Gesundheitsversorgung ohne Grenzen

vom 26.06.2011, 10:07 Uhr

Was für Deutschland schon seit 2004 möglich ist, gilt nun für ganz Europa. Eine EU-Richtlinie sorgt dafür, dass alle Bürger auf Kassenkosten Behandlungen in anderen Staaten der EU in Anspruch nehmen können. Die neue Richtlinie muss nun umgesetzt werden in nationales Recht. So kann jetzt ein Europäer ohne Problem eine Operation in einem anderen EU-Land durchführen lassen. Das kann eine Wartezeit im eigenen Land erheblich verkürzen. Die Reisekosten muss der Patient selbst bezahlen. Ob bei einer seltenen Krankheit die Krankenkasse die Kosten für eine Begleitperson und die Reisekosten übernimmt, bleibt eine Regelung der einzelnen Länder. Es werden Kontaktstellen eingerichtet, die nötige Informationen erteilen. Für den Eingriff werden nur die Kosten ersetzt, welche die Kasse im eigenen Land bezahlen würde. Spätestens ab Oktober 2013 muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden.

Es kann sein, dass der Wettbewerb um Patienten so angekurbelt wird. Diese Gesundheitsdienstleistungen dienen dem allgemeinen Interesse so wie der Vorsorge und werden deshalb auf nationaler Ebene festgelegt. Die Bundesregierung kann entscheiden, ob der Patient in Vorkasse im Ausland gehen muss, oder ob die Kasse direkt die Rechnung bezahlt. Bei ambulanten Behandlungen ist eine Genehmigung der Krankenkasse nicht notwendig, aber bei einem Klinikaufenthalt. Eine Ablehnung müsste sehr gut begründet werden. Es wird also zukünftig einen Wettbewerb um Patienten geben. Eine längere Wartezeit für die eigenen Bürgerinnen und Bürger ist nicht zu befürchten, weil eine Bevorzugung der Patienten aus anderen EU-Staaten nicht gestattet ist laut Richtlinie.

Es geht keineswegs um einen Wettbewerb, sondern es geht um optimale Versorgung von Kranken. Was haltet ihr von dieser EU-Regelung? Würdet ihr sie gegebenenfalls in Anspruch nehmen und euch in einem anderen EU-Land behandeln lassen, auch wenn ihr dafür einige Zusatzkosten hättet? Die Behandlungskosten sind am höchsten in Italien und am niedrigsten in Ungarn. Die entstehenden Kosten sind in etwa gleich in Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Deutschland. In Dänemark ist es etwas teurer und Polen liegt an der unteren Grenze. Wenn überhaupt, in welchem Land würdet ihr eine Behandlung in Erwägung ziehen, auch mit dem Hinblick auf Sprachschwierigkeiten?

» Cid » Beiträge: 20027 » Talkpoints: -1,03 » Auszeichnung für 20000 Beiträge



Cid hat geschrieben:Es geht keineswegs um einen Wettbewerb, sondern es geht um optimale Versorgung von Kranken.

Nachdem aber unterstellt wird, dass der Markt immer für eine "optimale" Versorgung sorgt, ist es doch wieder ein Wettbewerb, welcher eben auch über den Preis ausgefochten wird. Und nun wird dies auch so geschehen, dass hier so weit bei der Qualität gespart wird (um konkurrenzfähige Preise anbieten zu können), bis ein scheinbar "erträgliches" Maß gefunden wurde. In der Lebensmittelbranche führt das unter anderem zu den "Lebensmittelskandalen". Wohin ein sparen bei der Gesundheitsversorgung führen kann, lässt sich nur erahnen. Aber es bleibt zu befürchten, dass die Floskel des "sozialverträgliche Frühablebens" wieder belebt wird. Es entscheiden einfach immer die wirtschaftlichen Möglichkeiten - irgendwann muss man entscheiden, ob es sich "lohnt", z.B. einen armen Rentner noch am Leben zu halten oder nicht. Wirtschaftlich optimale Entscheidungen können durchaus auch menschenverachtend sein. Jedenfalls dann, wenn alles als Kostenfaktor bzw. zahlender Kunde verstanden wird.

Du selbst hast ja mehrfach geschrieben, dass es dann um einen Wettbewerb um Patienten gehen soll. Danach schreibst du, dass es aber allgemein nicht um einen Wettbewerb geht. Keiner wird doch glauben, dass ein Krankenhaus dann als erfolgreich gesehen wird, wenn die Patientenzahlen hoch sind. Es geht ausschließlich um die Gewinn- und Verlustrechnung - nach marktwirtschaftlichen Kriterien. "Operation gelungen - Patient tot" wird dann noch nicht einmal ausschließlich lustig gesehen.

Leider stellt sich hier niemand die Frage, wieso es so weit kommen muss, dass Menschen überhaupt in die Verlegenheit kommen müssen, sich bei Fragen der Gesundheit (oftmals geht es wirklich um das eigene, echte (Über)Leben) die Kostenfrage stellen zu müssen. Hier wird so getan, als sei es ein Segen, dass es gleich ist, ob man eine Nierentransplantation plant (es geht um den Menschen) oder sich nach einem Neuwagen umschaut (es geht um eine Ware bzw. um Konsum). Der Mensch wird zum Objekt, Gesundheit zur Ware und nur wer es sich leisten kann, wird entsprechend "einkaufen".

Trotz der "Freizügigkeit" innerhalb der EU was eben die Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen angeht, glaube ich, dass viele Punkte nicht geklärt wurden (geklärt werden können), welche aber massiv von Bedeutung sein sollten. So z.B. über die Frage, wer für Folgekosten einer falschen Behandlung aufkommt. Schließlich geht es gar nicht allein darum, ob Ärzte im Ausland besser oder schlechter qualifiziert sind, sondern darum, dass die reale Gefahr besteht, durch Missverständnisse falsch beraten/behandelt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit das es zu solchen Missverständnissen kommt, wird durch die sprachliche Differenz ja nicht gerade geringer. Hinzu kommen Punke, die u.U. im Ausland (oder der Bundesrepublik) selbstverständlich sind, sonst aber der expliziten Klärung bedürfen. Wenn aus dem Interesse an der wahren Gesundheit die Ware Gesundheit wird, ist dies ein Prozess, der letztlich nicht zu begrüßen ist! Es wird wohl viel Zeit und einige Menschenleben kosten, bis hier mal wieder ein radikales Umdenken einsetzt.

» derpunkt » Beiträge: 9898 » Talkpoints: 88,55 » Auszeichnung für 9000 Beiträge


@derpunkt, grundsätzlich ist diese neue Richtlinie nicht als Wettbewerb gedacht. Aber in der Realität sieht das ja alles anders aus. Ich schrieb, dass es sein kann, dass der Wettbewerb angekurbelt werden könnte. Europaweit hat zum Beispiel Deutschland die kürzesten Wartezeiten für Operationen. Wenn nun ein Engländer unbedingt eine Hüftoperation benötigt, muss er in seinem eigenen Land mindestens ein Jahr auf einen Termin warten. In Deutschland wäre eine Operation in absehbarer Zeit möglich. Wie es in den anderen EU-Ländern aussieht, weiß ich nicht. Da sehe ich schon einen gewissen Wettbewerb. Fraglich ist allerdings, ob die Patienten, die dringend eine Operation brauchen, die im eigenen Land nicht zeitnah durchgeführt werden kann, auch das nötige Geld haben, um sich anderweitig helfen zu lassen.

Dein menschenverachtendes Beispiel vom armen Rentner wird wohl irgendwann bittere Realität werden. Auch dieser Rentner hat sein leben lang brav seine Beiträge bezahlt und zahlt immer noch für die Krankenversicherung und Pflege. Nun bekommt er Rente, für die er lange hohe Beträge eingezahlt hat und die ihm zusteht. Da hat schon vor einigen Jahren Philipp Mißfelder, 2003 Vorsitzender der Jungen Union, gesagt, dass sich Hüftoperationen für Ältere nicht mehr lohnen. Die Menschen wären früher auch an Krücken gegangen. Ich frage mich nur, ob er die Krücken später für sich auch mal in Anspruch nehmen wird. Dieser Mensch sitzt als Abgeordneter leider immer noch im Bundestag für die CDU.

Gedacht war diese Gesundheitsversorgung vor allem auch für die Fälle, wo bei seltenen Krankheiten ein Experte benötigt wird und dieser nicht im eigenen Land zu finden ist. Oder aber der Patient im fremden Land eine bessere Überlebenschance hätte. Das Bundesministerium für Gesundheit geht davon aus, dass mehr Patienten aus Nachbarländern künftig nach Deutschland kommen. Es werden vor allem Menschen sein, die im eigenen Land mit ihrem Gesundheitswesen unzufrieden sind. Man hofft, dass das dann auch die skeptische Meinung der Deutschen gegenüber ihrem System ändert. Zu den Ausführungen deines letzten Absatzes kann ich nur sagen, dass du vollkommen Recht hast.

» Cid » Beiträge: 20027 » Talkpoints: -1,03 » Auszeichnung für 20000 Beiträge



Cid hat geschrieben:Da hat schon vor einigen Jahren Philipp Mißfelder, 2003 Vorsitzender der Jungen Union, gesagt

Auch mir hängt dieser Ausspruch noch immer im Kopf. Aber das Schlimme ist ja hier von Mißfelder nicht gewesen, "Alten" solche Operationen vorenthalten zu wollen (also zu bestimmen, ab wann es sich nicht mehr "lohnt", einem Menschen ein beschwerdefreies Leben zu gestatten). Viel schlimmer wiegt die Tatsache, dass er hier auf die soziale Selektion eingegangen ist. Natürlich würde er auch älteren Menschen (so z.B. bestimmt auch sich selbst im Alter) eine Hüftoperation gönnen. Es geht aber darum, dass diese Operation nur Menschen zuteil werden sollte, die sich das auch selbst leisten können! Das hat damals schon verdeutlicht, dass Gesundheit zur Ware wird und ein langes und gesundes Leben eben - offensiv und ohne Scheu oder Skrupel auch von "Christen" propagiert - ein Privileg werden soll, welches man sich leisten können muss. Arme sollen eben früher sterben. Es mag ja auch sein, dass das heute (und damals) schon so war. Aber bislang hat der Anstand es nicht erlaubt, dies sogar offen zu fordern.

» derpunkt » Beiträge: 9898 » Talkpoints: 88,55 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



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