Sich selbst verletzen, weil unglücklich im Job?

vom 16.06.2016, 07:29 Uhr

Eine sehr gute Bekannte von mir hat eine Ausbildung absolviert, wurde übernommen und arbeitet auch ganztags. Wir waren vor zwei Tagen einen Kaffee trinken und da sind mir rote Striemen in ihrem Dekolletee aufgefallen. Natürlich schaut man nicht dorthin, aber sie waren so auffällig, dass man nicht vorbeischauen konnte.

Auf Nachfrage ist sie regelrecht weinend zusammengebrochen und schilderte mir, dass sie nur noch Arbeiten übernehmen muss, die sonst niemand machen möchte und dass sie total überfordert ist. Sie hat einen technischen Beruf erlernt, sortiert aber nur noch Akten, schleppt täglich unsägliche Mengen an Akten durch das Gebäude, und muss nur noch Daten eintragen und liegt dann laut Schilderungen nach der Arbeit erst einmal zwei Stunden lang flach, ehe sie wieder was erledigen kann.

Sie fühlt sich somit geistesmäßig unter-, aber arbeitstechnisch überfordert, weil sie auch viele Terminsachen macht, die sonst niemand machen will. Sie hat mir dann gesagt, dass sie keine Lust mehr hat. Bewerbungen liefen bisher alle ins Leere und sie versucht den täglich Druck loszuwerden, indem sie sich die Haut zerkratzt.

Das scheint ihr auch zu helfen, zumindest tritt kurzfristig ein Entspannungszustand bei ihr ein. Sie hat die Tage auch versucht einen Psychotherapeuten zu erreichen, weil sie auch meinte, dass sich einmal zu zerkratzen, einmal zuviel gewesen ist, aber ohne Erfolg. Auch hat sie furchtbare Angst ihre Arbeit zu verlieren, sie benötigt das Geld zum Überleben. Sie achtet aber auch laut ihren Aussagen darauf, dass sie nie so tief kratzt, dass Narben bleiben. Sie cremt ihre Haut danach auch ein und pflegt die roten Stellen.

Sie tat mir so furchtbar leid. Mehr als ihr den Tipp zu geben, nicht alles persönlich zu nehmen und nicht alles an sich ranzulassen, konnte ich ihr auch nicht geben. Auch treffen wir uns jetzt mindestens einmal die Woche und "kotzen" uns mal gegenseitig so richtig über unsere Probleme aus. Sie über die Ihrigen, ich über meinen Kleinkram. Aber es kann doch nicht sein, dass sie sich jeden Tag zerkratzen muss, um den Druck abzulassen und jeden Tag nach dem Aufstehen erst einmal weinen muss, damit sie den Tag überhaupt übersteht? Was würdet ihr tun?

» Colatrinker » Beiträge: 52 » Talkpoints: 17,83 »



Jeder geht mit Stress und solchen Situationen anders um. Manche versuchen die Fassade aufrecht zu erhalten und trinken Alkohol, andere Kratzen sich und andere lassen es komplett an sich vorbeiziehen und resignieren. Somit kann man es pauschal gar nicht sagen, wer sich wann verletzen würde wenn es im Job oder auch Privat einmal richtig schlimm werden würde. Das man allerdings weint wenn man zur Arbeit muss oder auch von dieser kommt, das kann ich sehr gut nachvollziehen.

Ihr kommt es in erster Linie darauf an, dass sie wieder etwas "spürt" gerade bei geistiger und/oder körperlicher Unterforderung sucht man sich eine Alternative. Manche gehen ins Fitnessstudio und powern sich beim Sport aus, andere Verletzen sich und andere sitzen Nachts über Büchern, machen ein Studium um diese geistige Unterforderung in den Griff zu bekommen.

Ansätze sind verschieden aber ich würde auch niemanden verurteilen, der sich deswegen anfängt zu kratzen als Selbstverletzung um eben dieses Gefühl wieder zu haben. An diesem Punkt war ich noch nie und bin auch "Mann" genug um das nicht geschehen zu lassen, denn ab einem gewissen Punkt greift bei mir ein automatischer Reflex dagegen anzugehen mit allen Mitteln.

Auch die Angst kann ich verstehen, dass das ganze doch einmal auffällt auf der Arbeit oder auch im weiteren privaten Umfeld. Denn dann hat man sich mit seiner Schwäche auch noch Preis gegeben und damit eventuell sogar zusätzlich Angreifbar für den Chef oder die Kollegen gemacht. Selten werden solche Informationen im guten verwendet, das Gegenteil ist eher der Fall und damit würde ihr Leiden auch nicht wirklich besser werden.

Was sie dagegen machen kann sagt sich einfacher als es wirklich ist diesen Schritt dann auch zu gehen. Zum einen weiter Bewerbungen schreiben und dort nicht nachlassen, denn in diesem Job wird sie nicht weiter Glücklich werden. Eventuell sogar nach etwas ganz anderem umsehen für das erste, damit sie dort schnell weg kann. Zusätzlich kann sie natürlich zu ihrem Hausarzt gehen und das ganze schildern, dieser kann sie für das erste auch Krankschreiben um akut aus dieser Situation genommen zu werden.

Für eine dauerhafte Krankschreibung ist der Weg zu einem Psychologen unumgänglich. Dieser hat jedoch weitere Möglichkeiten wie z.B. ein Attest auszustellen, dass sie innerhalb der Firma aus medizinischen Gründen versetzt werden kann an einen anderen Arbeitsplatz oder auch ein Attest auszustellen, damit man im Falle einer Selbstkündigung keine Geldsperre vom Arbeitsamt bekommt.

Nur alleine wegen des Geldes muss man sich in keinem Job so dermaßen kaputt machen lassen, dass man sich aus Unterforderung selbst verstümmelt. Denn irgendwann kommt auch der Punkt, da reicht das Kratzen für das Gefühl nicht mehr aus und es wird zu härteren Mitteln gegriffen. Das Kratzen ist ein guter Einstieg für die Ritzer und spätestens dann werden auch bleibende Narben zurück bleiben die Auffallen werden.

Finanzielle Hilfe gibt es vom Arbeitsamt und auch wenn das nur 67% vom letzten Gehalt sind, so kann man weitere Förderungen wie Wohngeld etc. dazu beantragen wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Dazu sollte sie sich vielleicht auch einmal auf dem Arbeitsamt beraten lassen, denn Arbeitsuchend kann und darf man sich immer melden ebenso wie die Beratungsangebote in Anspruch nehmen.

Vielleicht würde es ihr auch helfen, wenn sie es einmal mit anderen Dingen versucht dagegen anzugehen anstatt mit dem Kratzen. Das ganze scheint sie doch sehr zu frustrieren, daher auch das weinen am morgen und ggf. auch Abends. Ich würde es zusätzlich noch mit Sport versuchen der Aggressionen abbaut wie Laufen oder auch Boxen, einfach wo man sich so auspowern kann, dass keine Zeit für solche Gedanken bleibt.

Zusätzlich lernt sie dabei etwas neues kennen was auch den Geist wieder fördert und zeitgleich auch motivierend wirken kann, wenn man selbst merkt dagegen angehen zu können. Man könnte ihr das vorschlagen und sie auch dazu begleiten anstatt sich nur einmal die Woche gegenseitig auszukotzen.

Benutzeravatar

» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge


Sie sollte sich wirklich schnell Hilfe suchen, was sie ja auch schon versucht hat. Um Hilfe zu bekommen kann man noch mal bei der Krankenkasse nachfragen, ob die einen einen Arzt vermitteln können oder ob die vielleicht eine Gruppe kennen, in die man gehen kann. Bei uns in der Stadt gibt es eine psychologische Beratungsstelle, bei der eben immer jemand da ist und wo man dann auch schnell Hilfe bekommt.

Abgesehen davon würde es vielleicht schon etwas bringen, wenn sie sich mal krankschreiben lassen würde, einfach um zu zeigen, dass man es mit ihr eben nicht nur immer machen kann, sondern sie sich auch nicht alles gefallen lässt und dann auch mal zurückschlägt. Sie hat ja psychische Probleme und sollte so auch krankgeschrieben werden.

Sie kann und sollte sich aber auch einen Ausgleich suchen. Vielleicht kann sie sich etwas suchen, woran sie Gefallen findet und den Ausgleich zu diesen miesen Job finden kann. Beispielsweise könnte sie Sport machen, sich in der Bibliothek anmelden und dort Bücher leihen oder in einen Verein gehen. Langfristig muss sie sich aber eine andere Stelle suchen.

Benutzeravatar

» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge



Ähnliche Themen

Weitere interessante Themen

^