Aufkommender Empörung bewusst entgegensteuern?

Ich gebe zu, dass ich gegen Empörung nicht immun bin. Es ist manchmal sogar der erste Reflex, wenn jemand gegen mein moralisches Empfinden handelt. So war es bei der amerikanischen Superspreaderin in Garmisch, die durch Kneipen gezogen ist, obwohl sie Covid-19-Symptome hatte und auf das Testergebnis wartete.

Da ich den Tatbestand aber nur aus reißerischen Überschriften oder entsprechenden oberflächlichen Artikeln kannte, habe ich meiner Empörung bewusst entgegengesteuert, weil ich ja eigentlich gar nichts wusste, weder über die junge Frau, deren wirkliche Symptome, ob sie das Gesundheitsamt gut informiert hatte, wie ihre "Kneipentour" wirklich aussah und so weiter. Außerdem möchte ich nicht, dass Personen wie im Mittelalter an den Pranger gestellt werden. Am Schluss war ich eher darüber empört, wie die Medien darüber berichteten.

Empört ihr euch schnell? Steuert ihr bewusst dagegen? Wie schafft ihr es, ein angemessenes Urteil über die Dinge zu bekommen? Geht das gar nicht ohne vollständige Informationen? Sollte man sich gar keine Urteile bilden, wenn man nicht hundertprozentig informiert ist? Wann habt ihr euch das letzte Mal empört?

Über Themen, die ich in den Medien lese oder höre, empöre ich mich eigentlich nur selten, und wenn, dann höchstens dann, wenn ich davon persönlich stark negativ betroffen wäre. Abgesehen von solchen Fällen habe ich eigentlich nur wenig Neigung, mich zu empören. Das liegt unter anderem daran, dass ich den Zustand der Empörung als anstrengend und wenig hilfreich empfinde. Er entzieht mir Energie, ohne dass ich davon einen Vorteil hätte. Normalerweise beschränke ich mich in den meisten Fällen darauf, mich kurz zu wundern oder ggf. mein Unverständnis zu äußern, ohne mich weiter auf emotionaler Ebene damit zu befassen.

Gefühle wegzudrängen bringt ja erst mal nicht viel, aber oft lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wieso ich mich jetzt "empöre". In vielen Fällen habe ich auch bei mir schon festgestellt, dass ich eher von außen "empört werde, wenn man so will. Etwa durch tendenziöse Berichterstattung, unausgegorene Behauptungen oder gleich den guten, alten "Fake News". Deshalb bemühe ich mich (nicht immer erfolgreich, ich bin auch nur ein Mensch) vor der emotionalen Reaktion erst mal das Hirn anzuwerfen und mir die Situation genauer anzuschauen.

Ich habe sowieso den Eindruck, dass es nicht nur gesellschaftsfähig ist, sondern geradezu erwartet wird, sich mehr oder weniger ständig über irgend etwas zu "empören", sprich, zu jammern, zu schimpfen und zu meckern. Da diese Weltsicht nicht nur niemandem etwas bringt, sondern auch gesundheitsschädlich ist, versuche ich mich quasi eher dosiert zu empören. Oft genug sind ja nur niedere Motive wie Neid im Spiel. Ich habe Erwachsene erlebt, die sich darüber entrüstet haben, in der Apotheke kein Werbegeschenk zu bekommen, oder darüber, dass obdachlose Menschen nicht unter der Brücke erfrieren. Ihnen schenke ja schließlich auch keiner was. Und so verbittert möchte ich mein Leben nicht verbringen.

Ich habe außerdem den Eindruck, dass die Tendenz zur Empörung zu einer allmählichen Verstärkung neigt. Wer erst einmal damit angefangen hat, sich über fast jede Pressemeldung aufzuregen, der scheint tendenziell immer leichter aufzubrausen, selbst bei geringem Aufregungspotenzial. Bei einem Bekannten von mir beobachte ich das schon länger, und eigentlich schadet er sich nur selbst damit. Vor lauter Ärger knirscht er mit den Zähnen und der Blutdruck steigt. Dass aber der Ärger oft in ihm selbst entsteht und ihm eigentlich nicht von außen aufgezwungen wird, scheint er bislang nicht zu erkennen. Vor allem, da die meisten Aufregerthemen ihn sowieso gar nicht wirklich tangieren.