2083 - A European Declaration of Independance

Die Anschläge von Oslo liegen nun über einen Monat zurück und der Attentäter Anders Behring Breivik befindet sich in Untersuchungshaft. Sein "Manifest" ist noch immer kostenlos an vielen Orten im Internet verfügbar.

Rund neun Jahre arbeitete Breivik nach eigenen Angaben an der Vollendung seines Manifestes. Der Großteil der Schrift ist aus verschiedenen Büchern und Internetblogs zusammengesammelt, nur ein kleiner Teil des 1518 Seiten langen Dokuments tragen tatsächlich seine eigene Handschrift. Im einleitenden Teil des Werks bezeichnet Breivik es als Geschenk an die Menschheit. Es soll frei weiter verbreitet und in so viele Sprachen wie möglich übersetzt werden, welches die einzige Sache ist, um die er den Leser bittet.

Der Massenmörder sieht sich selbst als Verkünder einer Wahrheit, die von den Medien und der Regierung in Westeuropa um jeden Preis geheim gehalten wird. Die Angst vor einer Islamisierung Europas ist in seinen Augen alles andere als irrational. Es sei höchste Zeit, das Volk aufzuklären – nur wenige Jahrzehnte blieben, um eine ausreichende Verteidigung gegen die islamische Übernahme aufzubauen, die sich unserer Freiheit und vor allem der Freiheit unserer Kinder bemächtige.

Während Breivik über unzählige Kapitel die politische Korrektheit als das Grundübel der Islamisierung und als getarnten Marxismus darstellt, untermalt er die angeblich verfälschte Geschichte und marxistische Propaganda der Political Correctness mit Zitaten von dystopischen Autoren wie George Orwell („1984“) und Aldous Huxley („Brave New World“). Vor allem öffnete die politische Korrektheit dem Islam Tür und Tor – einer angeblichen Hassreligion, die durch den Djihad systematisch laut Breivik mehr als 300 Millionen Nichtmuslime weltweit tötete und mehr als 500 Millionen Menschen versklavte.

Mich interessiert nun, ob ich tatsächlich die einzige hier bei Talkteria bin, die sich mit dem Werk Breiviks auseinander gesetzt hat. Wenn es noch mehr gibt - was haltet ihr von dem Dokument? Und wenn ihr es nicht gelesen habt, würde mich interessieren, ob ihr keine Zeit/Lust dazu hattet oder ob ihr es generell ablehnt, Werke solcher Menschen zu lesen?

Ich werde es mir nicht antun, irgendein ideologisches Pamphlet mit 15 Hundert-Schieß-mich-tot Seiten zu lesen. Da verlasse ich mich auf die Journaille und Auszüge, die das alles als ziemlich absurdes Zeug dahinstellen. Und egal was er geschrieben oder plagiiert hat, wenn das seine Antwort war, ist das Zeug nicht wert, gelesen zu werden. Den ganzen Demographie Quatsch hatten wir ohnehin schon bei Sarrazin abgehandelt. Du hast auch keine Chance dieses ganze Zeug zu hinterfragen, weil du dafür einiges an Fachkenntnissen bräuchtest. Der spielt mit Ängsten und Vorurteilen und dreht sich Zahlen hin, wie er sie braucht.

Viel interessanter ist doch, woher diese Leute kommen und wie es dazu kommt, dass sie die Welt so sehen, wie sie sie sehen. Auf welchem gärenden Misthaufen entsteht dieses Zeug. Wer hängt sich in diese Themen mit rein? Was sagt das über einen Broder, dass er dort mehrfach zitiert wird? Warum kaufen so viele Leute dieses Buch von Sarrazin? Wo wird Leuten wie Sarrazin eine Bühne gegeben? Welche Medien sind dabei? Was tut sich in ganz Europa am rechten, konservativen Rand? Wer profitiert davon, dass es das Feindbild Islam gibt? Sich mit dem Geschreibsel inhaltlich zu beschäftigen, führt zu nichts und dürfte reine Zeitverschwendung sein.

Ich will keinesfalls die Taten von Anders Behring Breivik mit seinem Manifest gerechtfertigt wissen, auf keinen Fall! Allerdings finde ich es immer schwierig, sich auf Medienberichte zu verlassen - die Journalisten sagen, es ist Müll, also glaub ich das, ohne selber einen Blick hineingeworfen zu haben? Da möchte ich lieber wirklich nachlesen, was in dem Werk steht. Damit ich mir persönlich ein Bild davon machen kann.

Dazu kommt, dass ich Studentin der Religionswissenschaften bin und die Anschläge eindeutig religiösen Hintergrund hatten. Welche Motivation genau dahintersteckt, kann man (so dachte ich) allerdings erst richtig beurteilen, nachdem man das Pamphlet des Attentäters gelesen hat. Außerdem finde ich es sehr interessant zu sehen, wie es so weit kommen konnte.

Was in Norwegen geschehen ist, ist schrecklich. Der Mann hat grausames angerichtet - aber gerade deshalb finde ich es unverzichtbar, in seinem (mehr oder weniger kopierten) Werk zu sehen, wie es so weit kommen konnte. Welche Vorstellungen im Kopf eines Mannes vorherrschten, der solch ein Massaker anrichtete. Du schreibst ja selbst, dass es viel interessanter sei, zu schauen, wo diese Vorstellungen herkommen und genau das erklärt uns Breivik in seinem Manifest.

Mich persönlich hat es ziemlich mitgenommen, die Seiten zu lesen (ich habe natürlich auch nicht jede einzelne gelesen, sondern nur interessante/relevante Punkte und den Rest überflogen - bis jetzt zumindest). Besonders hart fand ich den Kontrast zwischen fanatischem Attentäter und Otto-Normal-Bürger.

Auf über 500 Seiten beschreibt Breivik ausführlich das Motiv und den Ablauf seiner folgenden Tat. Außerdem gibt er detaillierte Anleitungen zum Nachahmen – nach der Lektüre seines Manifests ist der geneigte Leser in der Lage, Sprengsätze aus Dünger herzustellen, Waffen zu bedienen und sich dank eingefügtem Landwirtschaftslexikon als professioneller Landwirt auszugeben, um an den benötigten Dünger zu kommen. Selbst Anweisungen, um speziell Frauen zu töten, gibt Breivik dem Leser. Und auch die passenden Bestellhotlines und Internetadressen für Kampfanzüge, Dünger, Waffen und GPS Empfänger listet er auf.

Die Pläne sind detailliert und ausgeklügelt. Die Anleitungen lassen sich Schritt für Schritt nachvollziehen und sicher auch genauso nachahmen. Es ist erschreckend, aber irgendwie findet man beim Lesen doch den gewissen Abstand. Bis man über Einträge stolpert, in denen er schreibt, dass er sich jetzt eine Portion Gebratene Nudeln von seinem Lieblingschinesen holen wird und danach den Eurovision Song Contest schaut. Inklusive Smiley und Herzchen.

Ich weiß nicht genau, wieso, aber nachdem ich diesen Eintrag las, konnte ich nicht mehr und habe das Dokument tagelang nicht mehr angerührt.

Die FR hat es ganz gut beschrieben. Er sei so ein Weltanschauungskrieger mit einem totalitären und eindimensionalem Weltbild. Und wie das bei denen so ist, erhebt man sich da zur Spitze der Schöpfung, sei es auf Ebene der Rasse, des Volkes oder einer Religion. Da hat er sich wohl als eine Art Edelmensch betrachtet, der allen anderen überlegen sei. Und da man Feindbilder braucht und die Saat ja in den letzten Jahren gut aufgegangen war (siehe mal Youtube Hagen Rether, Islam), war das Feindbild des Islam bzw. Multikulti natürlich nicht weit. Den Feind betrachtet man als hinterhältig und sich selbst sieht man in einer Notwehrsituation. Das Edle im Endkampf gegen das Minderwertige. Und wer so etwas nur fest genug glaubt, der frisst auch kleine Kinder.

Andere machen es sich etwas leichter und bezeichnen ihn schlichtweg als verrückt. Das geht in die ähnliche Richtung wie die Begründung für die riots in England. Kriminelle Banden ohne Moral. Diese eindimensionalen Begründungen kommen dann mit Vorliebe genau aus Richtung der Kreise, aus denen Breivik sein Denkfutter bezog.

Da mache ich es mir vielleicht tatsächlich leicht, aber mich überrascht das alles nicht. Das Feindbild Islam wurde doch in den letzten Jahren dermaßen gehegt und gepflegt, die Hysterie immer schön am Köcheln gehalten. Dass die Mischung aus Religion und Politik explosiv ist, sieht man doch am Verhalten der Tea Party in der USA. Für mich nur eine Frage der Zeit, bis da welche ausflippen. Verblendete Seelen gibt es nicht nur im Islam, die gibt es auch unter Christen, oder solchen die sich dafür halten. Bis in hohe politische und gesellschaftliche Kreise darf man öffentlich hetzen (siehe Sarrazin), eine SPD bringt es nicht mal mehr fertig ein Mitglied deswegen rauszuwerfen. In verschiedenen Ländern haben wir starke Entwicklungen am rechtskonservativen Rand. Die Folgen überraschen mich nicht. Deswegen mag ich den Unsinn auch nicht im Detail lesen.

Dass er Anleitungen zum Bombenbau, zum Töten und zur Verschleierung veröffentlicht, wundert mich auch nicht. Wer so etwas im Netz sucht, der findet es auch. Diese Anleitungen findest du z. B. im militärischen Ausbildungsbereich und von "der Firma" und im Bereich der sog. martial arts. Da gibt es Trainingshandbücher, Überlebenshandbücher, Tötungsanleitungen, Waffenbasteleien und Folterhandbücher. Gerade dieser Folteranweisungen der CIA&Co. sind doch schon lange bekannt. Es wundert mich, dass Jugendliche ihre Altersgenossen noch nicht mit Waterboarding quälen und der Kunst des Folterns ohne Spuren nachgehen. Was soll man aber denken, wenn sozusagen öffentliche Einrichtungen i. w. S. so etwas durchführen? Was löst das in den Köpfen aus?