Das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen?

Bisher hatte ich noch nie das Gefühl gehabt, mich besonders verstellen zu müssen, wobei ich mich gegenüber anderen Personen auch nicht verstellen würde. Allerdings kann ich es mir schon vorstellen, dass das gerade bei einem Bewerbungsgespräch anders wäre. Normalerweise bin ich gegenüber fremden Leuten ziemlich schüchtern, kann aber auch sehr humorvoll und ironisch sein, wenn ich aufblühe. Genau diese Eigenschaften sollte man bei einem Bewerbungsgespräch ja aber nicht zeigen, so dass ich da eher auf seriös und selbstbewusst tun würde.

Hattet ihr schon einmal das Gefühl, euch verstellen zu müssen und weshalb kam das Gefühl auf? Hattet ihr dann letztendlich tatsächlich Vorteile dadurch?

Ich musste mich schon oft verstellen. In einem Praktikum in der Bank konnte ich natürlich nicht mit bestimmter Kleidung aufkreuzen. Da mussten eben Röckchen und ein schönes weißes Blüschen her, aber das finde ich schon okay. Es macht mir nichts aus, wenn ich Arbeit und Privatleben trenne.

Na gut, wenn ich meine Großmutter besuche, dann ziehe ich auch nicht extra nur für sie irgendwelche Band-Shirts an, die anecken könnten oder sogar brutal oder blutig aussehen. Sie würde sich sonst zu viele Gedanken um mich machen. Normale Straßenklamotten reichen da aus, meine Omi hat mich ja so oder so lieb.

Nach meinem zweiten Studium war die Verstellung mein tägliches Brot. Ich mochte die Arbeit nicht, mich interessierten die Inhalte nicht und das ganze Getue fand ich blöd. Mittlerweile wechsle ich seit Jahren automatisch die Rolle, wenn ich in die entsprechende Kleidung schlüpfe.

Das Ritual, eine gestärkte Bluse anzuziehen, Strümpfe zu nehmen und zu den langweiligen Pumps mit Ledersohle und dem Rock mit gruseliger Länge zu greifen, ist wie das Anlegen einer Rüstung. Das verändert automatisch alles und fühlt sich nicht mehr nach Verstellung an, aber das hat gedauert.

Ich bin in der Öffentlichkeit eigentlich nur selten "ganz ich selbst". Ich weiß nämlich, dass ich manchmal "komisch" wirke, wenn ich großäugig oder völlig in mich gekehrt durch die Gegend wandle, und leider auch alles mögliche Gesindel anziehe. Deswegen gebe ich mich in der Regel finster und unnahbar, um meine Ruhe zu haben.

In der Arbeit wiederum muss ich verbergen, dass ich eigentlich ein ziemlich kindliches Gemüt haben kann, vieles lustig finde und auch mal einen lockeren Spruch vom Stapel lassen könnte. Da ich jedoch mit ziemlich einzigartig bornierten und humorlosen Menschen zusammen arbeiten muss, muss ich mich auch in dieser Hinsicht verstellen, damit sie mich zumindest ansatzweise ernst nehmen und nicht ständig als unbedarftes Schulmädchen ansehen. Und natürlich habe ich mich betont seriös und bieder gegeben, um den Job überhaupt zu bekommen. Was tut man nicht alles für Geld.

Überhaupt nicht verstellen muss ich mich eigentlich nur, wenn ich mit wenigen ausgewählten Menschen zusammen oder ganz alleine bin. Deswegen empfinde ich es wohl oft als so entspannend und beruhigend, wenn ich alleine sein kann und tun kann, wonach mir der Sinn steht.

Ich habe mich den größten Teil meines Lebens verstellt, also gefühlsmäßig meine ich. So genau kann man das hinterher auch nicht mehr sagen finde ich. Das fing aber schon zu Hause an und setzte sich im Freundeskreis fort. Ich war eine Zeit lang ja sehr depressiv und das über Jahre hinweg.

Ich habe das immer verheimlicht und vor Familie und Freunden immer die Frohnatur gespielt, die nichts so leicht unterkriegen könnte. Die Maskerade war perfekt, denn als ich mich nach Jahren im Freundeskreis geoutet hatte, war das ein Schock für alle. Mir wurde gesagt, dass man das gerade von mir am allerwenigsten erwartet hätte.