Retraumatisierung und medizinische Notfälle in Oper
Man kann sich durchaus fragen, warum die Stuttgarter Staatsoper das Bedürfnis hat mit einem Theaterstück ab 18 Jahren, für das sie selbst Trigger Warnungen ausspricht, und bei dem einzelne Gäste medizinisch versorgt werden muss, das Publikum zu verstören.
Der Intendant Viktor Schoner spricht davon, dass es Aufgabe der Kunst sei, Grenzen lustvoll zu überschreiten. Die Staatsoper weist selbst darauf hin, dass neben Kunstblut auch echtes Blut zum Einsatz kommt, Wunden zugefügt werden, Vergewaltigungen und körperliche Misshandlungen dargestellt werden. Vermutlich haben sie erwartet, dass das manchen Besucherinnen nicht zuträglich ist, aber nach der Premiere wurde auch gesagt, dass es immer wieder vorkommt, dass Menschen in der Oper übel wird und sie sich übergeben müssen. Auf die Gefahr von Retraumatisierungen wird auch hingewiesen.
Ich vermute dennoch, dass die allermeisten von euch keine Erfahrungen mit solcherlei "Kunstaufführungen" haben und selbst noch nicht, Opfer von Retraumatisierung oder Zusammenbrüchen in der Oper wurden. Doch vielleicht kann jemand erklären, warum sich Menschen freiwillig so etwas aussetzen und gar noch dafür bezahlen?
Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es Anhänger von sexuellen Gewaltdarstellungen gibt, allerdings hatte ich diese bisher nicht in der Oper vermutet. Und ich ging eigentlich davon aus, dass Erwachsene, die sich durch solche Phantasien anregen lassen, sich ihrer persönlichen Grenzen und psychischer Stabilität bewusst sind. Das schien in Stuttgart bei mehr als einem Dutzend Menschen nicht der Fall gewesen zu sein.
Und ich wundere mich über die Aussage der Oper, dass es üblich ist, dass Besuchern schlecht wird bei Vorstellungen. Ist euch so etwas schonmal passiert? Lag es dann nicht eher an eurer eigenen körperlichen Verfassung in diesem Moment als am Opernstück?
Ich verstehe tatsächlich die Aufregung nicht. Schließlich geht man da freiwillig bin und niemand wird gezwungen. Zumal das ja nun absolut nichts Neues ist. Du stellst fest, dass die meisten Menschen so etwas noch nicht auf der Bühne erlebt haben.
Aber tatsächlich war es seit knapp 20 Jahren doch eher ruhig und sittsam in den Theatern und auf den Opernbühnen der Republik. Vor über 50 Jahren ging es los mit Nacktheit und Sex auf der Bühne. In den 1980er-Jahren nahm das kräftig zu und die Gewalt zog in die Darstellung ein. Und zur Jahrtausendwende schickte man Darsteller und Darstellerinnen nackt und sonst wie los, egal ob es irgendeinen künstlerischen Sinn ergab oder nicht. Entsprechende Reaktionen vom Publikum waren normal.
Komischerweise regt sich niemand auf, wenn bei mancher Aufführung von Sweeney Todd das Publikum massig Kunstblut abbekommt und die Kleidung und, ohne entsprechende Vorbereitungsmaßnahmen, auch das Auto auf der Heimfahrt versaut ist.
@cooper75 Ich habe keine Ahnung, wer Sweeney Todd ist und warum er nur Kunstblut verwendet. Bei Sancta wird neben Kunstblut auch vor echtem Blut und dem Darstellen realer Wunden gewarnt. Ebenso vor sämtlichen technischen Effekten und Lautstärke. Und die Staatsoper drückt selbst aus, dass es retraumatisierend sein kann. Wer sich dennoch dafür entscheidet hingegen zu wollen, sollte damit rechnen, dass nicht nur seine Kleidung (und später das Fahrzeug) verschmutzt werden könnte, sondern auch die eigene Psyche und Seele.
Meine Frage ist vielmehr, warum so etwas dennoch die Menschen anzieht. Ich vermute, dass es gar nicht die Besucherinnen selbst sind, die sich aufregen, sondern frage mich, warum man trotz Traumatisierung, Neigung zu Übelkeit und anderen gesundheitlichen Aspekten so eine Aufführung besucht? Das fragte ich mich durchaus auch schon bei entsprechenden FSK18 Filmen aus den Bereichen Horror und sexueller Gewalt, wenn Menschen sich sowas in Kinos gemeinsam mit Fremden anschauten, trotz Möglichkeit stattdessen im heimischen Wohnzimmer zu schauen (und bei Überforderung und Übelkeit einfach abzuschalten).
Meinst du wirklich, dass es da einen besonderen Grund gibt, der besonders viele Besucher anzieht? Das ist nicht der Fall. Ich kann dir einige Gründe nennen, aber dich wird wahrscheinlich nur der Nervenkitzel interessieren, der sich Menschen auf die Achterbahn treibt. Aber der ist halt bei typischen Besuchern von Opernaufführungen seltener der Grund.
Viele langjährige Anhänger des Opernhauses besuchen diese Vorstellung beispielsweise, weil dieses Stück nun endlich "nach Hause gekommen" ist. Schließlich sollte das Stück schon vor rund 100 Jahren dort aufgeführt werden und kurz vor der Premiere wurde ein Rückzieher gemacht. Seitdem ist es im Prinzip auf allen großen Bühnen der Welt gelaufen.
Andere sehen eben gerne die Inszenierungen von Franziska Holzinger. Diese zeigt immer sehr drastisch und explizit ihren Ärger über die (sexuelle) Unterdrückung der Frau. Die nächsten haben ein Abonnement und lassen keine Veranstaltung ausfallen.
Die größte Gruppe möchte einfach ein weiteres Stück kennenlernen und dann gibt es viele Menschen, die sich eben sehr für die unterschiedlichen Inszenierungen und damit eben auch Interpretationen eines bestimmten Stoffs erwärmen können. Ich nehme beispielsweise so weit möglich jede Zauberflöte und jede Rocky Horror Show mit.
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