Musik als Ursache für zunehmenden Werteverfall?
Neulich bin ich auf das Buch "Gewaltmusik" von Klaus Miehling gestoßen. Der gute Herr, selbst Musiker und Komponist, behauptet, Popularmusik sei für den zunehmenden Werteverfall in der Gesellschaft verantwortlich. Seine Kernthese lautet im Grunde, dass die Präferenz eines Musikgenres zwangsläufig eine Identifikation mit selbigem impliziert. D.h. jemand der Metal hört, identifiziert sich mit den harten und aggressiven Klängen der E-Gitarre, bei jemandem der Rap hört, wird unterbewusst das Rollenbild "Gangster" aktiviert. Eine solche Identifikation würde dann entsprechendes Verhalten fördern. Der Metal-Hörer wird über kurz oder lang gewalttätig, der Rap-Hörer kriminell. Miehling führt durchgehend Statistiken auf die angeblich seine These belegen. So soll z.B. die Kriminalität mit der Entwicklung des Hip-Hops tatsächlich zugenommen haben.
Ich denke dass Miehling größtenteils Recht hat. Ein friedfertiger Geselle wird sich wohl kaum Musik wie Hardstyle oder Metal anhören, da die Musik wohl in der Tat die Spiegelneuronen anspricht. Einst konnte ich beobachten wie ein Bursche Hardstyle hörte, und währenddessen mit einer gehobenen Faust zum Beat wedelte. Schaut man sich bei YouTube um, wird man unter einigen Songs (Dubstep, Hardtrance) Kommentare finden wie "Ich verspüre aus unerklärlichen Gründen das Bedürfnis jemanden zu schlagen.". Auf den ersten Blick sieht so was natürlich lustig aus, aber es stützt tatsächlich die These von Miehling.
Kann man aber wirklich behaupten dass die Etabilierung von bestimmten Genres für einen allgemeinen Werteverfall sorgt? Das zumindest halte ich für eine gewagte Behauptung, schon alleine weil Sokrates seinerzeit den Werteverfall der jungen Generation beklagte. Demnach müssten wir nun tausende von Jahren später komplett verkommen sein, aber das ist ja nicht der Fall.
Wie seht ihr das denn, meint Ihr auch dass Musik derart starke Auswirkungen auf Menschen haben kann? Glaubt Ihr dass man selbst aggressiv sein muss um aggressive Musik zu konsumieren?
Der Kollege Miehling wird von der Fachwelt gemieden und mittlerweile gar nicht mehr ernst genommen. Das geschieht im Übrigen vollkommen zurecht, da Langzeitstudien den sowohl unglaublich dummen als auch wissenschaftlich nicht haltbaren Äußerungen Miehlings komplett widersprechen.
Miehling schmeißt in seinem Buch mit nicht belegten Vermutung, die er selbst als vermeintliche Tatsachen ausgibt, nur so um sich. Metal-Hörer neigen eher zur Aggressivität? Womit lassen sich dann die durchaus wissenschaftlich belegten Statistiken zur Friedlichkeit von Metal-Festivals und deren Besucher erklären? Warum möchte jeder Polizist, der in einer Hundertschaft dient, lieber dort abgestellt werden als beim Oktoberfest?
Gleichermaßen inhaltslos ist der Verweis auf Rap-Musik und deren Hörer. In den USA gehört diese Musikrichtung vor allem mit dem Subgenre Gangster-Rap noch heute zu den absoluten Spitzenreitern in Sachen CD-Verkauf. Dementsprechend hoch müsste der Anteil von Kriminellen sein, die diese Musik hören? Ist er aber nicht.
Musikalische Vorlieben ziehen sich durch alle Ebenen der Gesellschaft. Der biedere Steuerberater schüttelt Zuhause den Kopf zu Heavy Metal und würde bei einer Auseinandersetzung selbst noch die dritte Wange hinhalten, wenn er sie hätte. Der schwerkriminelle Knastbruder hört im Gefängnisradio vornehmlich Weltmusik oder Opern.
Musik kann, und das ist leider wirklich der einzige Punkt in Miehlings Buch, der einigermaßen haltbar ist, den er aber nur von Vordenkern dieser Forschung aufgreift, spezielle charakterliche Tendenzen eines Menschen verstärken.
Diese sind aber bereits vorhanden und entstehen nicht durch die Musik. So entscheidet man sich auch dann bewusst für jene Musik, weil man seine charakterlichen Tendenzen dadurch verstärkt sieht oder sie zu einer momentanen Stimmungslage passt. Die Musik dient dabei als freiwillig zur Hand genommener Verstärker.
Genau so gut kann sie jedoch als Katalysator dienen. Ansonsten gäbe es im Rahmen der Aggressionsbewältigungstherapie nicht eben diesen Einsatz von Musik. Wer seine angestaute Wut oder Aggressionen Mithilfe von Musik abgeben kann, ohne dabei Dritten zu schaden, sollte dies auch tun.
Verallgemeinernd kann hierzu also gar nichts festgestellt werden. Deshalb sind der damit verbundenen Forschung auch ihre Grenzen auferlegt, da sich die Menschen und deren Charakter nun einmal von Fall zu Fall unterscheiden. Dieser Umstand ist dem Herrn Miehling, der sich selbst für recht schlau hält, leider entgangen. Und damit die grundlegendste Regel bei jeder Art von Forschung, die sich mit Musik beschäftigt.
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