Tröstet ihr Fremde?

vom 07.11.2015, 07:39 Uhr

Es ist mir schon öfter mal passiert, dass ich in der Öffentlichkeit Menschen gesehen habe, denen es offensichtlich nicht gut ging. Vor ein paar Tagen, als ich gerade zur Arbeit fuhr, saß in der Bahn eine Frau, die sich krümmte. Ich beobachtete das einen Moment und sprach sie schließlich an. Daraufhin schüttete sie mir regelrecht ihre Herz aus. Sie sei verzweifelt, weil sie Geldprobleme habe. Sie habe gerade die durch den Tod ihres eigenen Vaters entstandenen Schulden ab bezahlt. Nun sei der Vater ihres Mannes verstorben und das ganze gehe von vorne los: Beerdigungskosten, Entrümpelung, Mietrückstände... Sie wisse nicht, wie dies zu bewältigen sei.

Im Gespräch wurde noch deutlich, dass der Mann gewalttätig sei und sie selbst ein Alkoholproblem habe. Ich hörte ihr die ganze Bahnfahrt über zu, tröstete sie und gab ihr schließlich kurz vorm Aussteigen einen Zettel mit der Adresse einer Sucht- und einer Frauenberatungsstelle. Sie war ganz gerührt, fragte zwischendurch aber auch: "Warum sind Sie so nett zu mir?" Diese Frage fand ich irgendwie traurig...

Es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist und ich finde es immer wieder traurig, zu erleben, wie verzweifelt und auch einsam viele Menschen sind. Viele haben niemanden, dem sie von ihren Sorgen erzählen können und es sprudelt regelrecht aus ihnen heraus, wenn man sie anspricht.

Wie handhabt ihr das? Sprecht ihr Fremde an, wenn es ihnen offensichtlich schlecht geht oder kümmert ihr euch nicht weiter darum? Was veranlasst euch dazu bzw. was hält euch ab? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?

» *Malin* » Beiträge: 141 » Talkpoints: 7,82 » Auszeichnung für 100 Beiträge



Ich habe es früher auch oft gemacht, aber nachdem das allgemeine Mitleid der Leute auch nachlässt und wir nur mehr eine Smartphonegucker Generation haben, weiß man manchmal auch nicht, ob die Trauer von einem doofen Posting herkommt. Außerdem will nicht jeder von Fremden angesprochen und getröstet werden. Ich würde dies auch nicht wollen.

» celles » Beiträge: 8677 » Talkpoints: 4,08 » Auszeichnung für 8000 Beiträge


Ich finde es wichtig, dass man nicht einfach wegschaut. Ich meine man kann ja auch selber mal in so eine Lage kommen und dann würde man sich sicherlich auch jemanden wünschen, der einen mal zuhört. Wobei ich schon erst mit meinem besten Freund reden würde und nicht mein primäres Ziel ist, dass ich mit Fremden rede.

Ich habe auch mal eine Frau getröstet, die in der Straßenbahn saß und geweint hat. Bei ihr war es eine Trennung von ihrem Partner und sie hatte festgestellt, dass sie schwanger ist. Das Gespräch hat ihr ein bisschen geholfen die Situation nicht ganz so mies zu betrachten. Ich denke, dass die Sicht von außen schon manchmal sehr hilfreich sein kann.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge



Vielleicht bin ich in den Augen mancher ein schlechter Mensch, aber ich tue mir schon schwer genug damit, Leute zu trösten, die ich kenne und mag. Ich weiß meistens nicht, was ich sagen und/oder tun soll, und zuhören allein kommt mir popelig vor. Ob man mir sein Herz ausschüttet oder seinem Haustier, läuft meistens auf das Gleiche hinaus, nur dass ein Haustier meistens weicher anzufassen ist. Ich gebe zwar mein Bestes, aber ich bin definitiv nicht begabt genug im Trösten, um Fremden damit weiter helfen zu können.

Außerdem finde ich, dass die Grenze zwischen "trösten" und "sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischen, damit man sich selber für einen guten Menschen halten kann" sehr oft verschwimmt, und, wenn ich ganz ehrlich bin, auch, dass erwachsene Menschen eigentlich gelernt haben sollten, mit ihren Gefühlen umzugehen. Die Welt geht bekanntlich nicht gleich unter, wenn man mal stocksauer ist oder Liebeskummer hat. Und hin und wieder heult man halt auch mal in der U-Bahn, was die Mitmenschen eigentlich meiner Meinung nach noch lange nicht zum Eingreifen verpflichtet.

Nicht jeder ist schließlich begeistert davon, dass sich fremde Leute, gut gemeint oder schlicht sensationsgeil, in seine Angelegenheiten mischen, nur weil er oder sie gerade emotional aufgewühlt ist. Und ich wüsste auch nicht, was ich machen sollte, wenn derjenige welche entweder ein total banales oder ein absolut schreckliches Problem hat.

Soll ich beispielsweise einem liebeskummergebeutelten Teenager etwa vermitteln, dass ich auch finde, dass der Hakan unbekannterweise ein Depp ist, oder zu jemandem, der gerade eine Krebsdiagnose mitgeteilt bekommen hat, "Hm, schrecklich" sagen und trotzdem am Karlsplatz umsteigen? Man merkt, ich halte den Versuch, Fremde emotional aufzupäppeln, vor allem für anstrengend und im Regelfall für nahezu sinnlos.

» Gerbera » Beiträge: 11315 » Talkpoints: 48,61 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Ich habe noch nicht erlebt, dass jemandem offensichtlich nicht gut ging. Aber ich würde auch zu der Person gehen und fragen, ob ich etwas für sie tun kann. Ich finde, dass viel zu viele Menschen da einfach wegschauen und das Leid anderer vielleicht auch gar nicht sehen wollen.

Allerdings denke ich auch, dass viele einfach auch sehr mit ihren eigenen Sorgen und Probleme beschäftigt sind. Die psychischen Erkrankungen nehmen immer mehr zu und ich denke, dass viele auch Geldsorgen haben werden. Die Meisten werden es sich nicht anmerken lassen, aber eben so sehr mit sich beschäftigt sein und vielleicht gar nicht wahrnehmen, wenn es jemandem in ihrem Umfeld nicht gut geht. Gerade bei Fremden ist das ja auch nicht immer gleich so offensichtlich.

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» Nelchen » Beiträge: 32238 » Talkpoints: -0,25 » Auszeichnung für 32000 Beiträge


Mich mag man auch für einen schlechten Menschen halten, aber jeder hat sein eigenes Problem und sein Päckchen zu tragen. Wenn ich mich um die Probleme und belange jeder fremden Person kümmern würde die ich auf der Straße sehen würde, dann wäre ich jetzt noch nicht beim Bäcker angekommen um Brötchen zu holen obwohl dieser nur 500 Meter weiter ist.

Zudem ich es auch unpassend finde, dass man mit seinen Emotionen und seinem Geheule in der Öffentlichkeit hausieren muss damit man Mitleid erhascht. Denn das ist es was meistens passiert, es setzt sich einer hin und spielt den seelischen Mülleimer und hört sich den ganzen Mist an. Was hat man davon? Davon sind die Schulden auch nicht weniger, der Vater steht auch nicht aus seinem Grab wieder auf, das Alkoholproblem ist immer noch vorhanden und der Mann der seine Frau Zuhause verprügelt ist ebenfalls noch an Ort und Stelle. Es bringt rein gar nichts, wenn jemand etwas ändern möchte, dann muss das von sich aus kommen und nicht durch andere und schon gar nicht von einem Fremden der gerade Missbraucht worden ist für den ganzen Seelenmist.

Wenn man schon meint Helfen zu müssen und sich aufdrängt, dann müsste man das langfristig machen und ein wenig in den Arm nehmen, trösten und sagen "das wird schon wieder" bringt halt rein gar nichts. Gerbera hat es sehr deutlich auf den Punkt gebracht, man hört sich den ganzen Mist an und steigt dann am Karlsplatz um und sieht diese Person nicht wieder. Manche erinnern sich aber an den Kram auch später noch und belasten sich damit selbst, obwohl es nicht die eigenen Probleme sind.

Ich mache das was beruflich von mir erwartet wird und das auch professionell. Wenn ich die Todesnachricht überbringe, dann setze ich ein betroffenes Gesicht auf obwohl es mir komplett egal ist, da ich die Person ja nicht kannte und auch die Angehörigen nicht mehr sehen werde im Anschluss. Wieso sollte es mich auch berühren, dass ein Fremder verstorben ist und ich ihn nicht mehr reanimieren konnte? Ich kannte ihn nicht und mir hat er nichts bedeutet, aber anderen wohl schon und entsprechend steht es mir auch nicht zu, mich in diesen Kreis zu drängen und ebenfalls so zu tun, als wenn mich das Betroffen machen würde wenn es nicht der Fall ist. Daher wird man von mir auch nie "Mein Beleid" in diesem Zusammenhang hören, weil es nicht aufrichtig wäre sondern es wird immer eine andere Formulierung gewählt. Der Unterschied sprachlich ist gering, aber die Messege dahinter umso größer.

Auch das mit dem Liebeskummer. Kann ich wissen ob der Teenager mir gerade die Wahrheit über Hakan sagt oder nicht doch etwas anderes der Grund für die Trennung war. Wieso sollte ich dann sagen, dass Hakan ein Depp ist weil er sie verlassen hat. Ich kenne weder Hakan noch die Person und kann somit auch nichts dazu sagen, vielleicht ist Hakan abgehauen weil sie die gewalttätige Furie ist und ihn täglich mit dem Nudelholz verhauen hat und nun traurig ist, dass der Hakan Döner nicht mehr da ist um ihn weich zu klopfen. Man muss sich einfach mal zurück nehmen mit seiner "Hilfsbereitschaft", denn man mischt sich in Dinge ein von denen man nichts weiß und Urteilt darüber ohne Menschen zu kennen.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge


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