beispiel genannt - auch durch Bodenschätze gefördert werden können.

Generell lässt sich also sagen, dass das BIP pro Kopf ein Indikator sein kann, jedoch definitiv keine verlässliche Messgröße für den wirklichen Wohlstand der Bevölkerung, den in dieser Messgröße wird nicht die Verteilung des Einkommens berücksichtigt, sondern nur die Gesamteinnahmen des Landes dividiert durch die Einwohner dieses Landes.

» .deliverer » Beiträge: 8 » Talkpoints: 4,72 »



Du musst gar nicht die Frage nach dem BIP/Kopf stellen. Es reicht, wenn du das BIP als Indikator überhaupt kritisierst. Tatsache ist, dass der Erfolg von Politik und Wirtschaft auch heute noch am BIP gemessen wird. Das Ding hat ja auch Vorteile. Es ist leicht zu ermitteln und im Grunde ist es nur eine Addition von Zahlen. Das kann jeder verstehen.

Es ist aber so, dass schon der Begründer des Konzepts gemahnt hat, man müsse Qualität und Quantität des Wachstums unterscheiden. Kritik gibt es seit Jahren und da findest du alle Namen, die man als Volkswirt so kennt: Samuelson, Galbraith, Tobin oder Stiglitz sind bekannte Kritiker. Und es sind auch schon Alternativkonzepte zur Messung des Wohlstands erarbeitet worden.

Das Kernproblem ist, dass eine nackte Steigerung bzw. Änderung des BIP nichts darüber aussagt, was das für den Wohlstand, für die Umwelt, die Lebensqualität oder über die gerechte Verteilung aussagt. So eine Katastrophe wie Fukushima ist am Ende gut für das BIP, eine Sondermülldeponie wird i. d. R. hohe Umsätze erzeugen, steigende Kriminalität erfordert steigende Sicherheitsausgaben, alles toll für das BIP, aber eben für andere Faktoren, wie die Lebensqualität, wieder überhaupt nicht. Es fließen auch überhaupt keine langfristigen Kosten in das BIP mit ein. Denke nur an den Verbrauch von Rohstoffen oder an Gegenden der Welt, wo Trinkwasser unwiederbringlich verbraucht oder verseucht wird, nur um heute das BIP zu steigern. Und dann wären da die ganzen Leistungen, die nicht bewertet werden: Häusliche Pflege, Hausarbeit, Subsistenzwirtschaft. Bei der Erfassung des BIP wird auf Teufel komm raus gefuscht. Eben weil es keine verlässlichen Zahlen in weiten Teilen der Welt gibt. Und, und, und.

Heute versucht man sich an anderen Konzepten, die die Sache etwas fairer bewerten. Es gibt das Measure of Economic Welfare (MEW), den Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) oder den Genuine Process Indicator (GPI). Immer neue Faktoren werden in den Indices berücksichtigt, einiges davon habe ich oben schon angesprochen. Auch aus dem deutschen Raum kam hier was, ein NWI (Neuer Wohlfahrtsindex) wurde entwickelt, der insgesamt 21 Bereiche abdeckt.

Es gibt einige Länder, die nach neuen Indices rechnen. Darunter waren Kanada, Neuseeland, Australien, die Niederlande. Wenig erstaunlich für mich das Ergebnis. Bis 1980 verliefen BIP und die anderen Modelle parallel. Aber seit mit Reagan und Thatcher der Neoliberalismus in unseren Ländern Fuß fasste, steigt zwar das BIP, aber andere Indikatoren sanken plötzlich, bzw. stagnierten (ISEW, GPI).

Es gibt auch noch zig andere Ansätze von Weltbank, OECD, IWF usw. und man glaubt es kaum, heute versucht man auch Glück und Zufriedenheit zu erfassen.

Du siehst, da ist einiges im Fluss und so langsam kommt man auf den Trichter, dass die Art Wachstum, die wir in den letzten 100 Jahren betrieben haben, wohl nicht unendlich ist und wir andere Methoden brauchen, an denen wir Wohl und Wehe der Menschheit messen müssen und woran wir auch Politik und Wirtschaft ausrichten müssen. Auch die EU-Kommission arbeitet übrigens daran. Ich denke, das ist genug Futter für dich, um mal nachzuhaken.

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» Richtlinie2 » Beiträge: 1872 » Talkpoints: -0,63 » Auszeichnung für 1000 Beiträge



Erläuterung: Als Wohlstandindikator versteht man ein Maß an dem der Wohlstand eines Landes gemessen wird, in unserem Fall nun das BIP.

Das BIP gibt die wirtschaftliche Leistung einer Wirtschaft in einer bestimmten Periode wieder. Das Bruttoinlandsprodukt zeigt die in einer bestimmten Periode gefertigten Güter und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft. Dabei werden jedoch nur die gemessen die auch dem Endverbrauch dienen. Vergleicht man die BIP-Daten der vergangenen Jahre für Deutschland, wird die Stabilität in der wirtschaftlichen Entwicklung deutlich und der große Wohlstandzuwachs. Jedoch wird das Bruttoinlandsprodukt nicht nur als Maß der wirtschaftlichen Leistung einer Wirtschaft angesehen. Es dient auch als Wohlstandindikator, wobei diese Funktion umstritten ist, da Kritikern zur Folge , dem Bruttoinlandsprodukt wichtige andere Faktoren fehlen um den Wohlstand einer Nation zu messen.

Laut Kritikern lässt sich das Bruttoinlandsprodukt durch Vorfälle, wie zB. viele Unfälle in dem gemessenem Zeitraum manipulieren. Da bei einem Unfall ja eine Dienstleistung durch das Abschleppunternehmen geschieht und Güter erworben werden wie zB neue Autoteile oder sogar ein völlig neues Auto. Doch dies zeigt nicht den Wohlstand an. Jedoch ist dies falsch, da das Bruttoinlandsprodukt die in dem Jahr gefertigten Güter misst, also ändern einige Unfälle mehr nicht das BIP, da die Güter ja trotzdem hergestellt wurden, dabei ist es egal auf welche Weise sie verbrauchten werden. Aber es ist richtig das die Kosten die dadurch für ärztliche Behandlungen etc. entstehen, das BIP leicht erhöhen.

Im Bruttoinlandsprodukt werden Sachen wie die Schattenwirtschaft und die Eigenwirtschaft nicht berücksichtigt, daher werden fehlen einige Werte die das BIP möglicherweise verändern würden. Das BIP erfasst sozusagen nur die Wirtschaft die auch durch einen Markt geregelt wird, also fallen Sachen wie zum Beispiel ehrenamtliche Tätigkeiten, oder Tauschhandel weg. Doch den Indikator für letzteres zu ändern wäre zu kompliziert, da für ehrenamtliche Arbeit Marktpreise fehlen, dadurch entstehen erhebliche Bewertungsspielräume.
Es wird auch kritisiert das, dass Bruttoinlandsprodukt die Einkommensverteilung vernachlässigt. Jedoch ist es nahezu unmöglich diesen Faktor bei der Wohlstandbewertung einzubauen. Und es gibt auch Güter die einen Menschen glücklicher machen als einen anderen, doch die Berücksichtigung dieser Tatsache ist nicht realisierbar. Ein Beispiel hierfür wären Bioprodukte.

Aber es existieren auch andere Wohlstandindikatoren die mehre Faktoren miteinander kombinieren. Diese erscheinen für mich besser, da sie mehrere Aspekte kombinieren die den Wohlstand einer Nation beeinflussen und somit mehr Aussagekraft darüber haben. Dazu gehören unter anderem:  Index of Sustainable Economic Welfare und der Human Development Index

» OmFg! » Beiträge: 607 » Talkpoints: 1,30 » Auszeichnung für 500 Beiträge


Das ist ja das perfekte Thema, um meine Kenntnisse aus der Stochastik Vorlesung anzuwenden. Das BIP/Kopf ist ja so etwas wie ein arithmetisches Mittel. Sprich, es werden alle Gehälter aufsummiert und anschließend durch die Anzahl geteilt. Da wir bekanntlich auch einige Spitzenverdiener in Deutschland haben, ziehen diese natürlich den Wert hoch, wodurch dieser weniger repräsentativ wird.

Eine bessere Betrachtung wäre die des Medians. Der Median ist der Wert, der in der geordneten Liste alle Werte in der Mitte liegt. Sprich, wenn von 100 Leuten 75 Leute 1000€ verdienen und die restlichen 25 Leute 2000 verdienen, dann ist der Median eben 1000€. Das arithmetische Mittel ist dann aber 1250€. Der Median sagt aus, dass 50% aller Werte aus der Datenmenge unter diesem Wert liegen und 50% darüber. Dazu berechnet man dann noch die Quartile, die die 25% und die 75% Marke angeben.

Darüber hinaus sollte man noch die Streuung betrachten, die angibt wie weit die einzelnen Daten auseinander liegen. Das reine arithmetische Mittel gibt leider keinerlei Auskunft darüber wie viele Menschen wie viel weniger als eben diesen Wert verdienen.

» musicality » Beiträge: 809 » Talkpoints: 1,77 » Auszeichnung für 500 Beiträge


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