Zeitweise bewusst auf Lügen und Flunkereien verzichten?
Online habe ich schon auf einigen Blogs und Portalen von Selbstexperimenten gelesen, bei dem die Leute für wenige Tage ganz bewusst auf das Lügen verzichtet und nur die Wahrheit gesagt haben. Dazu zählen "richtige" Lügen, aber auch Notlügen und kleine Flunkereien. Die Personen fanden es allesamt extrem schwer und hart und meinten am Ende des Experiments, sich einige Feinde gemacht zu haben.
Ich sage auch nicht immer die Wahrheit, wenn man mich fragt, wie es mir geht - wobei das ja aber meistens auch eher eine rhetorische Frage ist - wobei ich mich sonst als sehr ehrlich bezeichnen würde. Ich lüge nicht, wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde - auch wenn ich ein neues Kleidungsstück oder eine neue Frisur bei jemand anderen wirklich nicht toll finde. Habt ihr schon einmal selbst so ein Experiment gemacht? Inwiefern haben sich euer Alltag und eure Beziehungen dadurch verändert?
Ich habe das schon teilweise probiert, wobei mein inneres Besserwissersein da wieder ein Definitionsproblem hat: Was ist mit Dingen, die man täglich sagt aber eigentlich gar nicht so genau weiß. Etwa Schätzungen, spontane, unbedachte Aussagen oder wenn dir jemand eine Theorie erzählt oder seine Meinung über jemanden, die man nicht unbedingt teilt aber lieber gar nichts sagt oder nur so nebenbei nickt, weil man nicht diskutieren möchte - schon gar nicht mit dieser einen, bestimmten Person gerade?
Was möglich ist, ist sicher, den Anteil der bewussten Aussagen, wenn frau direkt gefragt wird, herunter zu fahren der unwahr oder geschönt ist und das wäre auch schon eine ordentliche Leistung. Ich fürchte nur, selbst dann sagt man immer noch eine ganze Menge Unwahres oder enthält sich bewusst der Meinung. ^^
Für mich ist die "Wahrheit" eine sehr komplexe und subtile Sache. Wenn ich beispielsweise jemandem mitteile, dass Leoprint auf Tomatenrot bei zwei Zentnern Lebendgewicht scheiße aussieht, ist das die "Wahrheit" oder nur meine Meinung? Und wem ist gedient, wenn ich allen Leuten das aufs Auge drücke, was ich für die "Wahrheit" halte, aber in Wirklichkeit genauso subjektiv, eine Geschmacksfrage, sachlich falsch oder einfach nur gemein sein kann wie andere "Wahrheiten" auch? Oder wenn ich etwas verschweige und meinem Chef nicht erzähle, dass es mir gerade nicht "gut" geht, weil ich mich mit meinem Freund gestritten habe, weil der immer seine Unterhosen herumliegen lässt - hat dann jemand was von der Wahrheit, sprich den gammligen Buxen des werten Herrn?
Ich bin der Meinung, dass es zu einem halbwegs erträglichen Zusammenleben quasi dazugehört, dass man nicht immer die Wahrheit sagt, weil es sich meiner Erfahrung nach in 95 Prozent der Fälle sowieso nur um eine Meinung oder ein Gefühl handelt und dies herauszuposaunen stellt für mich keinen moralischen Imperativ oder Wert an sich dar.
Ich persönlich würde es zwar auch hin und wieder durchaus als befreiend empfinden, wenn ich im Alltag etwas offener zugeben könnte, dass ich Einladung X ausschlage, weil ich keine Lust habe, dass Idee Y meines Chefs Blödsinn ist, dass ich keine Lust zum Arbeiten habe und dass ich mitnichten die sexistischen 50er-Jahre-Meinungen meiner geschwätzigen Nachbarin teile. Aber dann hätte ich Knatsch mit Tante Hildegard, eine Abmahnung und Hundekot im Briefkasten als Resultat. Da lüge ich lieber wie alle anderen auch.
Es gibt doch gerade so eine Fastenzeit Aktion von einer Kirche, bei der man in der ganzen Fastenzeit auf Lügen verzichten will. Ich frage mich wirklich, was man damit erreichen will. Ich werde doch kein besserer Mensch wenn ich auf "Guten Morgen" mit "Nein, es ist ein Scheiß Morgen" antworte. Das ist einfach nur unsozial und irritierend.
Natürlich sage ich meistens die Wahrheit wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, aber es gibt Situationen, in denen das einfach nicht angebracht ist. Was bringt es denn wenn ich jemanden sage, dass ich die neue Kurzhaarfrisur ganz schrecklich finde wenn ich weiß, dass sie sich dann nur unwohl fühlt und ihre Entscheidung bereut? So macht man sich nicht nur keine Freunde, man verletzt andere Menschen auch völlig unnötig. Muss nicht sein.
Vor kurzem habe ich erst in einem anderen Forum eine Diskussion zu diesem Thema verfolgt. Da bestanden einige User darauf, dass unbedingte Ehrlichkeit und jeglicher Verzicht auf Lügen und Flunkereien der einzig richtige Weg seien. Ich hatte damals schon versucht, dagegen zu argumentieren, aber ich bin dann gleich in den Ruf geraten, selbst ein Lügner zu sein. Dabei sehe ich es so wie Ihr: mit absoluter Ehrlichkeit kann man viele Menschen verletzen und kränken, und ich frage mich, ob das wirklich so positive Effekte hat.
Ich denke da beispielsweise noch an meine verstorbene Tante, die sich anscheinend zu Lebzeiten auch einer gewissen Ehrlichkeit verpflichtet gefühlt hatte. Bei jedem Treffen zwischen der Tante und meiner Mutter kam es zu Bemerkungen, die meine Mutter als Beleidigung oder Kränkung empfand. Sätze wie "Du wirst aber auch immer dicker" oder "Dein Kleid steht dir wirklich nicht gut!" waren zwar wahrscheinlich ehrlich gemeint, haben aber dazu geführt, dass meine Mutter den Kontakt zur ehrlichen Tante so weit wie möglich gemieden hat.
Ich selbst bin der Meinung, dass man im Alltag sicherlich öfter lügt, als man es eigentlich glaubt. Das müssen ja nicht mal sehr große Lügen sein, aber es fängt ja schon mit den Dingen an, wenn die Freundin eine neue Frisur hat, von der sie absolut begeistert ist. Einfach, um ihre Gefühle nicht zu verletzen, sagt man dann ja schon, dass man die Frisur auch ganz gut findet, auch, wenn sie eigentlich scheußlich ist. Vor allem dann, wenn sie die Frisur schon hat machen lassen, bleibt einem eigentlich kaum was anderes übrig. Vorher kann man vielleicht noch versuchen, seine Meinung ehrlich auszudrücken, dann verletzte man wenigstens keine Gefühle.
Ich denke also, dass es sehr hart ist, wenn man im Alltag wirklich nicht mehr lügt und ich glaube auch der Aussage der Leute, dass sie sich in der Zeit sehr unbeliebt gemacht haben beziehungsweise einigen Leuten vor den Kopf gestoßen haben. Es heißt ja nicht umsonst: "Wenn du nichts nettes zu sagen hast, solltest du den Mund halten". Das kann man sicherlich nicht immer und überall anwenden, aber bei manchen Situationen sollte man es einfach machen, da man sonst die Gefühle der anderen Leute verletzt. Außerdem muss man nicht immer zu allem und jedem seine "ehrliche" Meinung hinzugeben. Damit lebt man um einiges ruhiger, als wenn man immer den Mund aufmacht.
In meinen Augen ist das nicht wirklich umsetzbar, wenn man nicht gerade den dritten Weltkrieg provozieren möchte. Gewisse Flunkereien und Höflichkeitsfloskeln gehören nun einmal dazu, wenn man friedlich zusammenleben möchte. Das fängt schon damit an, dass man eben behauptet, das Baby XY total süß und niedlich zu finden oder die neue Frisur von Z total toll zu finden. Eine Kollegin von mir hat einen ziemlich merkwürdigen hippie-mäßigen Kleidungsstil, den ich schrecklich finde, aber das binde ich ihr auch nicht auf die Nase.
Ich glaube, dass vielen gar nicht so bewusst ist, wie häufig man im Alltag zu kleinen Notlügen und Flunkereien greift. Ich muss sagen, dass ich schon versuche ehrlich zu sein, wenn mich jemand nach meiner Meinung fragt. Wenn ich gar nicht danach gefragt werde, dann muss ich auch nichts sagen und brauche im Zweifelsfall auch keine Notlüge oder ähnliches.
Allerdings denke ich auch, dass es ganz ohne Flunkerei gar nicht geht und man sich dann wirklich unbeliebt und als unsympathisch gelten würde. Ich würde jemanden aber auch nicht auf etwas ansprechen, dass ich nicht schön finde, wie eben eine neue Frisur, eine neue Brille oder ähnliches. Da würde ich dann eben einfach gar nichts sagen, außer die Person bringt dies eben zur Sprache.
Ich sehe schon einen sehr großen Unterschied darin, jemandem die eigene Meinung ungefragt aufs Auge zu drücken, egal, wie hässlich sie sein mag oder der Beantwortung einer direkten Frage. Von zu vielen barmherzigen Lügen halt ich auch nichts, aber ich bin auch recht weit am anderen Ende des Spektrums und musste und muss immer noch das gesellschaftlich erforderte Taktieren und Lügen weiter erlernen.
Erst kürzlich habe ich jemanden recht massiv angelogen, weil ich nach einigem Nachdenken erkannt habe, dass die Wahrheit nichts ändern wird, abgesehen davon, dass man sich derer nie ganz sicher sein kann und die Person sich mit der Darstellung, die in meinen Augen der Realität entspricht, unnötig leiden würde. Grob gesagt ging es um ein eventuell zu verhinderndes Unglück, wo jemand vielleicht vor einem schweren Schicksal durch frühzeitiges Eingreifen hätte gerettet werden können. Hätte ich dann während eines solchen Experiments demjenigen die Wahrheit sagen sollen, was nur unnötiges Leid verursachen würde? Abgesehen davon, dass immer die Möglichkeit eines Irrtums besteht, egal, wie klein die Wahrscheinlichkeit auch sein mag.
Also habe ich in einem relevanten Punkt eine mutmaßliche Lüge erzählt, die die Sache in einem anderen Licht dastehen lässt und wo die Person nichts hätte tun können. Ob das wirklich so war, weiß ich selbst nicht hundertprozentig, vieles spricht dagegen, aber ich habe es als relativ sicheren Fakt dargestellt.
Solche Dinge musste ich überhaupt im Leben erstmal lernen, weil ich reflektorisch Leuten die Wahrheit gesagt habe, wenn das Thema drauf kam oder ich gefragt wurde. Von daher weiß ich, dass auch dieses gelebte "Die Wahrheit muss immer raus" nun alles andere als das Gelbe vom Ei darstellt. Ich fühle mich zwar etwas schlecht beim Lügen, bekomme Widerwillen und Aversionen, aber genau das ist der springende Punkt: Ich fühle mich beim Lügen schlecht, nicht der andere.
Manchmal haut man die Wahrheit auch einfach raus, weil das viel einfacher ist als ein Verschleiern der Realität. Ist das dann wirklich der barmherzigere, christlichere Weg? Ich bin mir da alles andere als sicher und halte diese ganze Aktion für ausgemachten Schwachsinn. Nicht umsonst ist das ein beliebtes Sujet in Filmen und Serien, wenn ein Charakter aus unterschiedlichen Gründen plötzlich zwanghaft die Wahrheit sagt, was regelmäßig zu heiteren Szenen und allerlei Trubel sorgt.
Ich habe persönlich noch kein solches Experiment gemacht, bei dem ich für einige Tage bewusst nur die Wahrheit gesagt habe. Ich denke jedoch, dass es sehr schwierig sein würde, da es viele Situationen gibt, in denen man aus höflichen Gründen oder um andere Menschen nicht zu verletzen, auch kleine Flunkereien sagt. Es ist eine feine Balance zwischen Ehrlichkeit und Taktgefühl, die man im Alltag finden muss.
Ich kann mir vorstellen, dass sich durch ein solches Experiment sowohl positive als auch negative Veränderungen ergeben könnten. Auf der einen Seite kann es dazu führen, dass man sich authentischer und offener fühlt und damit auch eine tiefere Verbindung zu anderen Menschen aufbauen kann. Auf der anderen Seite könnte es auch dazu führen, dass man sich isoliert oder unangenehme Konsequenzen erlebt, wenn man zum Beispiel ehrlich über seine Meinung zu einem wichtigen Thema spricht.
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