ADHS eine Modeerscheinung - in früheren Zeiten auch schon?

vom 02.09.2016, 21:24 Uhr

Seit Jahren streiten sich Wissenschaftler, Pädagogen und Eltern, ob das Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätssyndrom nun tatsächlich existiert oder ob es eine Modediagnose ist; eine Entschuldigung für schlecht erzogene Kinder. 1994 wurde es in die Liste der psychischen Störungen aufgenommen, aber eine Diagnose ist extrem schwer. Dennoch wird sie tagtäglich gefällt.

Dabei gibt es Überlegungen, ob es genetische oder neurologische Ursachen gibt. Umweltgifte, Rauchen und Alkohol in der Schwangerschaft sind ebenso im Verdacht. Viele sind aber auch der Meinung, dass es einfach ein Erziehungsproblem ist. Dass Lehrer und Eltern überfordert sind. Mit der Diagnose fühlen sie sich dann nicht mehr schuldig und Ritalin macht das Kind erträglicher.

Dabei stellt sich aber auch die Frage, ob das Verhalten eines als hyperaktiv bezeichneten Kindes nicht vielleicht ganz normales kindliches Verhalten ist, das aber leider nicht in die heutige Zeit passt. Dass Kinder zu wenig Bewegung bekommen, dass sie immer still und brav sein müssen.

Sollte letzteres stimmen, frage ich mich aber, ob das nicht früher noch viel schlimmer war. Nicht in der jüngeren Geschichte, in der - vereinfacht gesagt - die Kinder der Hippiegeneration alles durfte. Aber die Kindererziehung hat ja eine enorme Entwicklung durchlebt.

Ganz früher wurden Kinder schon sehr früh als kleine Erwachsene und damit billige Arbeitskräfte angesehen. Gut, da bleibt keine Kraft mehr für jegliche Hyperaktivität. Die Kinder der gehobenen Gesellschaft verbrachten ihre Zeit aber unter der Obhut von Kindermädchen, die doch sicherlich nicht mit ihnen gespielt haben. In der Schule regierte der Rohrstock.

Also meine Vorstellung von früherer Kindererziehung ist definitiv von Stillsitzen geprägt. Davon, dass Kinder nichts durften. Allein ihre Kleidung entsprach der Kleidung Erwachsener und war sicher nicht dazu gedacht, schmutzig zu werden.

Da frage ich mich doch, ob die Oberschicht bei dieser Art der Erziehung nicht bereits enorme Probleme mit auffälligem Verhalten hatte. Da ADHS heutzutage hauptsächlich Jungen betrifft, könnte es früher aber mehr geduldet worden sein, wenn sich dieses auffällige Verhalten beispielsweise im ständigen Ärgern der kleinen Schwester äußerte. Dass diese als Mädchen weniger Rechte hatte und vom Bruder ruhig gezüchtigt werden konnte. Oder sie vergingen sich an ihrem Pony, was damals ja auch kein großes Problem darstellte. Was sagt ihr zu diesen Überlegungen? Ist euch da irgendetwas bekannt?

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» Bienenkönigin » Beiträge: 9448 » Talkpoints: 19,93 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



So sehr hat man Kinder früher gar nicht gefordert, wenn man von "besseren" Familien ausgeht. Eine flächendeckende Schulpflicht haben wir erst seit ungefähr 100 Jahren, davor gab es Absichtserklärungen und keine Schulen, kein Material und keine Lehrer.

Wenn man beispielsweise das viktorianische Zeitalter nimmt, dann waren die Kinder zwar immer angezogen wie kleine Erwachsene und wurden stolz wie Püppchen präsentiert, aber das war nur selten der Fall. Damals war die Nursery modern. Das war eine ganze Zimmerflucht nur für die Kinder. Dort gab es riesige und gut ausgestattete Spielzimmer, das Schulzimmer und Schlafräume.

Bis zum 6. Geburtstag wurden Mädchen und Jungen gleich behandelt, sie hatten auch Spielkleidung. Gekümmert haben sich Ammen und Kindermädchen, die Eltern schauten nur kurz herein. Es gab keine gemeinsamen Mahlzeiten, die Kinder wurden immer nur kurz vorgeführt und dann wieder weggeschickt.

Mit 6 Jahren veränderte sich nicht viel, jetzt gab es nur auch Unterricht. Erst mit 11 oder 12 Jahren gingen Jungen ins Internat. Mädchen blieben im Elternhaus. Und natürlich gab es damals schwierige Kinder. Aber die waren das Problem des Personals. Es gab Familien, da wollte kaum jemand arbeiten und die Fluktuation war groß.

» cooper75 » Beiträge: 13423 » Talkpoints: 517,99 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


Ich denke in die Diagnose wird man heute einfach zu schnell geschubst und nicht alles was als ADHS deklariert wird ist auch eine waschechte ADHS. Denn es fängt doch schon in der Schule an, will das Kind nicht still sitzen und ist dort etwas vorlaut, dann kommen die Lehrer auf einen zu und meinen direkt das es das sein könnte. Damit sucht man den Kinderarzt auf der das Kind wenige Minuten sieht und dann direkt seine Diagnose fällt und damit die anderen Kinder in der Schule nicht gestört werden gibt es dann das nette Ritalin.

Aber sich einfach mal Gedanken machen ob das Kind vielleicht unterfordert sein könnte oder auch überfordert, darauf kommt so wirklich niemand. Wenn man diese Diagnose erst einmal an der Backe hat, dann ist es ohnehin schwer sich dagegen zu wehren. Wenn ich an meinen Ex Partner denke, dieser hat auch den ADHS Stempel aufgedrückt bekommen und wurde entsprechend ruhig gestellt in der Schule.

Der Mutter war es mehr oder weniger egal was abgeht und war mehr Unterwegs als Zuhause. Im Prinzip hat er kein ADHS er wollte mit seinen schlechten Leistungen in der Schule und anderen Auffälligkeiten einfach nur die Aufmerksamkeit der Mutter, die doch lieber ihr eigenes Leben gelebt hat. Als er gemerkt hat das dort auch so nichts kommt, hat er sich andere Bezugspersonen gesucht die sich um ihn gekümmert haben und zack alles war weg. Der Stempel ist dennoch geblieben und steht auch heute noch in seiner Akte so drinnen.

Anders sieht es doch heute auch nicht aus, es ist einfach und bequem einfach das aufzuschreiben was die Mütter, Lehrer und sonstigen Leute alles fordern. Daher machen sich auch viele Ärzte gar keinen Kopf mehr oder gehen der genauen Ursache auf die Forschung. Ist doch alles nett Standardisiert und wenn einer halt mal nicht in dieses Schema passt, dann ist es halt ein bedauerlicher Einzelfall, mehr aber auch nicht.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge



Wer einmal ein Kind mit einer echten ADS Diagnose erlebt hat, wird nicht mehr hinterfragen, ob das eine wirklich existierende Störung darstellt. Aus meiner eigenen Kindheit oder Jugend habe ich so ein Verhalten nie erlebt, auch wenn es das sogenannte Zappelphilipp Syndrom bekanntermaßen schon lange gibt. Eine Reihe von Wissenschaftlern und Autoren hat schon vor über hundert Jahren menschliche Verhaltensmuster beschrieben, die jenen ähnlich den heutigen Definitionen von ADHS sind.

Gerade in Deutschland wurden schon im achtzehnten Jahrhundert ADS-ähnliche Krankheiten oder Verhaltensweisen beschrieben. Es gibt Überlieferungen, die Beschreibungen von ADS-ähnlichen Verhaltensweisen beinhalten. Viele der dort gelisteten Symptome sind in Einklang mit der heutigen ADS Diagnose zu bringen, so zum Beispiel der Fokus auf die viel zitierte Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen, sowie der Schwierigkeit einer längeren Arbeit nachzugehen, nicht zu vergessen die extrem leichte Ablenkbarkeit.

Auch auf die Unmöglichkeit dem Syndrom mit diversen Bestrafungen beizukommen, wurde schon damals im pädagogischen Bereich hingewiesen. Es wurden Kinder beschrieben, die ernste Probleme mit anhaltender Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle hatten. Sie galten oft als aggressiv, waren trotzig und absolut resistent gegen jegliche Form der Disziplin. Was genau diese Disziplin beinhaltete, möchte man sich jetzt hier gar nicht mehr vorstellen. Das hat die Krankheit sicher nur immer schlimmer gemacht, denn ADS Kinder brauchen viel Ruhe und Stabilität, keine Strafen.

Die Kleinen wurden als über die Maßen emotional unausgewogen beschrieben und litten an einem Mangel der Überschaubarkeit von Folgen ihres Handelns, obwohl sie von normaler Intelligenz waren. Das alles trifft die Diagnose eines Aufmerksamkeit-Defizit-Syndroms schon ziemlich gut. Ungeachtet dessen glaube ich nicht, dass die Anzahl der Diagnosen nur wegen einer Modeerscheinung so angestiegen sind. Die Behandler und Ärzte wissen schon, worauf sie zu achten habe, um die richtigen Patienten zu detektieren.

Schon früher wurde einer biologischen bzw. genetischen These der Vorzug gegenüber der soziologischen oder psychologischen gegeben. Warum die Anzahl der Betroffenen die letzten Jahre bzw. zwei bis drei Jahrzehnte so gestiegen ist, ist mir auch nicht bekannt. Aber das Phänomen als solches hat es auch früher schon gegeben, möglicherweise ja immer schon.

» Verbena » Beiträge: 4964 » Talkpoints: 2,63 » Auszeichnung für 4000 Beiträge



Für mich ist ADHS auch nur eine Bezeichnung für schlecht erzogenen unausgelastete Kinder. Ich arbeite selber an einer Schule und die Kinder die ADHS diagnostiziert bekommen haben sind alles Kinder aus der Unterschicht, die zuhause nur vor ihrem Smartphone sitzen anstatt zum Sportverein zu gehen und die auch kein Frühstück mit in die Schule bekommen.

Das man sich dann nicht gut konzentrieren kann und seinen Bewegungsdrang unpassenderweise in der Schule nachgeht ist für mich nicht dann nicht verwunderlich.

» Sternenbande » Beiträge: 1860 » Talkpoints: 70,16 » Auszeichnung für 1000 Beiträge


Ich arbeite als Pädagogin in der Kinder- und Jugendhilfe und durfte mit einigen Kindern arbeiten, bei denen ADHS diagnostiziert wurden ist und auch bei einigen Bekannten wurde ADHS bei ihren Kindern diagnostiziert. Ich denke, dass es zwei Dinge zu berücksichtigen gibt. Zum einen das heutige, frühe Interesse an Medien und zum anderen ist die Diagnose ADHS einfach "leicht".

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann denke ich nicht an Handys, Spielkonsolen oder den Fernseher. Ich denke da eher an lange Fahrradtouren mit meinem Vater, viele Ausflüge in die Natur, Toben im Regen, Pfützen, Schlamm, Bäume zum Klettern und viele andere Dinge oder Aktivitäten. Wenn man nun die Jugend heute im Gegensatz dazu sieht, dann sind die Kinder ja schon fast "out", wenn sie kein Handy haben. Ein bisschen trägt wohl auch die moderne Zeit dazu bei, dass die Kinder mehr sitzen. Es wird ja teilweise schon in den Schulen häufig an Tabletts gearbeitet.

Somit sollte man vielleicht erstmal damit anfangen die Kinder wieder mehr auszulasten, anstatt alles mit Tabletten zu regeln. Wobei es wirklich auch Kinder gibt, die Probleme dabei haben, sich zu konzentrieren und denen die Medikamente wirklich helfen können, in der Schule den Unterrichtsinhalten folgen zu können. Ich lege immer viel Wert darauf mit den Kindern tagsüber unterwegs zu sein. Auch zu Hause kann man die Medienzeit etwas reduzieren oder bestimmte Zeiten für die Kinder festlegen. Natürlich sollte man selbst auch aktiv sein und die Kinder motivieren etwas unternehmen zu wollen.

Die Diagnose ADHS kommt nun häufiger vor, wozu der hohe Medienkonsum sicherlich auch seinen Teil beträgt und natürlich wird es auch immer einfacher bequem zu leben. Essen wird nach Hause geliefert und Kinder werden teilweise gemobbt, wenn sie nicht die neusten Medien besitzen oder Markenkleidung tragen. Somit gibt es sicherlich Fälle, bei denen den Kindern mit einer guten Diagnostik geholfen werden kann, ich bin jedoch auch der Ansicht, dass man durch eine gute Auslastung auch viel erreichen kann.

Nun noch einmal zu der Aussage, dass es viel mehr Jungen mit der ADHS Diagnostik gibt. Es gibt auch genug Mädchen mit der Diagnostik. Jedoch sind Mädchen im Gegensatz zu Jungen eher "zurückhaltender" in dem Alter, wo die meisten Diagnostiken gemacht werden. Mädchen toben weniger, kämpfen nicht und sind einsichtiger, wird häufig gesagt. Aber zum Glück ist jedes Kind ein Individuum.

» Ela123 » Beiträge: 872 » Talkpoints: 5,39 » Auszeichnung für 500 Beiträge


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