Erfahrungen mit beruflicher Neuorientierung
Ich höre immer diesen Spruch, dass alles vorbei sei mit 40 aufwärts etc. Nun wollte ich nachfragen, ob es ein Mythos ist. Es hört sich alles sehr schrecklich an. Manche Menschen aus meinem Umfeld meinen, dass es nicht immer unbedingt der Fall ist und es auch Leute die Ü40 sind, eine Anstellung bekommen. Die Anzahl ist sehr wenig, aber die gibt es tatsächlich. Da es Menschen gibt, die wieder in ihren Beruf einsteigen, sich vielleicht nochmal umschulen, sich Selbstständig oder eine Weiterbildung machen. Ich bin etwas beängstigt und wollte einen Workshop besuchen, um mir den Einstieg zu erleichtern. Ich bin etwas planlos und wollte umsatteln oder ist der Zug für mich bereits abgefahren (35Jahre)? Hat denn jemand ähnliche Erfahrungen gemacht?
Der Zug ist dann abgefahren, wenn man sich nicht dahinter klemmt und jammert anstatt etwas zu tun. Zu dir genau kann dir hier wohl niemand etwas sagen, da dich keiner kennt und auch keine weiteren Informationen zum Lebensstand gesagt worden ist. Selbstständigkeit schmeckt nicht jedem, nicht jeder ist dafür gemacht da man viel investieren und aufgeben muss. Da ist es nicht mit 30-40 Stunden die Woche getan, viele haben da eine Arbeitswoche von 100 Stunden und mehr und auch für Durststrecken muss finanziell ein Polster da sein, man braucht eine passende Idee, einen anständigen Plan und vor allem Rückhalt. Fehlt dieser und dein Umfeld quatscht dir nur rein, dass du nie Zuhause bist, Arbeit wichtiger ist und solche Dinge, dann ist das eher nichts.
Aber aus diesem Grund gibt es entsprechende Seminare, Berater und auch Workshops. Ich habe nun auch keine Ahnung was du dir ausgesucht hast, wenn es ein Workshop ist der wie eine Versicherung geht, bei der du "heiß" gemacht wirst reich werden zu können indem du in Strukturvertrieben etwas verkaufst, dann ist das Augenwischerei. Damit werden die oben reich aber der kleine Mann unten nicht. Aber so sind leider viele, von daher muss man auch da die richtigen aussuchen und selektieren.
Aber zunächst sollte man mal wissen, in welche Richtung man gehen möchte, was die eigenen Ziele sind und vor allem die Interessen. Es bringt nichts, wenn du dich Umschulen lässt auf einen Beruf der hinterher auch keine Zukunft hat und dich nicht vom Arbeitsamt weg bekommt, wenn du Arbeitslos bist. Auch einfach etwas machen damit man was macht, wird auf die lange Sicht dir nichts bringen als Frust. Schaut man auf die Umschulungen vom Arbeitsamt, dann sind diese auch nicht alle dafür da, dass die Leute hinterher in Lohn und Brot kommen, sondern nur damit sie eine Zeitlang in der Statistik der Arbeitslosen nicht auftauchen.
Aber um klare Worte zu sagen, ich habe mit 18 Jahren etwas gelernt. War 12 Jahre in diesem Beruf, der mir Freude gemacht hat aber finanziell wenig eingebracht hat. Man lebte von der Hand in den Mund. Meine Situation hat sich geändert, es kam Familie mit dazu, mehr Ausgaben gleiches Einkommen, dazu passten die Rahmenbedingungen nicht mehr. Entsprechend habe ich mir etwas neues gesucht und sitze seither in diesem Beruf.
Meine Selbstständigkeit betreibe ich als "Hobby" nebenbei und auch aus diesem heraus ist es entstanden, ich könnte davon sehr gut leben wenn ich nur das machen wollte, aber will ich nicht. Aber auch in dieser gab es Rückschläge, finanzielle Engpässe aber da immer noch ein anderer Job vorhanden war, konnte sich das ausgleichen. Heute steht die Firma bombig dar, aber nicht weil ich da nur 2 Stunden die Woche was gemacht habe, da habe ich sehr viel Freizeit investiert und mit meinem Hauptjob zusammen habe ich heute noch eine 80 Stunden Woche, zusammen mit einem kleinen Kind als Alleinerziehende.
Wenn man was möchte und sich dahinter klemmt, motiviert ist und auch die richtige Wahl mit dem Beruf oder einem Studium setzt was hinterher auch Chancen hat, dann hat man auch mit Ü40 oder Ü50 Chancen auf einen Job. Leicht gemacht wird es dir heute so oder so nicht, egal ob du 20 bist oder auch 30 oder 40.
Mein Ex Partner ist nun Mitte 30, nie eine Ausbildung gemacht, wusste nie was er werden will, beschissener Hauptschulabschluss gerade so geschafft, hinterher bei der Bundeswehr immer Soldat auf Zeit gewesen bis sie ihn nicht mehr behalten haben. Keine tollen Voraussetzungen und nun hat er einen Beruf gefunden der ihm gefällt und er hat sich mal in die Gänge gesetzt mit Bewerben, Vorstellungsgesprächen, Probearbeiten und Co. Und obwohl er ein alter Knochen ist mit schlechten Zeugnissen (auch die Dienstzeugnisse aus all den Jahren sind bestenfalls ein Ausreichend), hat er mehrere Unternehmen die in ihren Ausschreibungen höhere Anforderungen gestellt hatten als er mitgebracht hat, von sich überzeugt ihm eine Ausbildung zu geben und er hatte nun die freie Wahl.
Vorher war das auch eher ein dümpeln und suhlen im Selbstmitleid, dass der Abschluss so schlecht ist. Weitere Qualifikationen wollte man nicht machen "Bringt ja eh nichts" und solche Dinge habe ich mir lange angehört. Er musste halt erst das richtige finden was seine Interessen auch abdeckt damit er in die Gänge kommt. So motiviert habe ich ihn in der kompletten Beziehung nicht gesehen und auf einmal konnte er seinen Papierkram auch alleine machen, was vorher immer ich machen musste. Vielleicht ist es bei dir auch so und du weißt einfach noch nicht das richtige und brauchst erst das, damit du auch weißt wohin es mit dir weiter geht.
Mein Erzeuger hat sich Selbstständig gemacht mit 55 Jahren, ist ausgestiegen bei einem großen Unternehmen in dem er vorher 30 Jahre lang Angestellt war. Durststrecken gab es dort nicht eine, er ist soweit spezialisiert gewesen, dass es neben ihm nur noch 2 weitere Menschen auf der kompletten Welt mit dem Wissen gab. Die Aufträge flogen nur so zu und als ich den letzten Kontakt mit ihm hatte, hat er nur ab und an noch etwas gemacht wenn ihm Langweilig wurde. Mit einem Stundensatz, den andere nicht mal im Monat oder halben Jahr verdienen und es wird bezahlt, da der Markt da ist und das Angebot gering. Ob er heute noch was macht keine Ahnung, nötig hatte er das nicht mit der Selbstständigkeit es war eher eine Laune heraus, dass er da mit seinen alten Arbeitgeber noch abklatschen wollte und ihm die Kunden entrissen hat.
Also beruflich neu orientieren kann man sich in jedem Alter und wenn man ein wenig Erspartes auf der Seite hat, dann ist man auch gar nicht auf die anderen angewiesen, sondern macht einfach noch mit fast fünfzig Jahren die Studienberechtigungsprüfung, anschließend den Bachelor, den Master und wenn man noch genug Geld auf der Seite hat, den Doktor.
Dies hat meine Tante so gemacht. Mit meiner Hilfe hat sie die Studienberechtigungsprüfung gemacht und hat sich nachher wirklich ins Zeug gelegt um den Bachelor und den Master of Science zu machen. Nun arbeitet sie in der Schweiz und verdient sich eine goldene Nase in einem Unternehmen, welches ihr sehr gefällt.
Jahrzehntelang hat sie unter ihrem Job gelitten, wurde unterdrückt und gemobbt. Aber sie hat sich nicht von ihren Zielen abbringen lassen und jetzt hat sie die Belohnung dafür. Ich meine auf dem Arbeitsamt schauen sie dich immer schräg an, wenn du mit einer Umschulung kommst. Dann heißt es meistens: Aber in dem von dir gelernten Jobs da gibt es doch so viele freie Arbeitsplätze, wir zahlen keine Umschulung.
Deshalb ist es ja so wichtig, dass man selber etwas Geld auf der Seite hat und sich so eine Umschulung oder Weiterbildung selber bezahlen kann. In Österreich gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, in Bildungskarenz zu gehen. Wenn man mindestens vier Jahre in einem Betrieb gearbeitet hat, dann darf man Teilzeit arbeiten und bekommt trotzdem über einen gewissen Zeitraum das volle Gehalt.
Man muss sich einfach informieren, was es alles für Möglichkeiten gibt. Es kann sogar sein, dass man gewisse Umschulungen sogar vom Arbeitgeber bezahlt bekommt. Die Zeit, die man dann bei der Arbeit fehlt muss zwar meistens eingeholt werden, aber trotzdem wäre es eine Alternative, dass man sich das vom Arbeitgeber bezahlen lässt.
Möchte man jetzt eine komplette Umschulung machen, also als absoluter Quereinsteiger, was gar nichts mit dem erlernten Beruf zu tun hat, wird es schwer werden. Artverwandte Berufe sind aber nicht einmal so kompliziert. Ich arbeitete damals mit meiner pädagogischen Ausbildung beispielsweise in der Betreuung für Menschen mit Lernschwäche. So etwas ist durchaus möglich.
nordseekrabbe hat geschrieben:Möchte man jetzt eine komplette Umschulung machen, also als absoluter Quereinsteiger, was gar nichts mit dem erlernten Beruf zu tun hat, wird es schwer werden. Artverwandte Berufe sind aber nicht einmal so kompliziert. Ich arbeitete damals mit meiner pädagogischen Ausbildung beispielsweise in der Betreuung für Menschen mit Lernschwäche. So etwas ist durchaus möglich.
Da muss ich dir leider widersprechen. Es kommt darauf an was man macht und wie gefragt das ganze ist und natürlich auch, wie gut man darin ist. Ich habe BWL studiert, hat mit Rettungsdienst und Medizin herzlichst wenig gemeinsam. Klar war es nicht einfach ohne Basiswissen aber der Wille war da es zu schaffen, man hat mehr investiert weil man noch die Basis lernen musste die andere schon hatten die die Grundlage hatten, aber es ist nicht unmöglich oder gar schwerer. Viel eher neigen Leute dazu sich auszuruhen wenn sie sich überlegen fühlen oder "alles Wissen" oder sind unbelehrbar und unempfänglich für etwas neues. Die, die bei mir ausgesiebt wurden im Studium und es nicht schafften, waren sich zu sicher mit ihren Grundlagen und Besserwissen aufgrund von gelernten Dingen vor zig Jahren, die schon lange wieder veraltet waren.
Schau ich in mein Unternehmen, dann sitzt hier einer im oberen Führungsmanagment der gelernter Zimmermann ist. Hat herzlichst wenig gemeinsam mit einem Unternehmen, welches Schaltungen, Steuerungen und Getriebe vertreibt. Der gute war Selbstständig und hat alleine aufgrund dieser Zeit die Eigenschaften und Fähigkeiten sich angeeignet, die ihn für mich wertvoll und interessant gemacht haben, dass ich ihn haben wollte. Ganz ohne Wisch, Zettel und Schein, Umschulung, Studium und Branchenfremd leistet er eine hervorragende Arbeit, da er sich auf neue Dinge schnell einstellt, schnell lernt und dazu noch auf seine Lebenserfahrung von früher zurück greifen kann.
Nur ein Beispiel, bei mir arbeiten viele die nicht das machen was sie mal gelernt haben auch ohne Umschulungen, einfach aufgrund ihrer Fähigkeiten mit denen sie mich überzeugt haben. Meine Sekretärin ist gelernte Goldschmiedin, in der Produktion hat ein Landschaftsgärtner das sagen als Vorsteher, in der Entwicklung sitzt ein gelernter Schäfer. Bis ich diese Bewerbung bekommen hatte, wusste ich nicht mal das Schäfer ein anerkannter Ausbildungsberuf ist.
Man kann, man braucht auch hier nur den entsprechenden und richtigen Markt, muss sich verkaufen und vermarkten können und vor allem Überzeugen. Die Zeugnisse interessieren mich in manchen Bereichen herzlichst wenig, auch der Werdegang sondern eher wo derjenige hin möchte, sich in 5 Jahren sieht und ob er geeignet ist. Manch einen studierten Bewerber der bei mir anfangen wollte, den hätte ich nicht mal als Reinigungskraft angestellt, da es einfach nicht stimmig war und selbst 15 Punkte und 1er, Masterabschlüsse und Doktorarbeiten konnten mich vom Gegenteil nicht überzeugen.
Sorae hat geschrieben:Der Zug ist dann abgefahren, wenn man sich nicht dahinter klemmt und jammert anstatt etwas zu tun.
Das sehe ich genauso. Das Alter spielt meiner Ansicht nach hierbei so gar keine Rolle, weil man immer einen Neustart wagen und schaffen kann, vorausgesetzt man bleibt am Ball und bringt genügend Disziplin und Durchhaltevermögen mit.
In meinem Leben bin ich schon Menschen begegnet, die selbst kurz nach dem Abschluss der Ausbildung der Ansicht waren, dass der Zug abgefahren sei und man nun nichts mehr lernen könnte und die berufliche Neuorientierung zu spät wäre. Dann kam immer das Gejammer, dass man sich in der Schule mehr hätte anstrengen müssen und es nun zu spät sei. So ein Gejammer ertrage ich nicht. Man kann alles schaffen, wenn man das nur möchte.
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