Zeichen des Mitgefühls oder Katastrophen Tourismus?
In diesem Thread wurde ja von den schlimmen Vorfällen bei der Love Parade berichtet. Nach neuesten Berichten starben bei der Massenpanik im Rahmen der Parade 19 Menschen. Wie bei jedem größeren Unglück gibt es auch hier wieder Menschen, die teilweise von weit her kommen, um sich den Unglücksort anzuschauen und dort Blumen, Kerzen und ähnliches abzulegen.
Wenn ich so etwas sehe oder davon höre, bin ich immer zwiegespalten. Auf der einen Seite kann ich die Menschen verstehen, die dort hinreisen und vor Ort ihrem Beileid Ausdruck verleihen wollen. Das betrifft vor allem die Leute, deren Freunde, Bekannte und Verwandte direkt von dem Unglück betroffen waren. Für jemanden, der an dieser Stelle einen geliebten Menschen verloren hat, kann es ein wichtiger Schritt sein, sich den Ort des Unglücks anzuschauen. Auch Leute, die die Situation heil überstanden haben, können die ganzen Erlebnisse oft besser verkraften, indem sie an den Ort zurückkehren, an dem sie schlimme Erfahrungen machen mussten.
Problematisch finde ich es, wenn Menschen sich den Ort des Geschehens einfach nur anschauen möchten - um da gewesen zu sein und um diesen Ort, an dem ein solches Unglück passieren konnte, zu besichtigen. Ich frage mich daher, worin die Hauptmotivation für einen solchen Besucher liegt - ist es echte Anteilnahme oder handelt es sich bei vielem um nichts weiter als Neugier? Legt ihr Blumen oder Kerzen an Unglücksstellen ab? Würdet ihr extra von weit her anreisen, um sich den Ort anzuschauen, auch wenn ihr und die Menschen, die euch etwas bedeuten, nichts mit dem Ort zu tun habt? Falls ja: was ist für euch Motivation für dieses Handeln? Wie steht ihr generell dazu, dass Menschen gezielt zu solchen Unglücksstellen reisen?
Beides. Es gibt zum einen Menschen, die von einem sensationslüsternen Trieb gesteuert werden. Im Vorhinein suchen sie in Zeitungen und Internet alle Bilder die sie zur Katastrophe finden können und dann reisen sie selber zur Unglücksstelle an, um selbst zu begutachten, welche Katastrophe sich dort ereignet hat. So zynisch und überspitzt das auch klingen mag, aber dass sind dann jene Menschen, die sich freuen, wenn sie einen Blutspritzer sehen und sich Verletzte vielleicht noch stöhnend winden.
Des Weiteren gibt es auch jene Leute, die vielleicht selbst einen Angehörigen verloren haben, oder im Vorjahr auf der Love Parade waren, und das Geschehene nicht fassen, nicht begreifen können. Sie wollen verstehen, wie es zu so einem Drama kommen konnte. Diese Menschen sind es auch, die echte Trauer und echtes Mitgefühl empfinden.
Persönlich würde ich nicht aus Österreich anreisen, ich würde nicht einmal hingehen, wenn ich in Duisburg wohnen würde, da es dort für mich nichts zu sehen gibt. Papst Benedikt XVI. ist auch von "tiefer Trauer" erfüllt, ohne am Ort des Geschehens anwesend zu sein.
Möglicherweise gab die Aussage in meinem Posting, zum Thema, die Inspiration zu dieser Frage. Denn ich überlege dort hinzufahren, eine Kerze aufzustellen und dadurch meine Anteilnahme auszudrücken ohne ein direkter Angehöriger zu sein. Ich finde, dass jeder der direkt oder indirekt von den jüngsten Ereignissen ergriffen ist und die Möglichkeit hat dort hinzufahren, ein Zeichen der Anteilnahme setzen kann. Hier kann ich natürlich nur von mir sprechen und meinen persönlichen Beweggründen.
Ich begleite einen Freund von mir da hin, der auch bei der Love Parade war, wenn auch, Gott sei Dank, nicht direkt vom Unglück betroffen. Erschütternd ist es aber alle mal und daher hätte ich diese Entscheidung auch unabhängig von meinem Freund getroffen.
Dieses Unglück ist meiner Meinung nach weder der richtige Ort noch das passende Ereignis um Sensationstourismus zu betreiben. Ich fände es im höchsten Maße geschmacklos wenn man sich nur zu diesen Zwecken dorthin aufmachen würde. Wobei ich oft genug erlebt habe wie gierig Menschen sich am Leid anderer "zu schaffen" machen, nur um ihre Sensationslust zu stillen. Wenn es aber darum geht, wer was gesehen hat wollen sie alle nichts gesehen haben. Abartig!
Im Falle der Loveparade kann ich die Betroffenheit sogar verstehen. Es wird sicher nicht wenige Leute geben, die die Meldungen über die Toten verfolgen und sich denken, dass das genauso gut sie, einen Freund oder Verwandten hätte treffen können. Weil sie eben in diesem oder den vergangenen Jahren selber mal bei dieser Veranstaltung mit dabei waren. Und wenn jemand aus dieser Betroffenheit heraus dann eine Kerze aufstellen will unterstelle ich dem auch keine Sensationslust.
Was mich aber immer total auf die Palme bringt ist folgendes Szenario: Da wird ein Kind jahrelang vernachlässigt und misshandelt und keiner will etwas bemerkt haben. Schließlich wird das Kind tot aufgefunden und die Medien stürzen sich auf den Fall. Und plötzlich gibt es ganz viele angeblich tief betroffene Nachbarn, die Kerzen und Teddies und sonstigen Kram für den "kleinen Kevin-Leon" vor die Tür legen und sich gerne mal auch in ein RTL Mikrofon zu dem Fall äußern. Das ist für mich immer die Definition von Sensationsgier schlechthin.
Unter Katastrophen Touristen verstehe ich aber eher Leute, die irgendwo hin fahren um sich die Katastrophen live und in Farbe anzuschauen. Ich hatte schon das "Vergnügen" Leute aus Wuppertal zu treffen, die sich allen Ernstes darüber aufgeregt haben, dass der Rheinpegel nicht so schnell wie erwartet steigt. Was dann dazu führte, dass sie den halben Tag vergeblich darauf gewartet hatten, dass die Kölner Altstadt überflutet wird. Und ich habe es auch schon erlebt, dass jemand ganz begeistert aus einer Tankstelle gestürmt ist, als ich dem Tankwart erzählt habe, dass kurz hinter der Auffahrt ein LKW umgekippt ist und seine Ladung verloren hat.
Wenn jemand einen Angehörigen oder überhaupt geliebten Menschen an einem solchen Ort verloren hat, dann finde ich es absolut verständlich, wenn derjenige dorthin reist und sich alles anschaut. Vielleicht auch Kerzen oder Blumen niederlegt. Oder, wenn man keinen Bekannten verloren hat, dennoch mitfühlt, weil man weiß, hätte auch der eigene Freund oder Sohn sein können, der da ums Leben gekommen ist, weil er eben zu dem Zeitpunkt auch dort war. Denn gestern haben garantiert eine Menge Eltern, Freunde, usw. große Ängste um ihre Lieben ausgestanden.
Anders sieht es aus, wenn keine emotionale Bindung zu solchen Orten besteht, die dorthin Reisenden diese Plätze also vor dem Unglück ganz sicher nie aufgesucht oder, wenn sie dran vorbeigekommen sind, nie näher angeschaut haben.
Allerdings würde ich diesen Katastrophen-Tourismus eher so definieren, dass Leute zu einer gerade stattfindenden Katastrophe reisen, um sie eben hautnah miterleben zu können. Also Vulkanausbrüche, Waldbrände, Hochwasser, usw. Ein Tunnel, in dem heute vermutlich nichts mehr von den gestrigen Unglücken zu sehen ist, dürfte da zu unspektakulär sein.
Wenn ich bei solchen Unglücksorten sehe, wie die Menschen weinen und wie betroffen sie wirken, denke ich dass die meisten Menschen wirklich aus Betroffenheit diesen Unfallort aufsuchen. Und jemand, der nur aus Sensationslust dort hingeht, der wird keine Blumen und Kerzen hinbringen. Die vielen Blumen und Kerzen an einem solchen Unfallort beweisen ja dann, wieviel Menschen wirklich betroffen sind.
Ich selber würde so einen Ort nicht extra aufsuchen, weil ich der Meinung bin, dass ich auch zuhause an die Unfallopfer denken kann. Wenn ich durch Zufall in der Nähe eines solchen Ortes wäre, würde ich eventuell auch Blumen hinbringen. Aber extra dort hinfahren würde ich nicht.
Die meisten Menschen, die einen solchen Ort aufsuchen werden es nicht aus Sensationsgeilheit machen. Denn zu sehen ist dort ja nichts mehr außer Blumen und Kerzen. Ein Ort der Besinnlichkeit eben und da werden sensationslüsterne Leute wohl weniger hingehen.
Ich habe mal eine Reportage gesehen, in der es um genau dieses Thema ging. Da gab es regelrecht Gruppen, die zu solchen Orten gereist sind um der Opfer zu gedenken.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich davon nichts halte. Es ist etwas absolut anderes, wenn es sich dabei um ein Familienmitglied handelt oder von mir aus auch eine Freund oder Bekannten. Man muss sich fragen, ob diese Menschen das wirklich aus reiner Nächstenliebe machen und was der Grund für ihr Handeln ist, wenn sie eine Kerze für wildfremde Menschen aufstellen.
Teilweise hatte ich das Gefühl, dass sie selbst Anerkennung haben wollen und das sie die Situation doch tatsächlich zu ihrem Vorteil nutzen wollen. Das lehne ich in solchen Fällen strikt ab. Teilweise zelebriert man das in der Gruppe. Da frage ich mich dann auch, ob ein Lesezirkel nicht besser wäre.
Man kann auch an die Menschen denken, wenn man daheim ist. Desweiteren sollte man bedenken, dass man den Menschen so nicht mehr helfen kann. Vielleicht sollte man Energie und Geld dann in Dinge stecken, um die Situation ein nächstes Mal zu verhindert. DAMIT hilft man dann nämlich wirklich.
@ Winny2311:
Genau das denke ich auch. Ich denke, dass es verschiedene Motive gibt. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige dieser Katastrophen-Ort-Besucher sich insgeheim fast schon selbst beweihräuchern für ihre Selbstlosigkeit, weil sie dort Kerzchen aufstellen, Bilder ablegen oder sonstige Zeichen ihrer Anteilnahme hinterlassen. Wenn der Sohn des Nachbarn verunglückt, kämen wohl die wenigsten auf die Idee, hier mehr als eine Trauerkarte zu investieren. Sobald es darum geht, Blumen oder etwas Geld zu sammeln, sind die meisten dann wieder ganz schnell weg. Bei größeren Katastrophen, die tagelang durch die Medien gehen, fühlen sich diese Leute dann plötzlich dazu animiert, ihrem "tief empfundenen Mitleid" Ausdruck zu verleihen und allerlei Dinge am Ort des Unglücks zu hinterlegen.
Als ich die Bilder im Fernsehen gesehen habe, sind mir vor allem die Bilder der Leute aufgefallen, die als Unbeteiligte regelrecht mitgelitten haben. Diese Menschen hatten die Grenze zwischen Mitgefühl und Mitleid schon lange überschritten und zeigten sich tief emotionalisiert. Mit dem Verlassen des Trauerortes trockneten die Tränen dann aber recht schnell und die Welt war wieder schön. Irgendwie wirkt das auf mich so falsch. Einen besseren Ausdruck kann ich dafür gerade nicht finden.
Ich denke auch, dass man von zuhause aus Mitgefühl mit den Opfern haben kann, ohne sich so darzustellen. Allerdings muss man dann auf das Gruppentrauern verzichten und auch auf die Blicke der anderen Menschen, die einen live beim echten Mittrauern, Mitleiden, Mitfühlen, etc. sehen können.
Wichtiger als dieses kollektive Trauern ist wohl, in Zukunft dafür zu sorgen, dass sich solche Dinge nicht wiederholen. Allerdings handelt es sich dabei dann wieder um langfristige Dinge, die gerne mal auf der Strecke bleiben. Das Fahren zu einem Unglücksort und das Gruppentrauern sind da wohl mit weniger Aufwand verbunden und bringen einem zudem noch die Anerkennung anderer Leute ein.
Ich denke, es gibt verschiedenste Gründe, an einen Ort, wo ein Unglück geschehen ist, zu kommen, und sich diesen anzusehen, und möglicherweise auch Kerzen hinzustellen. Allerdings nicht nur die im Anfangsposting genannte Gründe, mir felen noch mehrere andere ein.
Und ich habe gegenüber keinem eine spezielle Abneigung. Jeder Mensch soll einfach tun, was er für richtig hält, solange er niemanden belästigt. Mir ist es also in dem Rahmen egal. Wenn die Katastrophentouristen meinen, Unglücksorte besuchen zu müssen, finde ich das zwar komisch, aber sollen sie ruhig, so lange sie keine wirklich Trauernden mit ihrem Gebaren vor Ort stören.
Ich selbst habe noch an keiner Unglücksstelle Blumen oder Kerzen abgelegt, da ich persönlich noch nie einen solchen Unglücksfall im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis hatte (und ich hoffe, dass es so bleibt). Ganz ehrlich war ich auch noch nie so von Trauer ergriffen, dass ich bei fremden Leuten hätte Blumen ablegen wollen. Es passiert viel, was mich traurig macht, aber es geht nicht so weit, dass ich Blumen hinlegen würde.
Übrigens sind diese ganzen Sachen mit Kerzen und Blumen für mich persönlich sowieso unnötig. Aber das muss jeder für sich selbst wissen. Nur, ich habe das unschöne Gefühl, dass diese Gesten heutzutage auch schon zu sinnentleerten Floskeln geworden sind, jedenfalls für viele Menschen. Es "gehört" sich einfach so, Blumen hinzulegen. Sicher ist das auch ein Grund, wieso einige Leute zu Unglücksorten fahren. Weil erwartet wird, dass sie als Nachbarn, entfernte Verwandte oder wer auch immer, eine bestimmte Form von Trauer zeigen, einfach, weil das zur Kultur gehört. Egal, ob diese Leute wirklich trauern, oder nicht. Das erklärt zumindest, wieso zum Teil straßenzugweise Leute zum Kerzenaufstellen losgehen, nur, weil sie in der Nähe des Opfers lebten.
Was ich auch noch verstehen kann, auch, wenn es merkwürdig für den Durchschnittsmenschen klingen mag, ist, wenn Menschen diese Gedenkorte aufsuchen, um zu empfinden, wie es dort ist. Um es näher zu erläutern: Einige Leute meinen, Orte hätten eine bestimmte "Atmosphäre" (tut mir Leid, dass mir kein anderer Begriff einfällt, als einer, der möglicherweise etwas nach Vergnügungspark klingt). Sie wollen wissen, was man empfindet, wenn man an so einem Ort ist. Gerade Künstler benehmen sich manchmal so. Natürlich kann man ihnen Egoismus vorwerfen, ist einfach Ansichtssache.
Auch muss ich gerade an einen Fall denken, der sich in meiner Nachbarschaft ereignete: Hier gab es einen Selbstmordfall, eine Frau hatte sich in ihrem Auto selbst verbrannt. Ich bin einen Tag später dorthin gegangen, und habe die vielen Kerzen gesehen. Ich war aber da, um zu schauen, ob man noch irgendwo Spuren der Brandstelle sieht. Ich wollte wissen, wo es genau war. Denn ich war am Abend zuvor dort gewesen und hatte dort ein Auto stehen sehen. Ich wollte abschätzen können, ob es das Unglücksauto gewesen sein könnte, denn man suchte noch Zeugen und ich habe natürlich, sofern möglich, bei der Aufklärung des damals noch völlig offen liegenden Falles mithelfen wollen, denn ich sehe das als meine Pflicht an, wenn ich irgendwo Zeuge würde. Es stellte sich am Ende übrigens heraus, dass das abgebrannte Auto wohl doch woanders stand, gut 30 Meter entfernt. Also war es doch wohl ein anderes gewesen, das ich gesehen hatte.
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