Die Praxis, Kinder ohne Betäubung zu operieren
Schon mehrere Male habe ich gelesen oder erzählt bekommen, dass es wohl zwischen etwa den 1950er und den 1970er Jahren noch üblich gewesen sein soll, kleine Kinder ohne vorherige Betäubung operativ zu behandeln. Argumentiert soll wohl damit worden sein, dass Kinder bis etwa zwei oder drei Jahren Lebensalter sowieso noch keine Schmerzen empfinden könnten, oder aber, dass Schmerzen in dem Alter ohnehin keine Langzeitfolgen auslösen könnten, da sich die Kinder ja sowieso nicht mehr daran erinnern könnten, wenn sie älter wären.
Heute weiß man, dass das gefährlicher Schwachsinn ist, aber für mehrere Jahrzehnte schien das wohl von vielen Medizinern gar nicht hinterfragt worden zu sein. Aber wieso? Wie kam man überhaupt auf diese absurde Idee, dass Kinder möglicherweise bis zu einem bestimmten Alter Schmerzen gar nicht wahrnehmen könnten? Gibt es vielleicht irgendwelche Fachpublikationen, in denen mehr darüber steht? Irgendwie muss man diese These ja auch versucht haben, argumentativ zu begründen. Mich würde interessieren, wie.
Interessieren würde mich auch, wer letztendlich dafür sorgen konnte, dass auch Kleinkinder wieder narkotisiert worden sind. Wer hat die Behauptung, Kleinkinder bräuchten keine Betäubung bei Operationen, letztendlich widerlegt, und auf welche Weise hat er das getan? Und bekamen Menschen, die als Kind ohne Betäubung operiert worden sind, und die daher Folgeschäden hatten, als Erwachsene eigentlich auch irgendwann einmal eine Entschädigung gezahlt? Oder gibt es heute vielleicht Interessenverbände für Betroffene, die durch diese Art von Behandlung im Säuglingsalter oder Kleinkindalter traumatisiert worden sind?
Natürlich dürfte eine finanzielle Entschädigung nur ein kleiner Trost sein, wenn man wirklich seelische Schäden davongetragen hat. Aber ich fände es schon wichtig, wenn man sich für die damals üblichen narkoselosen Operationen bei kleinen Kindern mal offiziell entschuldigen würde. Das wäre immerhin mal eine Geste, mit der man zugibt, einen Fehler begangen zu haben.
In meiner Ausbildung habe ich auch zum ersten Mal von dieser skandalösen Vorgehensweise gehört. Seitdem werde ich das gar nicht mehr los, denn für mich grenzt das an Sadismus. Ich weiß auch nicht, ob das weltweit so praktiziert wurde oder womöglich sogar eine aus der Nazizeit übernommene Praxis war.
Von meinem Vater weiß ich, dass ihm als kleines Kind einmal die (Nasen) Polypen ohne jegliche Betäubung brutal entfernt wurden. Er wurde dabei von mehreren Leuten gewaltsam festgehalten und von dem Kinderarzt sogar noch angebrüllt, als er schrie und sich wehrte. Man stelle sich mal vor, wie empfindlich ein Mensch gerade an den Sinnesorganen ist! So etwas ohne Betäubung und dazu noch ohne jegliches Mitgefühl einem Kind anzutun, ist für mich ein Akt des Sadismus.
Mein Vater hat mir davon erst sehr spät erzählt. Er kannte sogar noch den Namen des Arztes, der auch später noch jahrelang in unserer Kreisstadt praktizierte. Wie ich schon in einem anderen Beitrag erwähnte, leidet mein Vater noch heute unter einer regelrechten Phobie gegenüber Ärzten und Krankenhäusern. Wenn er Blut sieht, reagiert er mit Panikattacken. Einmal öffnete seine Frau zur Begrüßung eine Flasche roten Sekt. Sie machte wohl was falsch und der Korken sprang ungebremst in die Luft, während die blutrote Flüssigkeit aus der Flasche schoss und sich über den Steinfußboden der Terrasse ergoss.
Mein Vater sprang panisch auf, wurde kreideweiß im Gesicht und schrie immer nur "Blut, Blut, Blut!" Dann rannte er blitzschnell nach Innen und kam auch zum Begrüßungsdrink nicht mehr aus dem Haus. Bis dahin hatte ich ihn noch nie so erlebt. Ich dachte, er sei verrückt geworden. Später sagte er mir dann, ihm waren in diesem Moment die Erinnerungen an die Polypen - Entfernung wieder hochgekommen. Wohl so eine Art Flashback. Mit über 70 Jahren leidet er also noch immer unter diesem traumatischen Kindheitserlebnis!
Ich habe zu diesem Thema übrigens gerade zufällig einen sehr interessanten Artikel gefunden, original aus den 1980er Jahren. Hier kann man ihn online lesen.
Besonders schockierend finde ich ja die Tatsache, dass der Artikel von 1987 ist. Ich wurde 1986 geboren und hätte eigentlich gedacht, dass diese seltsame Tradition, Babies ohne Betäubung zu operieren, zu dem Zeitpunkt eigentlich schon lange hätte ausgestorben sein müssen. Für mich war das irgendwie geistig immer eine Sache aus "vergangenen Zeiten". Etwas, was vielleicht in den 50ern oder in den 60ern passiert ist. Aber dass erst 1987 offenbar eine echte Debatte zu dem Thema losging, erschreckt mich schon.
Wawa666 hat geschrieben:Besonders schockierend finde ich ja die Tatsache, dass der Artikel von 1987 ist. Ich wurde 1986 geboren und hätte eigentlich gedacht, dass diese seltsame Tradition, Babies ohne Betäubung zu operieren, zu dem Zeitpunkt eigentlich schon lange hätte ausgestorben sein müssen. Für mich war das irgendwie geistig immer eine Sache aus "vergangenen Zeiten". Etwas, was vielleicht in den 50ern oder in den 60ern passiert ist. Aber dass erst 1987 offenbar eine echte Debatte zu dem Thema losging, erschreckt mich schon
Mir geht es da genau wie dir. Das ist ja erschreckend! Ich hätte diese Vorgehensweise auch eher den 50ern zugeordnet. Ich frage mich immer, wie auf bloßem Gutdünken beruhende wage Vermutungen Grundlage für solche schwerwiegenden Entscheidungen sein können. Vor allem habe ich den Eindruck, dass sich solche einmal getroffenen Fehlentscheidungen dann blitzschnell etablieren, ohne mal kritisch hinterfragt zu werden. Das erinnert doch sehr an unsere Diskussionen über Hirntod und Organspenden. Auch hier traut sich kaum noch jemand, die einmal als "wissenschaftlich bewiesen" erklärten "Fakten" noch anzuzweifeln, obwohl dadurch im Falle eines Irrtums sehr viel unnötiges Leid verhindert werden könnte.
Das habe ich nicht gewusst, dass man so barbarisch mit kleinen Kindern umgegangen ist. Man könnte schon annehmen, dass alle Sadisten waren, die damit zu tun hatten, obwohl das nicht stimmen kann. Aber wenn bei einem kleinen Kind etwas operativ gemacht werden musste, haben die Mediziner doch gesehen und gemerkt, dass das Kind Schmerzen hatte. Warum haben sie sich nicht geweigert, Kindern ohne Betäubung solche Schmerzen zuzufügen? Bei ihren eigenen Kindern hätten sie das garantiert anders gemacht.
Man sieht ja an der Schilderung von ANNA67, dass ihr Vater noch heute unter den Folgen dieser brutalen Methode, die auch bei ihm als Kind angewandt wurde, leidet und er Panikattacken hat. Ich würde raten, hier mal einen Antrag auf Schmerzensgeld zu stellen. Denn die Folgen ziehen sich durch sein ganzes Leben und seine Angst vor Ärzten und Krankenhäusern ist verständlich.
Auch ich habe eine ähnliche Operation als junges Mädchen mitgemacht. Nasennebenhöhle und Stirnhöhle waren total vereitert und dick geschwollen, was gefährlich wurde. Der Arzt hat mich aus seiner Sprechstunde heraus, wo ich zusammengebrochen war, ins Krankenhaus geschickt und mich nach seiner Sprechstunde dort operiert. Ich bekam Spritzen durch den Mund in den hinteren Hals, das war es an Betäubung.
Ich habe starke Schmerzen aushalten müssen und als ich nicht mehr konnte, machte sich das Blut in meinem Mund Luft und spritzte dem Arzt in's Gesicht und auf den weißen Kittel. Da hat mich der sonst so friedliche Arzt angeschrien, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich kann nur bestätigen, dass es sehr schmerzhaft war. Ich nehme an, dass solche Operationen nicht mit vollständiger Narkose gemacht werden können am Kopf.
In etwa kann ich nachempfinden, was dein Vater und die kleinen Kinder ertragen mussten. Je mehr man darüber nachdenkt, desto unverständlicher kommt einem das vor.
Ich glaube, dass es wohl niemand wirklich beantworten kann, was sich die Wissenschaftler dabei gedacht haben, Babys ohne Betäubung zu operieren. Ich denke, dass es sicherlich viele Fehler in der Medizin gab und sicher auch noch geben wird.
Ich denke aber auch, dass viele von diesen Kindern traumatische Erinnerungen dadurch haben und in ihrem weiteren Leben doch darunter leiden werden. Vielleicht wissen sie nicht mehr alles genau, aber das Unterbewusstsein speichert ja auch gewisse Dinge. Da wird es eine finanzielle Entschädigung nicht gut machen können. Ich kenne aber niemanden, der so einen Eingriff erlebt hat und davon berichtet hat. Ich stelle mir das aber wirklich schrecklich vor.
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