Einem Suchtkranken den Alkohol verordnen?

vom 05.12.2017, 12:30 Uhr

Eine Freundin arbeitet in einem Seniorenheim. Dort hatte sie nun einen älteren Mann, der Alkoholiker war und noch dazu aggressiv und gewalttätig gegenüber dem Pflegepersonal war. Meine Freundin sagte, dass wegen ihren Patienten auch zwischendurch eine Neurologin und Psychiaterin auf die Station kommen würde. Diese hätte dann dem Alkoholkranken Patienten den Alkohol quasi verschrieben und bestimmt, dass er jeden Tag eine Ration erhalten sollte.

Meine Freundin war darüber empört und meinte, dass das Pflegepersonal den Alkohol für den Patienten nun besorgen müsste und wie man denn so etwas als Arzt verordnen könnte. Ich frage mich aber, ob man bei einem älteren Menschen, der pflegebedürftig ist, noch einen Entzug machen kann bzw. ob das denn überhaupt möglich ist. Vielleicht erhofft sich die Ärztin, dass es im Rahmen bleibt, wenn er den Alkohol rationiert bekommt, aber mir kommt das auch irgendwie komisch vor, so als würde es sich die Ärztin in dem Fall sehr einfach machen.

Habt ihr schon erlebt, dass bei einem Suchtkranken der Alkohol quasi verordnet wurde? Gibt es nicht auch bei älteren Menschen die Möglichkeit eines Entzuges? Ist es nicht vielleicht möglich, dass der ältere Mann keinen Entzug machen möchte und deswegen der Alkohol rationiert wird?

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» Nelchen » Beiträge: 32238 » Talkpoints: -0,25 » Auszeichnung für 32000 Beiträge



In anderen Ländern ist man längst davon abgekommen, Alkoholiker entweder unkontrolliert saufen zu lassen oder einen kompletten Entzug zu verlangen. Dass unser rigoroses System nicht funktioniert, beweisen die absurd hohen Zahlen der Rückfälle. 80 Prozent sind bereits nach einem Jahr wieder Trinker,, im zweiten Jahr kommen noch einmal weit über 10 Prozent dazu.

Anderswo stellt man Alkoholiker auf eine akzeptable Trinkmenge ein. So können sie ihren Alltag normal gestalten, einer Arbeit nachgehen, Familie haben und sie ruinieren sich nicht völlig die Gesundheit. Diese Therapie halten die meisten durch, viele schaffen es sogar, das Endziel zu erreichen und werden über Jahre trocken.

Was ist so schlimm daran, einen Senioren in einem für ihn erträglichen Zustand zu halten? Er wird durch einen Entzug nicht viel Futter oder älter werden. Ohne Alkohol ist er nicht einmal fähig zu einer Therapie. Aber irgendwelche Medikamente, die ihn ruhig stellen, sind natürlich eine bessere Alternative. :wall:

» cooper75 » Beiträge: 13411 » Talkpoints: 515,76 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


Man darf auch nicht vergessen, dass das früher, vor der Einführung von Antabus, sogar in normalen Krankenhäusern eine gängige Praxis gewesen ist. Da gab es dann auf einer größeren internistischen Station für die alkoholkranken Patienten eine Kiste Bier und im Behandlungsblatt stand sogar die diesbezügliche Verordnung drin.

Du weißt ja nicht, welche Medikamente er sonst noch bekommt, gerade ältere Patienten nehmen manchmal eine ganze Armada Pillen, möglicherweise würden sich einzelne davon auch nicht mit den entsprechenden Medikamenten, die die Rezeptoren im Hirn blockieren, vertragen, von daher ist eine Flasche Bier am Tag möglicherweise die medizinisch verträglichere Variante.

» Verbena » Beiträge: 4941 » Talkpoints: 1,60 » Auszeichnung für 4000 Beiträge



Das dürfte ja auch nichts Neues für dich sein. Denn wie du vor einigen Wochen erst in diesem Thread Alkoholabhängigem den Alkohol rationieren? geschrieben hast, kennst du ja wohl mehrere alkoholabhängige Leute, die den Alkohol rationiert und verordnet bekommen, damit sie nicht auf "dem Trockenen" sitzen.

Ich halte das persönlich für die falsche Vorgehensweise. Sicher ist es für einen alten Menschen eine Qual aufhören zu müssen. Aber ich denke, dass dies nur für kurze Zeit ist und den Organen sicherlich besser tut als wenn man es rationiert oder verordnet.

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» Diamante » Beiträge: 41749 » Talkpoints: -4,74 » Auszeichnung für 41000 Beiträge



Diamante, wie kommst du darauf, dass das der falsche Weg ist? Die Zahlen zeigen doch eindeutig, dass der Weg der Abstinenz nicht funktioniert. Wir geben ein Heidengeld für Therapien aus, die den Betroffenen nicht helfen. Rationiertes Trinken dagegen bringt in anderen Ländern große Erfolge. In Kanada, den Niederlanden oder in Großbritannien verzichtet man mittlerweile weitgehend auf das "Trockenlegen" von Alkoholikern und bekommt erheblich bessere, auch gesundheitliche (!) Ergebnisse. Warum soll man an etwas festhalten, das nichts bringt?

» cooper75 » Beiträge: 13411 » Talkpoints: 515,76 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


@cooper75, vielleicht, weil ich einfach ein "gebranntes" Kind bin und mit einem Alkoholiker verheiratet war, wo auch rationiertes Trinken nicht geholfen hat. Der Pegel, den er brauchte um "normal" zu sein und nicht aggressiv war so hoch, dass es nicht tragbar war. Wehe er hatte weniger drin als der Pegel ihm sagte und es ging rund. Er hat einige Jahre nach der Scheidung dann eine Entgiftung gemacht und das war wohl die einzige Zeit wo er was vom Leben mitbekommen hat und wo sein Umfeld auch mit klar kam.

Für mich persönlich gibt es gerade in Sachen Alkohol und Drogen nur völlige Abstinenz, wenn man süchtig ist. Das ist meine persönliche Meinung und da interessieren mich auch keine Zahlen, die aus dem Ausland sind.

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» Diamante » Beiträge: 41749 » Talkpoints: -4,74 » Auszeichnung für 41000 Beiträge


Aber die Zahlen aus dem Inland sollten interessieren. Hierzulande sind bereits nach einem Jahr wieder 80% rückfällig. Im zweiten Jahr trifft es dann fast den gesamten Rest. Das kann es nicht sein und das hilft auch keiner betroffenen Familie. Was nützt es an etwas festzuhalten, das einfach nicht in ausreichender Zahl funktioniert?

Du stellst dir das mit dem Pegel auch falsch vor. Man lässt die Leute nicht einfach harte Sachen trinken, bis die sich gut fühlen. Das klappt nicht, weil sich ein Alkoholiker nach dem Schlafen so schlimm fühlt, dass der einen halbe Flasche Wodka weg hat, bevor er überhaupt mitbekommen hat, dass er trinkt. Und dann ist er natürlich drüber.

Aber mit einer Dose Bier alle 2 Stunden bekommt man die Menschen therapiefähig. Die meisten können schon nach kurzer Zeit weiter reduzieren. Und sie können eben so arbeiten und mit anderen unproblematisch zusammenleben. Am Ende sind dann sogar mehr dauerhaft trocken als hierzulande. Eigentlich sind die Zahlen nahezu umgedreht. Und das sollte gerade Mitbetroffenen die Augen öffnen.

» cooper75 » Beiträge: 13411 » Talkpoints: 515,76 » Auszeichnung für 13000 Beiträge



Ich habe natürlich auch schon von diesem Konzept des kontrollierten Trinkens gehört, aber so richtig hatte sich auch mir lange Zeit nicht erschließen wollen, wie das funktionieren soll, denn der Kontrollverlust beim Konsum ist ja ein zentrales Merkmal der Sucht. Wenn man sich aber mit dem Konzept mal ein wenig beschäftigt, erscheint mir das als eine gute und moderne Sache, quasi die Therapie der Zukunft im niedrigschwelligen Angebot.

Es richtet sich ja vor allem an die Leute, die ansonsten eben nicht erreichbar wären und wie ich aus der eigenen weiteren Familie weiß, gibt es Menschen, die jahrzehntelang trinken, ohne jemals eine Therapieeinrichtung von innen gesehen zu haben. Hätte es dieses Konzept schon vor Jahren gegeben, würde meine Tante heute vielleicht noch leben, denn sie hat zu lange zu gut funktioniert und die richtigen Angebote zur Therapie wurden nie genutzt, weil ihr das alles zuviel Angst gemacht hatte.

Hätte es schon vor vielen Jahren ein Angebot gegeben, dass sie ambulant hätte wahrnehmen können ohne gleich aus dem Umfeld zu müssen und mit der absoluten Endgültigkeit des Abschieds vom Alkohol konfrontiert zu sein, wäre ihr Leben vielleicht nicht so tragisch geendet. Man unterschätzt immer wieder, dass die Menschen zu "ihrem" Objekt der Sucht eine tiefe Bindung aufgebaut haben und von der Angst beseelt sind, dieses endgültig loszulassen. Mit einem Einstieg über das kontrollierte Trinken kann man diese Hürde senken.

» Verbena » Beiträge: 4941 » Talkpoints: 1,60 » Auszeichnung für 4000 Beiträge


Genau so ist es, Verbena. Außerdem kommt hier dazu, dass es sich um den Bewohner einer Pflegeeinrichtung handelt. Ein Altenheim ist weder eine Therapieeinrichtung, noch ein Krankenhaus. Es ist das letzte Zuhause eines Menschen. Und dort entscheidet immer noch der Mensch selbst, ob er trocken oder Nichtraucher sein möchte und niemand anderes.

So lange sich das ganze in einem Rahmen managen lässt, der für andere keine Einschränkungen bedeutet, darf niemand dem Bewohner seine Entscheidungsfreiheit nehmen. Wo kämen wir denn bitte sonst hin. Außerdem gibt es naturgemäß in den meisten Einrichtungen Alkohol. Bewohner A gönnt sich einen Wein, Bewohnerin B trinkt am Nachmittag ihren Likör und auch die Betreuung schenkt ab und zu mal ein wenig Alkohol aus. Zwangsweise trockengelegte Bewohner bedienen sich in ihrer Verzweiflung, wo sie können. Die Ergebnisse sind dann so richtig unschön. :whistle:

» cooper75 » Beiträge: 13411 » Talkpoints: 515,76 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


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