Durch Clean-Eating Essstörung bekommen können?
Clean-Eating bedeutet ja, dass man keine Fertiggerichte und keine industriell verarbeiteten Nahrungsmittel konsumieren möchte. Die Kernidee ist, dass man viel selbst kocht, mit viel Obst, Salat, Gemüse und Vollkornprodukten. Nun warnt ein Arzt vor diesem Ernährungstrend und behauptet, dass man dadurch nur krank werden würden. In vielen Fällen sollen meist weibliche Patientinnen durch diese Ernährungsform eine lebensgefährliche Essstörung entwickelt haben, in einigen Extremfällen sollen sich Betroffene sogar fast zu Tode gehungert haben.
Dieser Ernährungstrend würde zu Mangelernährung führen und in Extremfällen würden die Betroffenen sich sogar hinein steigern und sogar potentiell pestizidbelastetes Gemüse boykottieren. Der nächste Schritt sei dann, komplett auf Fleisch, Milchprodukte und Kohlenhydrate zu verzichten und diese eben zu meiden.
Wie seht ihr das? Wird man durch das Clean-Eating automatisch eine Essstörung entwickeln, wenn man das nur ernsthaft genug mitmacht oder sind dafür eh nur labile Menschen anfällig? Was haltet ihr von Clean-Eating und glaubt ihr, dass ihr bei dieser Ernährungsform ebenfalls eine Essstörung entwickeln würdet? Oder wärt ihr stark genug, um genau das nicht zu tun? Wie viele Essstörungen resultieren tatsächlich aus dieser Ernährungsform oder seht ihr da andere Ursachen?
Ich wusste gar nicht, dass es so etwas wie Clean-Eating gibt. Davon lese ich hier zum ersten Mal. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass man dadurch krank werden kann, wenn man das alle zu fanatisch verfolgt. Es kann ja gut sein, dass man da immer mehr Lebensmittel weg lässt, weil diese irgendwie belastet sein könnten oder es vielleicht sind und dadurch dann wirklich in eine Essstörung rutscht. Ich würde das durchaus ernst nehmen.
Ich halte nicht viel von dieser Theorie, und meiner Meinung nach verhält es sich damit wie mit allen anderen Gefahren. Nicht jeder, der eine Diät macht, bekommt eine Essstörung; nicht jeder, der Ballerspiele zockt, wird ein Attentäter; und nicht jeder, der traurige Musik anhört, begeht Suizid. Psychische Erkrankungen sind in ihrer Pathogenese sehr viel komplexer und facettenreicher, als dass man sie auf einen einzelnen Auslöser zurückführen könnte. Daher sehe ich in dieser Warnung vor dem Ernährungskonzept ehrlich gesagt eine ziemliche Überreaktion.
An und für sich ist das Konzept "Clean Eating" ja definitiv nicht verwerflich. Im Gegenteil: auf die Herkunft der Lebensmittel, deren Qualität und hochwertige Zubereitung Wert zu legen, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Aber wie mit jeder Überzeugung kann man es auch damit auf die Spitze treiben. Die Hauptgefahr sehe ich eigentlich darin, wenn jemand sich einer Ernährungsform nur des Trends Willen anschließt, ohne sich die Mühe zu machen, sich vorher eingängig darüber zu informieren und vielleicht auch mit einem Fachmann, also einem Arzt oder Ernährungsberater, darüber zu sprechen, worauf bei einer Ernährungsumstellung zu achten ist.
Natürlich ist es möglich, sich sowohl omnivor, vegetarisch, vegan, clean, low fat, low carb oder auf jede sonst erdenkliche Weise halbwegs vernünftig und ohne Mangelerscheinungen zu ernähren, sofern man weiß, was der Körper an Nährstoffen braucht und wo er sie herbekommt. Wenn aber ohne jegliche Ahnung und auch ohne ernsthaftes Interesse an einer ausgewogenen Ernährung einfach einem von Prominenten, Freunden oder Medien propagierten Vorbild nachgerannt wird und dabei die Annahme vertreten wird, drei Salatblätter mit einer Scheibe Tomate seien eine vollwertige Mahlzeit, dann ist es auch kein Wunder, dass eine Mangelernährung resultiert. Damit daraus eine Essstörung wird, ist meiner Meinung nach aber auch eine entsprechende Prädisposition beziehungsweise das Vorhandensein weiterer Risikofaktoren notwendig.
Soweit ich weiß, wird unter Fachleuten schon seit ein paar Jahren die Frage diskutiert, ob man die sogenannte "orthorexia nervosa" als separates Krankheitsbild unter die gängigen Ess-Störungen einreihen soll oder ob es sich um eine Unterart der guten, alten Magersucht handelt. Aber allem Anschein nach gibt es schon genügend Betroffene, die unter dem Zwang leiden, sich so "clean" oder gesund wie möglich ernähren zu müssen, dass sich zumindest ein Bewusstsein für dieses Problem entwickelt hat. Das Phänomen ist also leider wie so viele Ess-Störungen in Fachkreisen wohl schon ein alter Hut.
Ich selber hatte noch nie Probleme mit der Nahrungsaufnahme, aber ich kann mir schon vorstellen, dass man in einen Teufelskreis geraten kann, wenn man sich mit "gesunder Ernährung" befasst. Schließlich geht es immer noch gesünder, und ständig wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben, wenn es wieder heißt, hier seien Schwermetalle drin und da werden die Bauern ausgebeutet. Wenn man sich zu sehr verrennt, bleibt am Ende wirklich nichts mehr übrig, was man mit gutem Gewissen essen kann.
Wie gesagt, das Krankheitsbild ist wohl schon länger bekannt. Ich selber denke mir, dass es sich hier vermutlich ähnlich verhält wie mit vielen psychischen Erkrankungen: Die Betroffenen wissen zwar selber irgendwo, dass sie sich irrational verhalten, brauchen aber Hilfe von außen, die über "gutes Zureden" und "Jetzt iss doch mal was Anständiges!" weit hinausgeht.
Die Praxis vom sauberen Essen ist eigentlich keine neue. Es werden frische Lebensmittel zubereitet und genossen. Es wird nichts verteufelt. Es werden halt nur Lebensmittel verarbeitet und gegessen, die nicht industriell hergestellt bzw. stark verändert wurden. Finde ich vorbildlich und habe auch kein "aber" parat. Hier darf man ganz viel genießen. Und wer sich so ernährt, darf schon mal abweichen, meine ich. Geißelung bringt nichts und wenn man vielleicht am Wochenende zweimal etwas Süßes, natürlich selbstgemachtes, brauchte, ist es am nächsten Wochenende vielleicht nur eine süße Nascherei.
Nur weil ein Mediziner jetzt plötzlich die Moralkeule schwingt und völlig übertriebene Ansätze äußert, ernähren sich doch zigtausende Menschen nicht ungesund. Als ich Kind war ernährten wir uns doch auch ziemlich rein.
Es gab natürlich viel Brot, aber in anderer Qualität als heute. Auch gab es Wurst und Käse, das war früher halt so. Wenn Zeit war, am Wochenende immer, wurde gekocht und gebacken. Es gab keine Süßigkeiten außer einer halben kleinen Bonbontüte und einer winzigen Schokoladentafel von Oma am Wochenende. Das Wort Fastfood kannten wir nicht.
Wir waren alle schlanke Kinder und hatten dementsprechend Freude an Bewegung. Wir tranken Malzkaffee, Milch und selten mal eine Limo. Wir schauten wenig fern, da das Angebot sehr begrenzt war. Wir veranstalteten Radrennen und Ballspiele uns ging es super, niemand hatte Diabetes oder ähnliche Wohlstandskrankheiten.
Jeder ist seines Glückes Schmied und für sein Leben und auch für seine Ernährung verantwortlich. Gesundheit ist ein hohes Gut und nicht selbstverständlich. Daher muss sich jeder mit seiner Ernährungsform auseinandersetzen und mit der dann auch zufrieden sein. Ob labile Menschen diese Form der Ernährung überhaupt durchhalten sei dahingestellt, dass es einige übertreiben, war halt schon immer so. Und jetzt in Zeiten des Internets können die vom Magerwahn Betroffenen noch Lob und Anerkennung von Ihresgleichen in bestimmten Foren und auf verschiedenen Plattformen finden. Da geht so etwas eben schnell mal nach hinten los. Das ist aber nicht der Ernährungsform geschuldet, dafür sind die Extremisten verantwortlich.
Der Denkansatz ist halt bei vielen trendigen Ernährungsformen gar nicht so weit weg von der Magersucht. Gute Lebensmittel - böse Lebensmittel. Die Definition von Gut und Böse ist unterschiedlich, bei den einen sind Kalorien böse, bei den anderen Fertiggerichte, tierische Inhaltsstoffe, Gluten oder ganz aktuell Zucker, aber in allen Fällen schränkt man sich freiwillig extrem ein. Und da man ja glaubt, dass die Ernährungsform gut ist, ist mehr Einschränken vielleicht noch besser.
Wenn man dann die passende Persönlichkeitsstruktur hat und wenn die äußeren Umstände stimmen kann wahrscheinlich aus allem eine sehr ungesunde Obsession werden. Aber automatisch läuft das sicher nicht ab. Das wäre ja genauso als würde man behaupten, dass jede Diät zu einer Magersucht führt, während in der Realität die meisten durch Diäten sogar dicker werden.
Ich vermeide übrigens schon lange hoch verarbeitete Lebensmittel wenn immer das möglich ist und mir geht es gut. Ich halte aber absolut nichts von dogmatischer Ernährung, egal um was es geht. Von daher bin ich wohl eine schlechte Kandidatin für fast jede Art von gestörtem Essverhalten, das mit Einschränkungen zu tun hat.
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