Revolution als Abenteuerurlaub
Seit spätestens Mitte Dezember wird das nördliche Afrika von zunehmenden Unruhen geschüttelt. Wenn man auch die Probleme in Algerien und dem Jemen vielleicht noch nicht so mitbekommen hat, so dürfte spätestens seit Tunesien klar sein, dass dort unten gerade enorme Veränderungen stattfinden, die von Gewalt, Chaos und teilweise anarchischen Zuständen begleitet sind.
Seit einigen Tagen herrscht nun auch in vielen Ballungsräumen Ägyptens der Ausnahmezustand und es hat schon viele Tote und Verletzte gegeben. Die Herrschaftslage scheint vollkommen ungeklärt, alle möglichen Entwicklungen sind denkbar. Im Prinzip kann keiner sagen, wie die Lage in 24 Stunden aussieht. In dieser Situation senden die Medien nun immer wieder Berichte über die Situation der Touristen im Land, die vor den Kameras die Lage erheblich herunterspielen. Es scheint geradezu so, als wäre das für viele eine Art Disneyland, in dem man sich mal anschaut, wie sich Menschen gegenseitig bekämpfen und in dem man noch in aller Ruhe seinen Urlaub verbringt (in den USA gibt es übrigens tatsächlich so einen Park). Angeblich gibt es so gut wie keine Stornierungen, die deutschen Urlauber scheren sich offensichtlich einen Dreck um die Situation im Land.
Mir ist natürlich klar, dass die Kämpfe und das Chaos (noch) in relativ eng begrenzten Räumen bzw. den Großstädten stattfinden, wenn man sich aber die gesamte Situation im nördlichen Afrika anschaut und auch die spezielle Entwicklung in Ägypten, die sich von einem Tag auf den anderen völlig geändert hatte, dann ist nicht auszuschließen, dass auch Touristen plötzlich zum Ziel bestimmter Gruppen werden, bzw. als Kollateralschaden auf der Strecke bleiben. Inzwischen sind erhebliche Mengen an Waffen und Munition in unkontrollierbare Hände gefallen, aus Gefängnissen sind eine erhebliche Anzahl von Gefangen geflohen - man muss immer einschränkend sagen, dass Informationen in dieser Lage immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind.
Nun frage ich mich, wie man als erwachsener Mensch in der derzeitigen Lage daran denken kann, dort Urlaub zu machen? Wie kann man jetzt noch dorthinfliegen? Wie wenig Weitsicht muss man haben, annehmen zu können, dass die explosive Lage nicht morgen außer Kontrolle gerät? Auch wenn Kairo oder Alexandria vielleicht momentan weit weg scheinen, in diesem Land ist schon zuviel passiert. Zumal andere Nationen bereits anfangen, ihre Leute aus dem Land herauszuholen. Ein falsches Wort aus dem Westen oder Machtübernahmeversuche aus islamistischen Kreisen und schon wird es brandgefährlich. Meiner Meinung nach hätte man sich spätestens am letzten Donnerstag auf den Weg machen müssen und eine Reise ins Land verbietet sich zur Zeit völlig - auch wenn das der Wirtschaft und den Menschen vielleicht momentan großen Schaden zufügt. Wenn erstmal die Handynetzte tot sind und das Internet abgeschaltet ist, wird man merken, wie hilflos man ist. Haben die alle einen Plan B in der Tasche? Ist das deutsche Überheblichkeit? Liegt das daran, dass wir uns die Welt i. d. R. vom Sofa aus anschauen und mit solchen Problemen eigentlich nie direkt in Berührung kommen? Hier geht es doch nicht mehr nur um eng begrenzte regionale Konflikte. Zumal ich es auch moralisch schwer verdaulich finde, in einem Land Urlaub zu machen, in dem gleichzeitig Tausende von Menschen gerade ihr Leben aufs Spiel sezten und auch in großer Zahl getötet werden, um das verhasste Regime loszuwerden.
Also ein moralisches Problem sehe ich hier nicht wirklich. Ägypten ist nunmal ein Land, das auch sehr stark auf Tourismus baut. Ein Abflauen des Tourismus führt zu einer weiteren starken wirtschaftlichen Negativentwicklung die im Rahmen der Aufstände ohnehin schon eintritt. Man sichert als Tourist also Arbeitsplätze und Wohlstand in einem relativ armen Land, gerade jetzt, wo die Menschen es am Nötigsten haben. Ob man als Schaulustiger moralisch auf der richtigen Seite ist, ist natürlich kontrovers diskutierbar.
Wichtiger ist für mich die sicherheitspolitische Lage des Landes. Wer durch einen dummen Zufall in eines der Gefechte kommt, der hat wohl Pech gehabt, auch wenn ich nicht glaube, dass für deutsche Touristen ein ernsthafter Grund zur Sorge um Leib und Leben besteht. Die meisten der Toten sind ja bei Angriffen auf Regierungsgebäude (wie jüngst die drei Toten beim Erstürmen des Innenministeriums) getötet wurden. Abgesehen davon beschränken sich die Demonstrationen ja noch auf Ballungsräume und meiner Meinung nach ist es glasklar, dass der Präsident seiner Regierung bald folgen werden und zurücktreten muss. Mit dem vollständigem Rücktritt der Regierung wäre dann ja auch eine Rückkehr zur Normalität denkbar.
Alles in Allem: Wer unbedingt mal die revolutionäre Stimmung erleben möchte, der wird dies mit Sicherheit nirgendwo sicherer tun können als jetzt in Ägypten, eben weil es eben doch ein relativ fortschrittliches Land ist und Kollateralschäden ernst genommen werden (im Gegensatz zum Beispiel zu Nordkorea, wo eine Zunahme des Tourismus beobachtet werden kann).
Allerdings meine ich gehört zu haben, dass sämtliche Flüge von Deutschland nach Ägypten engestellt wurden. Von daher denke ich, dass der Abenteuertourismus durch diese Maßnahme ein sehr begrenztes Phänomen ist.
Wenn man vor der Frage steht, einem fremden Land aktive Konjunkturhilfe zu leisten oder eventuell sich und seine Angehörigen sehenden Auges in eine eben unabsehbare Situation zu manövrieren, dann ordne ich das irgendwo zwischen "unvernünftig" und "dumm" ein. Natürlich mag die Situation derzeit weit weg von den Großstädten, in einer Hotelanlage, ruhig erscheinen, aber wer jetzt noch dorthin fliegt, der darf sich im Fall des Falles wohl nicht beschweren.TuDios hat geschrieben:[...]Ein Abflauen des Tourismus führt zu einer weiteren starken wirtschaftlichen Negativentwicklung die im Rahmen der Aufstände ohnehin schon eintritt. Man sichert als Tourist also Arbeitsplätze und Wohlstand in einem relativ armen Land, gerade jetzt, wo die Menschen es am Nötigsten haben.
Ich fliege also in ein Land, in dem die Schlagzeile heute lautet: "Zahlreiche Staaten haben begonnen, ihre Bürger aus dem Land auszufliegen."? Auch beim Auswärtigen Amt wurde die nächste Eskalationsstufe ausgerufen. Inzwischen rät das Auswärtige Amt von Reisen ab.
So etwas kann man für ein Land wie Südafrika oder Brasilien sagen, aber wohl kaum mit dem derzeitigen Zustand in Ägypten vergleichen. Ein Urlaub dauert in der Regel 7-14 Tage - dafür kann man doch jetzt keinerlei Garantie mehr übernehmen. Durch den Rücktritt der Regierung kann vielmehr auch ein Machtvakuum entstehen, in dem sich das Chaos noch mehr ausbreitet. Man sollte in solchen Situationen immer agieren können und nicht nur reagieren.TuDios hat geschrieben:[...]Wichtiger ist für mich die sicherheitspolitische Lage des Landes. Wer durch einen dummen Zufall in eines der Gefechte kommt, der hat wohl Pech gehabt, auch wenn ich nicht glaube, dass für deutsche Touristen ein ernsthafter Grund zur Sorge um Leib und Leben besteht.
Mitnichten - morgen kann es losgehen. Direkt nach Kairo - 649 €.TuDios hat geschrieben:[...]Allerdings meine ich gehört zu haben, dass sämtliche Flüge von Deutschland nach Ägypten engestellt wurden.
Gestern hat mein Mann noch bei der Werbung im Fernsehen für den Agyptenurlaub gemeint, dass es verrückt sei, dass man überhaupt noch dafür Werbung macht. Das wäre "Abenteuerurlaub mit Überlebenstraining und garantierte Bombenstimmung". Ich kann auch nicht verstehen, wie ein nahezu normaler Mensch dort Urlaub machen kann und ich denke, dass man als Reisebüro auch davon abraten muss.
Da aber viele Reisen im Internet gebucht werden und auch viele Menschen einfach gar nicht interessiert, was in der Welt vor sich geht, wird es immer Leute geben, die einfach nicht darüber nachdenken und erst vor Ort von diesen Unruhen erfahren. Ich kann nicht begreifen, dass man dorthinreisen kann. Ich würde so einen Urlaub nicht machen und selbst, wenn ich Geld verlieren würde, weil der Urlaub gebucht ist, würde ich ihn stornieren.
So und jetzt haben wir eine offizielle Reisewarnung für ganz Ägypten und die Reiseveranstalter haben bis Mitte Februar alle Reisen abgesagt. Es kommt (natürlich), wie abzusehen war. Sollten die Fluggesellschaften jetzt anfangen, die Urlauber heimzuholen, dann dürfte das ein ordentliches Chaos an den Flughäfen geben (und das herrscht schon längst), inkl. Versorgungsengpässen. Man kann nur froh sein, wenn nichts passiert, mein Mitgefühl hält sich aber in Grenzen für die, die da in den letzten Tagen noch hingeflogen sind. Stell dir noch vor, du hast noch deine Kinder bei dir.
Mit Grund für die Reisewarnung dürfte sein, dass jetzt auch in Jordanien der Topf langsam heißer wird und damit eine immer unkontrollierbarere Situation in der Region entstehen kann. Kann alles gutgehen, muss aber nicht.
Oh Gott, ich sehe schon den betroffenen Westerwelle vor mir, der den Staatsmann gibt. Wir werden nicht davon verschont bleiben.
Und es geht weiter. Jetzt haben wir bürgerkriegsähnliche Zustände - mindestens mal in Kairo. Wenn sich die Anhänger Mubaraks weiter so gerieren und sich da eventuell eine Art Front auftun sollte, wüsste ich nicht, wie die das wieder in den Griff bekommen wollen. Wer will solche Leute später als Nachbarn haben? Was in anderen Städten los ist? Keine Ahnung.
Dazu das Verhalten der Armee, die sich unglaublich zurückhaltend verhält. Auch hier steht der Verdacht im Raum, dass sich eine Spaltung Pro und Contra Mubarak entwickelt.
Die Berichte über das zivilgesellschaftliche Eingreifen der Bürger sind wirklich beeindruckend. Mehr oder weniger mit "Besenstielen und Golfschlägern" bewaffnet, bewachen die ihre Wohnviertel und übernehmen polizeiliche Aufgaben, ohne dass das "aus dem Ruder laufend" erscheinen würde. Das sind natürlich nur Blitzlichter, aber dennoch finde ich es im Angesicht der uns präsentierten Umstände beeindruckend.
Was die Urlauber angeht, bewegen sich jetzt tatsächlich einige gen Heimat. Und es war auch ausdrücklich von moralischen Gründen die Rede. Viele finden es schwierig, in der Sonne am Pool zu braten, während woanders im Land Revolution herrscht und die Bürger um ihr Land und ihre Freiheit kämpfen. Die anderen werden wohl folgen, sobald das Bier und die Schnittchen ausgehen. Man sollte aber darauf achten, dass der Bus noch ausreichend Sprit für die Fahrt zum Flughafen hat.
Die neueste Entwicklung, was sich gestern schon andeutet hatte, es wird regelrecht von "Jagd" auf Journalisten aus aller Welt berichtet. Die Anhänger des alten Regimes, angeblich viel Polizei in zivil, holen die Leute aus Autos und wohl auch aus den Hotels. Alles, was fremd aussieht, kann sich nicht mehr sicher sein. Langsam macht sich in diesen Kreisen also offener Hass auf Ausländer breit. Wer das Hallali bisher noch nicht gehört hat, dem kann man nun auch nicht mehr helfen.
Ich vermute, dass es morgen nach den Freitagsgebeten zum großen Showdown kommen wird, wenn bis dahin keine grundlegende Änderung passiert. Ob es schon ein Bürgerkrieg oder ein Krieg des alten, außer Kontrolle geratenen Systems ist, wer blickt da momentan noch durch?
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