Wann und warum vor der Realität flüchten wollen?
Es kommt ja durchaus vor, dass Menschen vor der Realität flüchten (wollen) und nicht wirklich registrieren, was um sie herum passiert. Das kann aus verschiedenen Gründen der Fall sein. So will man manche Dinge vielleicht auch nicht wahr haben, weil man sie nicht verkraften würde. Gab es schon Situationen, in denen ihr vor der Realität flüchten wolltet? Oder käme das für euch grundsätzlich nicht in Frage? In welchen Situationen könntet ihr so ein Verhalten nachvollziehen oder könnt ihr das grundsätzlich nicht?
Ich hatte schon immer gewisse Tendenzen zur Realitätsflucht, und glaube auch nicht, dass ich damit alleine dastehe. Ich stelle bei mir schon von Kindheit an fest, dass ich oft genug mehr Zeit in meinem eigenen Kopf und bei fiktionalen Gestalten verbringe als in der oft recht drögen Außenwelt. Wenn man es ganz genau nimmt, ist ja beispielsweise die ganze Unterhaltungsindustrie vom Computerspiel über "leichte Lektüre" bis zum Konzert- oder Musicalbesuch nichts weiter als Realitätsflucht.
Schließlich befasst man sich ja nicht mit seiner Steuererklärung, während man mit Frodo zum Schicksalsberg unterwegs ist oder kämpft im Kinosessel sitzend gegen die Umweltverschmutzung. Und wenn man jubelnd die Arme hochreißt und die Katze zu Tode erschreckt, weil ein junger Bursch einen Ball in die richtige Richtung tritt, verrostet davon auch keine Kanone.
Von daher sehe ich es mit der "Realitätsflucht" nicht wirklich eng. Gerade die Leute, die sich mit den hässlicheren und anstrengenderen Aspekten der Realität auseinandersetzen, haben auch mal eine Pause verdient, und unter dem Strich profitieren alle davon, wenn jemand nach einem Besuch in Hogwarts, Entenhausen oder Phantásien wieder mit mehr Schwung und Elan seinen Alltagstätigkeiten nachgeht.
Ich hatte das durchaus schon. Ich war jung, war absolut schüchtern, hatte einen schweren Stand in meiner Klasse und da habe ich dann in meiner Freizeit auch Szenarien ausgedacht wie schön alles sein könnte und so weiter. Richtig geflüchtet bin ich vom Kopf her. Das ist sicherlich ein gewisser Selbstschutz, immerhin hält die Seele auch nicht alles aus und die Seele flüchtet dann um sich am Leben zu erhalten. Mittlerweile bin ich glücklich genug um so etwas nicht mehr zu haben.
Wenn ich ein Buch lese, dann habe ich auch oft Lust dazu, bewusst vor der Realität zu flüchten und stattdessen in die Fantasiewelt einzutauchen. Auch wenn ich absolut glücklich und zufrieden mit der Realität bin, ist es oft so, dass ich dann einfach quasi dem Alltag entfliehen und in eine andere Geschichte eintauchen möchte. Ein gutes Buch ist für mich auch eines, das mich alles um mich herum vergessen lässt, so dass ich völlig in die andere Geschichte eintauchen kann.
Das ist für mich also einfach nicht schlimm, sondern zur Abwechslung einfach nett. Wenn man eine gute Serie schaut, fiebert man da ja auch richtig mit und fühlt sich quasi als Teil dieser Welt. Das ist für mich völlig in Ordnung und normal so, da es ja auch das Ziel von Serien und Büchern ist.
Manchmal schwelge ich auch einfach so in Tagträumen und male mir aus, wo ich sein oder was ich tun könnte. Ich male mir dann auch aus, wie es wäre, wenn ich auf irgendeiner Insel leben würde oder dergleichen. Ich mache das aber eben alles bewusst und ich finde es auch einfach entspannend, mal hin und wieder für kurze Zeit aus dem Hier und Jetzt entkommen zu können.
Ich finde es auch nicht schlimm mal von der Realität etwas Abstand gewinnen zu können, dafür ist der Alltag auch manchmal schon anstrengend genug. Ich habe da so noch nie so genau betrachtet, aber ich kann dem nur zustimmen, dass allein das Eintauchen in einen Film, schon eine Form der Realitätsflucht ist. Auch das Träumen ist für mich ganz klar eine Form um vor der Realität zu flüchten. So kann die Seele sich in irgendwelchen willkürlich aufkommenden Traumsequenzen sich dem stressigen Alltag entziehen und wieder neue Kraft schöpfen, zumindest solange es kein Alptraum ist. Wenn man dann noch in der Lage ist, seine Träume selbst steuern zu können, Schlagwort "luzides träumen", dann wäre man sogar in Lage, bewusst im Traum aus der Realität fliehen zu können.
Der Alltag ist für die große Masse wohl eher stressig und manchmal auch anstrengend, aber es gibt nun mal auch Menschen, für die ist selbst hier in Deutschland, jeder Tag ein Kampf und grade diese Menschen suchen dann ganz andere Möglichkeit von der Realität zu fliehen. Diese Menschen wollen dann tatsächlich aus der Realität fliehen weil sie es dort nicht mehr aushalten und greifen in diesem Zusammenhang dann zu Alkohol und Drogen. Auch diese Menschen fliehen, nur mit dem Unterschied, dass die große Masse da eher seine Akkus wieder mit auflädt und diese Menschen für die Flucht aus der Realität ihr Leben aufs spiel setzen und das bewusst.
Wann und warum man vor der Realität flüchten will, mag zwar recht interessant sein, aber die Frage nach dem "Wie" finde ich wesentlich interessanter. Das Wann finde ich nicht wichtig, aber das Warum bekommt mit dem Wie plötzlich eine völlig andere und tiefere Bedeutung.
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