Müssen wir mehr diskutieren und hinterfragen?
Gestern Abend hatte ich eine kleine Diskussion mit einem Freund. Es ging darum, dass die Politik uns Bürgern immer mehr vorschreibt und wir uns eigentlich auch sehr viel gefallen lassen, ohne Dinge zu hinterfragen. Ich bin der Meinung, dass wir viel mehr diskutieren und uns auch mal insofern zur Wehr setzen müssen, dass die Bürger nicht alles unbedingt akzeptieren. Mein Kumpel meinte, dass das nichts bringt, weil wir Bürger am Ende eh nichts verändern können. Wie seht ihr das? Sind wir generell viel zu brav und machen alles mit, was man uns vorschreibt?
Vielleicht könntest du mal ein Beispiel nennen. So kann ich nicht viel damit anfangen, beziehungsweise bestreite sogar deine These, dass immer mehr von der Politik vorgeschrieben wird. Ich diskutiere genauso viel wie vor 50 Jahren und hinterfrage viel.
Es gibt vielerlei Möglichkeiten, sich gegen etwas zur Wehr zu setzen, Petitionen, Demonstrationen, der Rechtsweg, Wahlen, Leserbriefe. Die Diskussionsfreudigkeit nimmt in meinem Umfeld nicht ab, eher zu, weil die Menschen viel besser informiert sind als in der Zeit, als es nur ein oder zwei Fernsehprogramme gab und kein Internet.
Das beste Beispiel waren doch die Corona-Maßnahmen, bei denen heute klar ist, dass einige völlig absurd und überzogen waren. Aber Beispiele finden sich, wie Sand am Meer: Cannabis war ewig verboten, obwohl viele es legalisiert haben wollten. Jetzt plötzlich geht es. Vielleicht hätte man es schon früher durchsetzen können.
Wir haben die höchste Steuer- und Abgabenquote. Viele sind unzufrieden, aber keiner wehrt sich so wirklich dagegen. Das meine ich.
Corona sehe ich als Naturkatastrophe, die über uns hereingebrochen ist. Dass da nicht alles richtig läuft bei den Maßnahmen, ist ja auch klar. Es kann immer mal wieder außergewöhnliche Umstände geben, wie zum Beispiel die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Leute gezwungen wurden, Flüchtlinge aufzunehmen, wie beispielsweise die Familie meines Vaters, die aus dem Sudetenland kamen. Da wurde nicht groß diskutiert. Man musste.
Es gab im Laufe meines Lebens viele Vorschriften, die neu gesetzt wurden. Ich sehe da heutzutage keine Steigerung. Wir durften uns als Zwölfjährige in einer Kneipe noch ein Bier bestellen und Zigaretten aus dem Automaten ziehen. Die Vorschrift, dass das nicht mehr geht, ist auch schon etwas älter. Ebenso die Gurtpflicht, die Fahrverbote in der Ölkrise oder das Verbot von Asbest oder DDT.
Und wenn man sich die Steuern und Abgabenlasten als Gesamtpaket von 1970 bis jetzt anschaut, gibt es da prozentual keinen großen Unterschied.
blümchen hat geschrieben:Es gab im Laufe meines Lebens viele Vorschriften, die neu gesetzt wurden. Ich sehe da heutzutage keine Steigerung.
Ich sehe da ehrlich gesagt auch keine Steigerung. Auch in früheren Jahrzehnten hat es Regeln und Verbote gegeben, einige gibt es noch, andere nicht mehr. Beispielsweise durften früher Unverheiratete kein gemeinsames Zimmer beziehen (weder im Hotel noch in Wohnheimen etc.). Ich weiß nicht genau, ob es diesbezügliche offizielle Gesetze gab, aber es wurde wohl so gehandhabt (meine Mutter erzählte mir, dass sie mit meinen Vater vor der Heirat deswegen nicht offiziell in einem Hotel übernachten durfte).
Was die Coronaregeln betrifft, sind wir in Deutschland sowieso noch halbwegs moderat eingeschränkt gewesen. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat es nie wirklich strenge Ausgangsbeschränkungen oder -sperren gegeben, die man nicht mit einer Ausrede oder einfachen Begründung umgehen konnte. Im Gegensatz zu unserer Situation war es beispielsweise in Frankreich zeitweise nur noch mit schriftlicher Bescheinigung für wenige Stunden täglich möglich gewesen, die eigene Wohnung zu verlassen. Insofern denke ich, dass wir in einem vergleichsweise liberalen Land leben, in dem es nicht allzu streng zugeht.
Lascar, klar war das gesetzlich geregelt. Bis 1969 warst du als Vermieter dran, wenn deine unverheiratete Mieterin Herrenbesuch hatte und Unzucht zu vermuten war. Vermietungen von Hotelzimmern oder Wohnungen an Unverheiratete gingen daher auch gar nicht. Das war ganz schnell Kuppelei und die war strafbar.
Ich finde nicht, dass es schlimmer geworden ist. Man ist von den gesetzlichen Rahmenbedingungen her viel freier als noch vor wenigen Jahrzehnten. Viel schwieriger finde ich, dass sich große Teile der Bevölkerung schlichtweg nicht beteiligen. Ich wohne in einem sozialen Brennpunkt und im Meckern ist man hier ganz groß. Aber die mit der größten Klappe schaffen nicht einmal den Weg zum Wahllokal. Hier liegt die Wahlbeteiligung weit unter 30 Prozent und das betrifft immer mehr Wahlbezirke.
Diskutieren und hinterfragen im Sinne vom Stammtischgeschwätz und Lästereien über den Gartenzaun hinweg? Da habe ich nicht den Eindruck, als würden die braven Bürger hier zu wenig leisten und müssten sich gefälligst mehr ins Zeug legen, um noch mehr unausgegorene Weisheiten und hohle Sprüche abzusondern.
Auch die "modernen Medien" liefern bekanntlich genügend Möglichkeiten, seine individuelle Meinung kundzutun, zu protestieren und zu jammern, die es vor ein paar Jahrzehnten noch gar nicht gab. Da hätte ich jemanden bezahlen müssen, der auf dem Dorfplatz die Glocke schwingt und bekanntgibt, dass ich gegen die Erhöhung der Hundesteuer bin, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen.
Und auch was das "sich nicht gefallen lassen" angeht, gibt es in einer modernen Demokratie diverse Möglichkeiten, sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben zu engagieren, zu versammeln, und so lange Radau zu machen, bis sich was ändert. Aber sich auf diese Art zur Wehr zu setzen, ist natürlich mit Arbeit und Anstrengung verbunden, weswegen sich die meisten auf besagte Stammtischparolen beschränken.
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