Wird der Vertriebenen in Deutschland zu wenig gedacht?
@Juri1877: "Blödsinnig" ist hier nur, mir zu unterstellen, für Verbrechen Rechtfertigungen zu geben. Das geschieht mit keinem von mir geschriebenen Satz und ich habe - mehrfach - wiederholt, dass hier selbstverständlich auch Verbrechen begangen wurden (da denke man an die "wilden Vertreibungen" durch Zivilisten - mit Rache als Hauptmotiv).
Juri1877 hat geschrieben:Hier ging es schlichtweg um Landraub"
Was du aber hier schreibst lässt offenbar vermuten, dass der "Landraub" und die Verbrechen gegen die "deutschsprachige" Bevölkerung (während der Besatzung waren es Arier neben Nichtariern - vorher waren es alles Polen, Tschechoslowaken, Jugoslawen, Weißrussen usw.!) unabhängig von den "Geschehnissen" vorher passiert wären. Ebenso scheinst du der Ansicht zu sein, dass die Zeit vorher für die nicht-deutsche Bevölkerung eine "Vergnügungsfahrt" war. Wenn nicht, verstehe ich nicht, dass hier "Aktion und Reaktion" für die Gesamtbetrachtung keine Rolle zu spielen scheint.
Was übrigens in der "Opferbetrachtung" der Deutschen auch keine Rolle zu spielen scheint, ist die Tatsache, dass die Wehrmacht bis zum Ende alle deutschen Zivilisten (!), die die Gebiete VORHER verlassen wollen (als sie die Niederlage abzeichnete) an der Fluch gehindert hatte und im Zweifel solche "Verräter" erschossen hat. Welche Mitschuld trägt am Drama dann in diesem Fall die Wehrmacht?
Und statt jetzt Deutschland mal wieder als Opfer zu sehen, sollte vielleicht geklärt werden, wieso "Fahnenflüchtige" und "Landesverräter" jener Zeit auch heute juristisch nicht rehabilitiert sind (was sich auf das Vorstrafenregister und den Rentenbezug auswirkte) und bei Verbrechern innerhalb der Wehrmacht gerne auf den "Befehlsnotstand" hingewiesen wird.
Aber um hier einfach festzustellen, dass dir Revisionismus fern liegt und du die Verbrechen durch den deutschen Angriffskrieg nicht rechtfertigen willst: was wäre aus deiner Sicht die angemessene Reaktion der Tschechoslowaken nach dem Weltkrieg gewesen? Lasst uns alles vergessen und wieder Freunde sein? Und im Falle der Tschechoslowaken sollte nicht vergessen werden, dass hier alles schon "im Frieden" begonnen hat - dazu denke man an das "Münchner Abkommen". Am Ende waren von ca. 3 Millionen Deutschen 1950 noch ca. 150'000 Deutsche in Tschechien.
@Punktedieb: Es ist von dir ein wenig überzogen, hier die Weisheit für dich zu beanspruchen, weil du glaubst, auf Grund der Familiengeschichte hier mehr zu "Wissen", als über Schulwissen vermittelt wird. Ohne einzugestehen, dass z.B. deine Oma sicher kein neutraler Zeuge war. Auch scheint es nicht weiter zu interessieren, welche die Beweggründe für die "Vertreiber" hatten. Jedenfalls scheint dein wissender Standpunkt die "Gegenseite" nicht betrachten zu wollen.
Punktedieb hat geschrieben:Alle mit Abstammung X kommen in einen Topf.
Es ist mir klar, wie in Deutschland mit Mischehen verfahren wurde. Wie aber haben hier wohl Polen, Tschechen usw. gehandelt? Gibt es wenigstens einen Ansatz eines "Rassegesetztes"?
@derpunkt: Die Vertriebenen, wie du sie nennst, hatten vom Gesetz her gar keine Grundlage. Denn es waren im heutigen Tschechien nämlich nicht die tschechischen Nachbarn die deutschstämmige Menschen von Grund und Boden verjagt haben, sondern die russische Armee. Und solche Dinge werden im Geschichtsunterricht kaum bis gar nicht besprochen.
Wie gesagt, ich habe nur meine eigene Familie als Beispiel genannt. Aber das traf halt tausende Menschen in den letzten Wochen des Krieges beziehungsweise danach. Aber insgesamt ist das auch ein Thema welches bis heute nicht wirklich aufgearbeitet wurde.
Dass allerdings die deutsche Wehrmacht flüchtende Zivilisten als Verräter an Ort und Stelle erschossen hat, stimmt so auch nicht ganz. Im Gegenteil, denn soweit das möglich war, wurden sie teilweise unter dem Schutz der Wehrmacht mitgenommen. Erschossen wurden nur kriegstaugliche und als Zivilist verkleidete Deserteure.
Punktedieb hat geschrieben:Aber das traf halt tausende Menschen in den letzten Wochen des Krieges beziehungsweise danach.
Und jedes einzelne Schicksal kann hier als Opfer des Krieges und der entsprechenden Gräul gesehen werden. Aber eben nicht politisch, weil diese Vertreibung nur auf Vertreibung durch die Deutschen gefolgt ist. Das ist ein Zusammenhang, der niemals aus dem Blick gelassen werden darf. Erkennst du das nicht an, brauchen wir nicht weiter zu diskutieren.
Ohne die Verbrechen der Deutschen Seite wäre es zu den anderen Verbrechen nicht gekommen, die politisch im besten Fall als überzogene Notwehr gesehen werden muss. In KEINEM deiner Postings bist du ja auch auf die Vertreibungen und Morde eingegangen, die VORHER stattgefunden haben. Und nur so kann die geliebte und gewollte Rolle als "gleichberechtigte Opfer" gespielt werden. Wobei man noch lieber das "größere Opfer" spielt, weil "der Russe" ja gemeinhin besonders barbarisch vorgegangen ist.
Punktedieb hat geschrieben:Im Gegenteil, denn soweit das möglich war, wurden sie teilweise unter dem Schutz der Wehrmacht mitgenommen.
Der sogenannte "Durchhalteterror" herrschte nicht nur innerhalb des deutschen Reichs ("Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen." - was ein Befehl für deutsche Soldaten war) sondern auch in den besetzten Gebieten. Es wurde rücksichtslos jede Flucht verboten, weil dadurch gehofft wurde, die Kampfmoral der Soldaten hoch zu halten.
Dazu hier mal ein harmloser Bericht aus "Die Welt". Was du hier beschreibst war der panische Rückzug ab etwa März 1945. Wobei hier die Niederlage schlicht nicht mehr zu leugnen war und auch bei der Wehrmacht von einem geordneten Rückzug nicht immer zu sprechen war.
Was die Vertreibungen angeht, waren die eben NICHT von der Sowjetunion "befohlen". Benes hatte diesen Plan schon Ende 1944. Und in Jugoslawien hatten die Sowjetischen Soldaten gar keinen Einfluss.
Ich rede hier nicht von Vertriebenen, die selbst vorher zu Vertreibern gehört haben. Was ich aber auch schon mehrmals geschrieben habe. Es geht um deutschstämmige Menschen, die schon Jahrzehnte in den Gebieten lebten und trotzdem vertrieben wurden. Wie willst du das bitte rechtmäßig erklären? Da gibt es keine Erklärungen, die das rechtfertigen. Aber es sind Tatsachen, die nun mal keine Einzelschicksale gewesen sind, sondern Massenvertreibungen.
Die Vertreibung stand in meiner Familie immer im Raum, da verschiedene Teile der Familie direkt betroffen waren und im Laufe der Jahre bekam ich mit, das die meisten eine Meinung teilten „Das ist alles nicht so einfach“.Natürlich gab es auch die andere Fraktion, die jedes Jahr zu den großen Vertriebenentreffen fuhr und in dünnen Kaffee grummelten „Schlesien muss unser bleiben“ und von denen „schmeichelhafte“ Bezeichnungen zu hören waren wie „also der Pollacke“ oder „der Russki“ und nach deren Aussage noch nie ein Deutscher etwas verheerendes gemacht hatte.
Man dürfte nicht komplett daneben liegen, wenn man sagt: Das dürften die Polen, die Tschechen, die Slowaken, die Russen - na sagen wir mal: Alles bis hoch nach Finnland anders sehen. Die Eroberungspläne der Nazis waren ein Vernichtungsfeldzug und dementsprechend haben sie sich in den slavischen Ländern auch aufgeführt.
Was allerdings nichts daran ändert, das bei Kriegsende auch mit harmlosen Menschen unter den Vertriebenen grausam umgesprungen wurde, allerdings ist das gegenseitige aufrechnen, wer wie viel Schuld trägt in Sachen WW2 von deutscher Seite aus immer etwas, wobei wir nur verlieren können. Im übertragenen Sinne beklagen wir uns über einen Trümmerbruch im Bein bei jemanden, den wir auch dem Hinweg beide Beine amputiert haben und einiges sehr scheußliches mit den Rippen, einem Auge und einigen anderen Körperteilen angestellt haben.
Zudem, man kann es wirklich nicht oft genug sagen: Revanchismus war noch nie eine gute Idee. Nie. Wirklich. Hatte immer schlimme Nachwirkungen.
Das einzige, was eine echte Zukunft hatte und hat ist Vergebung und zu versuchen neu miteinander anzufangen. 1965 schrieben die polnische Bischöfe an die deutschen Bischöfe einen Brief in dem stand „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ und schafften so die erste zaghafte Annäherung seit dem Krieg der beiden Länder. Viele Jahre später, als es darum ging eine der deutlichsten Folgen des Krieges zu beseitigen und aus zwei deutschen Staaten einen zu machen reagierten ausgerechnet die Polen um einiges entspannter, als beispielsweise die Franzosen und die Engländer.
Man wollte wissen ob ein vereintes Deutschland sich an den gemeinsamen Grenzverlauf hält (und was schrien da die Vertriebenenverbände auf!) und als ein klares „Ja“ kam, wünschte man uns alles Gute und betrachtete das weitere geschehen aus dem Zuschauerraum hinaus. Und sie hätten wirklich Grund gehabt nervös zu sein.
Es wäre grundsätzlich keine schlechte Idee daran zu erinnern, das auch Deutsche einmal massenhaft flüchten mussten und auf die Hilfe anderer angewiesen waren um zu überleben. Nach allem was ich an Reaktionen in den letzten Wochen sah, ist das eine Erinnerung die wir brauchen. Aber wie man daraus einen Tag machen soll, der an die Vertriebenen erinnert, ohne das dabei ein Tag der Schuldzuweisungen an andere wird, da bin ich einfach überfragt.
Vielleicht kurz zum Stimmungsbild der Deutschen, die schon immer in der Tschechei gelebt hatten und immer schon harmlos waren (um jetzt ein Beispiel zu nehmen): Am 4. Dezember 1938 gab es sog. "sudetendeutsche Ergänzungswahlen" zum "Großdeutschen Reichstag". In geheimer Abstimmung haben 98% der Wähler den "Retter des Sudetenlands" gewählt.
Danach kam Konrad Henlein der mit seinen "Henlein-Sudeten" die tschechische Bevölkerung schon früh terrorisierte, ebenso wie politischen Gegner und sie wie z.B. ein gewisser Prof. Theodor Lessing (der aus Deutschland in die Tschechoslowakei geflohen war) ermordete. Ermordet wurde er von Deutschen die "schon immer" in der Tschechei gelebt hatten aber gerne "im Reich" gewesen wären.
Hier hat ein Großteil der dt. Bevölkerung die Nazis gewählt und die Zerstörung der Tschechoslowakei betrieben. Alle Deutschen haben durch ihre neue (Besser-)Stellung und der gleichzeitigen Schlechterstellung der Tschechoslowaken von diesem Vorgang profitiert. Wer sich hier nicht gegen diese Vorgänge gewehrt hat, hat sich mitschuldig gemacht. Und das war und ist die Grundlage der Benes-Dekrete, welche die Vertreibung der Deutschen geregelt hatte. Aber (auch wenn ich mich wiederhole) sind trotzdem leider auch Verbrechen begangen worden, die im Rahmen der "wilden Vertreibungen" auch immer schon als Verbrechen bezeichnet wurden!
Noch einmal gerne eine theoretische Frage: wie hätte man in einem solchen Staat (unmittelbar nach einem Vernichtungskrieg welcher die Existenz eben dieses Staates in Frage gestellt hatte) mit Menschen umgehen sollen, die an der Vernichtung des Staates beteiligt waren? Eben allein auch im harmlosen Fall durch Unterlassung?
Vielleicht mal der Gegenfakt, dass man hinterher immer schlauer ist als vorher. Wer hat denn 1938 großartig davon gewusst, was kommen wird? Du gehst doch heute auch wählen und weißt vorher nicht, ob alles so bleiben wird oder ob da was ganz Schlechtes nachkommt. Würdest du es dann noch rechtfertigen, wenn man dich von deinem Grund und Boden verjagt, weil man danach erst feststellen konnte, dass deine Entscheidung vorher falsch war?
Sich jetzt hinstellen und sagen, dass alle Wahlberechtigten damals als Schuldige anzusehen sind, wenn sie dafür waren, ist recht leicht. Genauso, wie es eben damals leicht war die Leute mit Gewalt zu vertreiben.
Diese Diskussion zeigt mal wieder klar und deutlich, wie schwierig es auch 70 Jahte nach Kriegsende ist, so etwas ohne Schuldzuweisungen mit Worten auszufechten. Muss man wirklich gleich immer eine Diskussion über die Kriegsschuldfrage und Verbrechen von deutscher Seite führen, die hier niemand geleugnet hat? Kann man nicht einfach mal so gedenken?
Juri1877 hat geschrieben:Kann man nicht einfach mal so gedenken?
Aber genau darum geht es ja. Das Gedenken - ohne Bezug zum Krieg - stellt nicht nur die Schuldfrage, sondern beantwortet sie auch gleich. Nämlich dahingehend, dass hier die Angegriffenen zu Tätern gemacht werden und die Deutschen zu Opfern der Geschehnisse. Bitte zeige mir eine einzige Initiative des Bundes der Vertriebenen, der entsprechenden Vertreter von CDU und CSU, der sog. Landsmannschaften usw. die ein solches Gedenken wollen, ohne die Frage nach "Wiedergutmachung" an den deutschen Opfern wollen.
Oder ohne im gleichen Zug die Täter bei denen auszumachen, die vorher durch das Deutsche Reich bis zur Vernichtung angegriffen, besetzt und vertrieben wurden. So ein Gedenken ist hier schlicht IMMER ein Akt des Revanchismus. Die Diskussion zeigt hier bloß, dass 70 Jahre nach Kriegsende dieser Zusammenhang nicht mehr allgegenwärtig ist und wir uns auf dem Weg zur Relativierung aller Geschehnisse befinden.
Ich habe versucht die europäische Geschichte einmal so weit aufzudröseln, das man bis zu dem Punkt kommt wo man sagen kann: Ab da fing es aus diesen und jenen Gründen an schief zu laufen und kam bei dem Zeitpunkt an „Der erste denkende Mensch betrat europäisches Gebiet und legte sich umgehend mit einem mittelgroßen Baumstumpf an.“ Selbst Länder, die man für gewöhnlich für klein, nett und harmlos hält entpuppen sich im Blick der Geschichte als bluttriefende Axtschwinger. Sogar Lettland (man lese alleine mal die Geschichte ihrer Nationalflagge, brrr).
Lettland.
Bluttriefend.
Schwerter schwingend.
Da wird einem bewusst: Jeder Versuch etwas historisch aufzurechnen endet dabei, das man sich eben wegen dieser Aufrechnung prompt wieder in den Flocken hat und wenn dazu noch kommt, das man selbst zu einem Volk gehört das nie die einfachste Geschichte hatte, dann kann man den Versuch gleich bleiben lassen.
Wenn es einen Grund gibt weshalb die deutsche Geschichte eher etwas für Gore-Fans ist, dann wäre „Geografische Lage“ vielleicht ein halbwegs haltbarer Ansatz. Viele Nachbarn, viel Streit. Wanderlust würde das ganze gut ergänzen, denn das, was später mal „die Deutschen“ werden sollten besiedelte eine Weile alles, was nicht sehr ausdrücklich sie daran hinderte.
Christentum wäre ein weiterer Grund, die waren mal ausgesprochen aggressiv in ihrer Verbreitungspolitik, besonders was die Missionierung des europäischen Ostens anging. Und sie schickten da nicht nur freundliche, weise Priester, welche die frohe Botschaft verkündeten („Kirchensteuer!“), sie schickten den Deutschen Orden, dessen inoffizieller Schlachtruf in etwa „Give Clay!“ gewesen sein dürfte.
Kurz, die ganze Sache mit den Vertriebenen und wem nun welches Land wirklich wann und wie gehörte, die ist um so vieles älter als das 20. Jahrhundert und lässt sich heute wirklich nicht mehr auflösen.Wie sollte das aussehen? Das sich Ungarn hinstellt und an Brandenburg (oder Berlin, bin mir da nicht so sicher wer da nun der Nachfolger sein könnte) eine Entschädigung für die Nummer zahlt, sich erst von den Kumanen befreien zu lassen und nachher alle gegeben Versprechen zu brechen? Dafür kommt dann Litauen an und fordert Schmerzensgeld für all die Nerverei mit der Ost-Mission?
Man kann 1000 Jahre heilloses Durcheinander nicht mehr nachträglich klären, schon gar nicht aus dem noch existierenden Durcheinander heraus. Wenn man die Leiden aller gedenken will, dann sollte man sich vor Augen führen welch wunderbare Sache festgelegte Grenzen sind und wie reizvoll Zusammenarbeit zwischen Ländern ist, aber nicht damit anfangen „Wir mussten aber viel mehr leiden als andere“ oder „Wir hatten aber an der und der Stelle viel weniger Schuld.“
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