Als sehr direkter Mensch immer anecken?
Meine Oma war immer eine sehr direkte Person. Sie hat immer jedem die Meinung gesagt und auch das ausgesprochen, was man vielleicht lieber für sich behalten sollte. So hat sie immer angesprochen, was ihr nicht gepasst hat, was sie komisch fand, aber eben auch, wenn ihr etwas besonders gut gefallen hat und hat dann eben auch Lob verteilt.
Ich muss sagen gerade als ich noch wenig Selbstbewusstsein hatte, war das schon etwas, was ich sehr erstrebenswert empfunden habe. Ich habe aber auch mitbekommen, dass das nicht immer bei jedem gut ankam und sie dann vielleicht auch mal Bekannte hatte, die sauer auf sie waren und so weiter. Letztendlich war das aber auch wirklich eine positive Art, die sie hatte und sie hatte dann eben auch viele richtige Freunde, die damit klar kamen. Beruflich hat sie sich dann aber schon angepasst.
Eckt man denn automatisch immer an, wenn man den Leuten direkt die Meinung sagt? Kann man das als Gesellschaft denn nicht aushalten, wenn man die Wahrheit über einen hört? Ich denke man sollte immer respektvoll miteinander umgehen, aber sich auch die Wahrheit sagen können.
Ich selbst finde es eher problematisch, wenn Menschen "sehr direkt" sind, weil diese Art der Kommunikation eben doch oft zu kränkenden Äußerungen führt. Eine meiner Tanten hatte so eine direkte Art und meiner Mutter immer wieder unverblümt mitgeteilt, wie alt und dick sie inzwischen aussehen würde. Dass meine Mutter darüber nur wenig begeistert war und zwischen der Tante und meiner Mutter keine dicke Freundschaft entstanden war, hat mich nicht überrascht. Ich denke, dass es im Normalfall besser ist, eine gewisse Höflichkeit zu praktizieren, auch wenn diese bisweilen unaufrichtig ist.
Auch ich habe einen Bekannten, mit dem ich mich eigentlich ganz gern treffe, aber auch er ist gern "direkt" und sagt mir bei so gut wie jedem Treffen: "Du bist aber dick geworden". Inzwischen habe ich schon gar keine große Lust mehr, ihn zu treffen, weil ich mir nicht dauernd anhören möchte, wie dick ich geworden sei (was irgendwie auch gar nicht stimmen kann, sonst müsste ich inzwischen meine Hosen drei Nummern größer kaufen, was aber nicht der Fall ist).
Ich bin von Natur aus auch kein sehr "diplomatischer" Mensch, wenn man so will, aber das heißt ja nicht, dass ich nicht einfach mal die Klappe halten könnte, wenn mir nichts sozial Angepasstes einfällt, was ich sagen kann. Viele Menschen, die sich als "direkt" bezeichnen, sind einfach nur ungehobelte Trampel oder provozieren gern, weil sie sich ja immer darauf herausreden können, dass das eben ihre Art sei und das Gegenüber sich nicht so anstellen solle. Aber wenn man ihnen gegenüber dann "direkt" ist, sprich ihre Figur, ihren Geschmack oder ihre Familie beleidigt, ist das Geschrei dann wieder groß.
Ich kann einfach nicht besonders gut lügen. Wenn jemand Schwachsinn labert und dann meine Meinung dazu hören will, merkt auch der größte Depp, wie sehr ich mich winde, um nicht geradeheraus und direkt zu sagen: "Das ist Schwachsinn und widerspricht den Naturgesetzen auf diesem Planeten" oder "Ihr Menschenbild ist aus den 1950ern und Sie haben noch nie was von Emanzipation gehört."
Ich weiß zwar, dass meine ehrliche Meinung hier gar nicht gefragt ist, sondern jemand nur sein Ego mit ein paar wohlwollenden Geräuschen meinerseits aufpäppeln will, aber ich will verdammt sein, wenn ich das hinkriege! Und wenn mein Gesprächspartner auf wohlwollende und bestätigende Geräusche wartet und diese nicht bekommt, dann schmollt die Person schon mal. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich Menschen unaufgefordert mit meinen persönlichen Geschmacksurteilen und Kommentaren zu ihrem Leben belästige. Das kann man sich auch als "direkter" Mensch gut verkneifen.
Es gibt verschiedene Arten von Gesprächen. Es gibt Gespräche, die dazu dienen, ein Wohlgefühl und eine gemeinsame Wellenlänge herzustellen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man irgendwo eingeladen ist und man einen schönen Abend verbringen möchte. Da ist es der Sache nicht dienlich, wenn man wahrheitsgemäß sagt, dass einem die Wohnung nicht gefällt, dass das Essen nicht schmeckt oder dass die Hose der Gastgeberin unvorteilhaft aussieht. Die Gespräche am Anfang einer solchen sozialen Interaktion bestehen meistens aus Lügen und jeder weiß das und das ist nicht schlimm, weil jeder dasselbe Ziel hat, nämlich sich wohl zu fühlen. Als direkter Mensch würde man in solchen Situationen fast immer anecken.
Dann gibt es Gespräche, die Diskussionen über politische oder religiöse Themen sind, bei denen man andere von etwas überzeugen möchte oder, wie es bei mir oft der Fall ist, von etwas überzeugt werden möchte. Da sollte man in meinen Augen immer seine Meinung sagen. Da kann eigentlich niemand bei mir anecken. Ich mag keine Leute, die aus Höflichkeit immer zu jeder Meinung Ja und Amen sagen. In diesem Fall ist das Ziel, seine Standpunkte auszutauschen und neue Sichten zu bekommen, also seinen Horizont zu erweitern. Da sollte man direkt sein.
Es gibt noch viele andere Sorten von Gesprächen mit unterschiedlichen Zielen und aus unterschiedlichen Motiven heraus. Manchmal ist es besser direkt zu sei und manchmal ist es besser, eine Kritik indirekter auszudrücken. Ich kann ja meinem Nachhilfeschüler nicht sagen, dass er dumm ist, sondern ich versuche durch Lob seinen Ehrgeiz anzustacheln, damit er das Klassenziel vielleicht doch noch geradeso erreicht. Das ist fast immer machbar. Gerade bei Kindern muss man sehr aufpassen, dass sie ihr Selbstbewusstsein durch Wahrheit nicht verlieren. Kinder, gerade in der Pubertät, sind nun manchmal hässlich. Aber es bringt keinem was, wenn man es ihnen direkt sagt.
Seien wir ehrlich, jemand, der sich immer wieder hinter der Aussage "so bin ich halt, ich bin eben direkt/ehrlich" verschanzt, ist in gewisser Art und Weise vielleicht auch einfach etwas unflexibel darin, sich bestimmten Situationen und Personen anzupassen. In dem Beispiel konnte die Oma ja anscheinend durchaus abwägen, ob sie an der Kaffeetafel einen flapsigen Spruch bringt oder mittags im Büro der Chefin gegenübersteht und anders reagieren muss.
Wenn man merkt, dass man öfter mal zu weit geht, finde ich schon, dass man im Laufe des Lebens lernen muss, sich auch mal dezent zurückzuhalten. Menschen könnten sonst verletzt werden, und das will ja hoffentlich niemand, oder? Ich war früher auch in meinen Aussagen als Teenager oft vorschnell und unbedacht, aber mit dem Erwachsenwerden habe ich zunehmend gelernt, die Gosche zu halten und nichts zu sagen. Ich gebe aber zu, dass es mir auch heute noch manchmal schwerfällt und ich ungeschickt darin bin, falsche Komplimente zu machen.
Ein auf eine Frage geantwortetes "Ehrlich gesagt, dieses senfgelbe Polyesterkleid von Kik für kleine Mädchen, dass sich so mit deiner Haut beißt, sieht wirklich schrecklich aus" kann man eben nicht bringen, auch wenn man es denkt. Aber innerlich werde ich dann ganz blass, wenn jemand stolz die Kunststoffbahnen schwingt und mir ein "Total süß, oder was meinst du?" entgegenschleudert. Mein "ja, sehr sommerlich" kommt dann vermutlich eher etwas gequält und unüberzeugend rüber.
Das Eingangs Posting macht mich übrigens gerade richtig sentimental und ich vermisse meine eigene Oma, die genauso war wie die hier beschriebene. Mir persönlich hat das nichts ausgemacht, im Gegenteil, ich fand es lustig, auch wenn meine Großmutter überhaupt keine Probleme hatte mir zum Beispiel in Gegenwart meiner Freunde zu sagen: "Du hast so dicke Backen, wie geht das, du bist doch schlank?". Zum Glück hatte ich damals nicht nur Babyspeckwangen, sondern meistens auch ein dickes Fell und habe ihr solche Sachen nicht krummgenommen.
Aber nicht jeder ist da so. So habe ich zum Beispiel meine australische Cousine zweiten Grades online kennengelernt, deren Oma die Schwester meiner Großmutter war und die genau dieselbe große Klappe hatte. Und diese Cousine hat die Oma dafür wirklich verdammt und unter den flapsigen, unbedachten Sprüchen gelitten und konnte so etwas gar nicht leiden. Da hätte diese Oma sich ihrer Enkelin auch anpassen müssen und nicht so anecken dürfen. Aber so ist es eben, selbst in Familien passt nicht jeder zu jedem.
Mir fehlt auch deswegen der Hang zur "Direktheit", weil ich meistens die anderen Menschen so sein lasse, wie sie eben sind. Direktheit bedeutet ja oft, dass die eigene Meinung bzw. Sichtweise als so relevant angesehen wird, dass man sie den anderen Menschen auch dann nahebringen muss, wenn man weiß, dass es sie kränken wird.
Aber warum sollte ich jemandem in direkter Weise mitteilen, dass ich die Jacke oder die Schuhe hässlich finde oder dass die Person vielleicht zu dick oder dünn geworden sei? Modegeschmack ist ohnehin subjektiv, und ich mische mich da normalerweise nicht ein in die Kleidungsauswahl anderer Leute ein.
Auch die Mitteilung, jemand sei zu dick geworden, hat eigentlich keinen Mehrwert, weder für mich noch für die andere Person. Meistens weiß man es sowieso, dass man zu viel wiegt und bemüht sich vielleicht bereits, das Gewicht zu reduzieren. Warum sollte ich das ansprechen? Es ist, wie es ist. Wenn die Person drüber reden möchte, dann wird sie es vielleicht von sich aus tun.
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