Jeder fünfte Deutsche antisemitisch

vom 27.01.2012, 10:33 Uhr

Vor kurzem wurde ein Bericht vorgestellt, der sich mit der Verbreitung des Antisemitismus in unserer Gesellschaft beschäftigt. Dabei wurde festgestellt, dass ein Fünftel der Bewohner dieses Landes zumindest latent antisemitisch ist. Besonders wurde auch herausgestellt, dass es nicht nur ein Problem der rechten Szene ist, sondern dass eine gewisse Judenfeindlichkeit auch in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Ich muss zugeben, dass mich dieses Ergebnis nicht nur schockiert, sondern auch sehr gewundert hat. Trotz der rabenschwarzen Vergangenheit Deutschlands hätte ich eigentlich gedacht, dass es nicht gerade diese Glaubensrichtung ist, mit der nach wie vor viele Vorurteile verknüpft werden. Es gibt ja immer wieder eine deutliche Stimmung gegen Muslime, latent sowie ganz offensiv. Judenfeindlichkeit, auch in etwas subtilerer Form, habe ich bisher kaum erlebt. Daher dachte ich wohl, dass es sich wirklich nur noch um ein Randgruppenphänomen des braunen Mobs handelt. Zum nachlesen ist hier ein Artikel aus der Zeit.

Wie erlebt ihr das? Habt ihr den Antisemitismus in Deutschland als so großes Problem wahrgenommen? Seid ihr vielleicht selbst jüdischen Glaubens und erlebt offensive oder auch versteckte Anfeindungen? Hättet ihr gedacht, dass immerhin 20 Prozent der Leute in diesem Land eine gewisse antijüdische Einstellung hat? Ich frage mich, wie diese Umfrage ausgehen würde, wenn man sich auf Muslime beziehen würde und wage zu behaupten, dass dabei noch höhere Prozentwerte erreicht werden, weil diese Islamfeindlichkeit insgesamt präsenter ist, meiner Meinung nach gerade in der Mitte der Gesellschaft.

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» Cologneboy2009 » Beiträge: 14210 » Talkpoints: -1,06 » Auszeichnung für 14000 Beiträge



Mich überrascht diese Umfrage in keinster Weise und ich glaube sogar, dass die Zahlen hier "geschönt" sind. Die latente antisemitische Grundhaltung ist tatsächlich schlicht da und das in einer Form, die aber von der "Mehrheit" als "nicht so schlimm" gesehen wird. Das sind dann einfach die Vorurteile die man sieht, wenn es sowohl um die Geschichte als auch um konkrete aktuelle Anlässe geht. Dabei reicht es mal in einer Gruppe von Leuten die folgenden Themen anzusprechen bzw. Thesen auszusprechen, um eben zu erfahren, dass es ein massives Problem gibt:

    - die Juden sind auch z.T. selber schuld, dass sie angefeindet werden
    - die Juden haben einfach zu viel Macht im Kulturbetrieb
    - man darf ja nichts gegen Juden sagen
    - man darf Israel ja nicht kritisieren
    - die Juden sind immer noch die mächtigste Gruppe in der Bank- und Finanzwelt
    - die Juden kontrollieren die USA
    - die Juden verhalten sie im Gaza genau so, wie es Hitler getan hat
    - die Juden profitieren und bereichern sich jetzt am Holocaust
    - Deutschland muss ja immer Rücksicht nehmen auf Israel
Eine solche Liste mit Vorurteilen ist praktisch beliebig fortzuführen und keiner wird aber hier einen "Beweis" erbringen, dass auch nur eine "These" stimmt. Vielmehr wandelt sich die Sache so, dass der "Deutsche" (also alle Deutschen ohne die mit jüdischen Glauben) jetzt in der Opferrolle steckt. Es wird einfach immer noch streng unterschieden zwischen "denen" und dem Rest. Allein die Gleichsetzung von Juden und Israel ist erschreckend. Beste prominente Beispiele sind z.B. die Auseinandersetzung zwischen Bubis und dem Walser. Hier stand Ignatz Bubis nämlich alleine da. Oder aber der Umgang mit einem Friedmann in Talkshows (egal, was man von Friedmann als CDU Politiker und Mensch halten mag). Oder auch die gezwungene Reaktionen auf Martin Hohmann aussagen. Das alles spricht eine deutliche Sprache, so dass 20% so realistisch sind, wie die Zahlen zur Arbeitslosigkeit.

» derpunkt » Beiträge: 9898 » Talkpoints: 88,55 » Auszeichnung für 9000 Beiträge


Also mich überrascht diese Zahl von sage und schreibe 20% ganz eindeutig! Bei anderen Minderheitengruppen hätte mich das nicht sonderlich überrascht, wie zum Beispiel bei den bereits angesprochenen Muslimen, denn auf diese ist die Gesellschaft ja teilweise ganz deutlich negativ zu sprechen, was oft entweder mit Terrorgruppen begründet wird oder damit, dass Personen mit Migrationshintergrund besonders aus muslimischen Ländern sich teilweise mehr oder weniger schlecht integrieren. Aber in der heutigen Zeit einen Hass auf Juden zu haben, dass kann ich mir gar nicht vorstellen. Das fanden genug Menschen schon zu Zeiten des dritten Reiches überholt, leider konnte sich diese Grundhaltung aber ja nicht durchsetzen.

Wenn ich mal die Themen, die derpunkt aufgelistet hat, betrachte, so verstehe ich auch irgendwie nicht, wie sich in einem Gespräch über so eine These eine negative Grundhaltung etablieren sollte. Ich denke nicht, dass, zumindest in meinem sozialen Umfeld, irgendjemand auch nur eine dieser Thesen als haltbar erklären würde, um Antisemitismus zu dulden oder zu verstehen oder zu etablieren oder was auch immer. Eher würde man doch sagen, dass das nichts zur Sache beiträgt. Wer nun im Kunstgewerbe die Oberhand hat, das ist doch nicht weiter erwähnenswert. Ob es nun Christen sind oder Juden oder Italiener oder Deutsche. Das sind für mich alles keine Gründe, auf die eine antisemitische Grundhaltung aufgebaut werden kann und erst recht nicht in einem so großem Anteil von 20% der deutschen Bevölkerung.

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» olisykes91 » Beiträge: 5370 » Talkpoints: 24,75 » Auszeichnung für 5000 Beiträge



Bei einem nicht zu unterschätzenden Teil der Leute dürfte es eine "Faulheit bei der Vorurteilfindung" sein. Bei einem Verwandtenbesuch in der tiefsten Provinz wurden wir von einem Junjormitglied der BV (Buckligen Verwandtschaft) lang und breit über "die Juden" (er drückte sich meistens erheblich unhöflicher aus) informiert und zunächst kam da nicht viel Gegenrede: Wir waren schlichtweg zu platt dazu. Nach vorsichtigen nachfragen kam raus: Junjor kannte nicht einen der bösen, bösen Juden persönlich, sondern nur aus vagen Berichten von Leuten die ihrerseits schonmal jemanden getroffen hatten, der sich ganz sicher war jemanden zu kennen, der einen kannte, der da mal was gelesen hatte.

Das es sich bei dem Judentum zunächst einmal um eine Religion handelte war Junjor neu. Er hatte es für eine "Rasse" gehalten. Das es innerhalb des Judentums durchaus stark unterschiedliche Strömungen gibt überforderte ihn sichtlich. Und bei der Frage, wer denn nun genau (Namen!) diese Finsterlinge seien, die alle Fäden in der Hand halten kam ein leicht wütendes: "Ja das ist doch geheim!" "Ach, aber die religiöse Ausrichtung der Verschwörer ist aber bekannt?" Natürlich, das weiß "man" doch. Sagen wir mal, den Rest des Nachmittags widmeten wir uns Kaffee, Kuchen und der Kunst der milden Verhonepielung der aufklaffenden Bildungslücken.

Aber so was macht dann dauerhaft hellhörig und siehe da: Es passiert wirklich recht häufig, das da auf grottenalte Vorurteile zurückgegriffen wird, welche keiner der Leute noch aus eigenen Erleben nachvollziehen kann. Darüber hinaus gibt es dann noch diejenigen, welche mit einer gewissen Penetranz den Staat Israel mit "dem" Judentum verwechseln und dann auch noch völlig ignorieren, das es innerhalb von Israel auch durchaus eine nicht zu unterschätzende Bewegung gibt, welche die Palästinenserpolitik grässlich findet und dagegen protestiert. (Und selbst wenn man das mal ganz außer acht lässt: Sie benehmen sich dennoch nicht so grauenvoll wie die Nazis)

Allerdings: Wenn man sich in Deutschland als judenfeindlich outet, sind die Chancen nicht schlecht stark zurechtgestutzt zu werden. Bei Muslim feindlichen Äußerungen ist das weniger obligatorisch.

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» Nephele » Beiträge: 1047 » Talkpoints: 2,22 » Auszeichnung für 1000 Beiträge



Für alle gesellschaftlichen, sozialen oder ethischen Gruppen, die anders sind als das „eigene Umfeld“ gilt ja, dass man diesen häufig etwas abgrenzend gegenüber steht. Man bevorzugt eben erst einmal die „eigene Gruppe“, die, die einem ähnlich sind – eine auch irgendwie evolutionär begründete Strategie. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.

D.h. gehe ich offen und freundlich auf andere Menschen zu, auch wenn sie vielleicht einer Religion angehören, die mir fremd (vielleicht auch „merkwürdig“) erscheint oder halte ich dann Abstand zu diesen Menschen oder verhalte mich sogar feindselig? Ist ein mulmiges Gefühl, was man spürt oder der Gedanke „die sind anders“ wirklich schlimm oder sollte nicht vielmehr jeder denken dürfen, was er möchte, so lange daraus keine feindseligen Worte oder Handlungen resultieren?

Oder anders ausgedrückt: ich finde es ehrlich gesagt weniger problematisch, wenn ein gewisser Anteil der Bevölkerung vielleicht bestimmte Einstellungen hat, die erst einmal „negativ“ klingen. Denn diese Einstellungen müssen ja nicht zwangsläufig dazu führen, dass sich diejenigen auch genauso verhalten wie sie denken. Negative Einstellungen können ja durch gegenteilige Erfahrungen auch abgebaut oder überwunden werden.

Aber weil die meisten eine Tendenz haben, Fremdem erst einmal etwas distanziert gegenüber zu stehen, gibt es eben gewisse „Vorurteile“ z.B. anderen Ethnien oder Religionen gegenüber. Mir ist zwar jetzt nicht so ganz klar, warum nun ausgerechnet Juden in ihrer Geschichte immer so viel Schreckliches erleben mussten? Allerdings bauen sich Angehörigen des jüdischen Glaubens gegenüber die Vorurteile vielleicht besonders schlecht ab. Denn z.B. Muslime sind ja meistens arabischer Herkunft, d.h. man erkennt sie häufig äußerlich. Auch Zugezogene aus anderen Ländern erkennt man am Äußeren oder am Akzent. Bei Juden ist das nicht der Fall – hier gibt es keine bestimmten Merkmale, anhand derer man erkennen könnte, ob jemand wohl jüdischen Glaubens ist.

Somit weiß man letztlich gar nicht, ob nicht vielleicht die nette Verkäuferin beim Bäcker, der neue Arbeitskollege oder wer auch immer, nicht Jude ist. Und wenn ich das nun nicht weiß, dann baut man eventuelle Vorurteile auch nicht durch positive Erfahrungen ab, dann bleibt diese Religion vielleicht immer etwas „Komisches“.

Zudem muss ich natürlich auch sagen, dass es Unverständnis und Ignoranz überall gibt, nicht nur bei denjenigen, die auf bestimmte ethische oder religiöse Gruppen schimpfen. Auf der anderen Seite kenne ich auch nicht wenige, die jedem, der Substantive nicht stets geschlechtergerecht mit /in oder /innen ausstattet, als Chauvinisten beschimpfen oder jeden für einen Nazi halten, der noch „Negerkuss“ sagt. Egal, welche Einstellung man hat, wenn die Fähigkeit zur Selbstreflektion fehlt, wird schnell Stammtischniveau daraus.

Vielleicht wittern wir letztlich auch manchmal dort Rassismus, wo gar keine ist. Ein Beispiel: Manchmal habe ich beruflich mit Leuten zu tun gehabt, die längere Zeit im Krankenhaus lagen, an Rehamaßnahmen teilgenommen hatten oder eine Kur hinter sich hatten. Nicht viele, aber einige dieser Patienten hatten sich bei mir beschwert, dass dort so viele ausländische Ärzte arbeiten oder so viel Pflegepersonal aus dem Ausland stammt. Ich wusste nicht, wie ich nun mit solchen Aussagen umgehen sollte – ich hatte nie den Eindruck, dass diejenigen, die mir das erzählten, nun Rassisten sind, aber als irgendwie politisch unkorrekt empfand ich diese Aussagen schon.

Ich habe dann nicht weiter darauf reagiert, sondern die Meinungen der Leute einfach so hingenommen. Vermutlich haben die, die so etwas sagten, nicht generell etwas gegen z.B. Ärzte mit ausländischer Herkunft, aber sie wollten eben lieber von Menschen behandelt werden, die ihre Sprache perfekt sprechen, die ihnen nicht so fremd erscheinen. Genauso, wie manche Frauen nur von Ärztinnen und manche Männer nur von männlichen Ärzten behandelt werden wollen oder Patienten lieber andere Patienten der gleichen Altergruppe um sich haben möchten etc. Man bevorzugt eben die, die einem ähnlich sind. Aber deswegen ist man kein Sexist oder Rassist oder was auch immer.

» Zitronengras » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »


Du hast allerdings ein kleines Detail unterschlagen. Nämlich dass, das es sich eben gerade nicht um ein typisch deutsches Problem handelt. Und das könnte man glauben, wenn man sich jetzt nur deinen Beitrag durchliest.

In Europa nimmt Deutschland einen Mittelplatz ein. Frag mal die Ungarn, die Polen oder die Portugiesen. Da sieht es erst düster aus. Hass auf alles "Fremde" hängt doch von ganz anderen Dingen ab, als von der eigenen Nationalität. Das herrschende politische System, die allgemeine und auch die persönliche wirtschaftliche Situation, die Zukunftsaussichten. All das halte ich für viel bestimmender für eine fremdenfeindliche Einstellung. Die Gruppe der "Opfer" kann da ganz schnell auch wechseln: Juden, der Islam, Arbeitslose, Rentner, Ausländer, Schwarze usw.

Man könnte den Deutschen höchstens vorwerfen, im Angesicht der Vergangenheit nicht sensibler mit der Sache umzugehen. Aber dazu weiß ich jetzt zu wenig darüber, wie sich die Einstellungen z. B. über Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen usw. verteilen.

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» Richtlinie2 » Beiträge: 1872 » Talkpoints: -0,63 » Auszeichnung für 1000 Beiträge


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