Dinge nicht sehen wollen um Erinnerungen nicht zu zerstören?

Meine Urgroßmutter lebte auf einem kleinen Bauernhof. Das Haus war sehr altmodisch gebaut, es war alles aus Holz, die Fenster waren im ganzen Haus nur einfachverglast und so gefror im Winter teilweise sogar die Erde der Pflanzen, die meine Urgroßmutter auf der Fensterbank stehen hatte. Geschadet hat ihnen das nicht.

Dann gab es noch einen tiefen dunklen Keller ohne Licht und im Haus gab es kein Badezimmer. Wer sich waschen wollte, musste dies in einer Schüssel tun und draußen gab es ein Plumpsklo. Der Garten war sehr schön, es gab Obst und Gemüse und viele bunte Blumen. Irgendwo zwischen den Beten befand sich ein unterirdisches Versteck in dem die Familie sich vor den Deutschen und vor den Russen versteckt hatte.

Das ganze Haus war in einer grünen Farbe gestrichen und direkt an dem Haus dran, war ein weiteres Haus gebaut was ähnlich aussah. So standen die beiden so in der Landschaft herum, links und rechts von ihnen kamen irgendwann Bauernhöfe. In der anderen Haushälfte lebte eine alte aggressive Dame die Auschwitz überlebt hatte.

Meine Urgroßmutter ist vor einigen Jahren gestorben und meine Oma hat sich nicht weiter um das Haus und den Garten gekümmert. Sie wohnt in einer Großstadt etwas weiter weg und besucht von Zeit zu Zeit das Grab meiner Urgroßmutter in dem kleinen Ort der aus kaum mehr als 6 Gebäuden und einer uralten Kirche besteht, die dem UNESCO Welterbe angehört.

Als ich etwas älter wurde hatte ich beim Besuch meiner Großmutter häufiger den Wunsch das Haus meiner Urgroßmutter zu besuchen. Ich wollte es gerne sehen, da ich dort viel Zeit in meiner Kindheit verbracht habe, auch meine Mutter ist dort aufgewachsen. Meine Oma weigerte sich aber, denn sie meinte, sie wolle ihre Erinnerungen nicht zerstören. In ihrer Vorstellung war das Haus noch schön und gepflegt und der Garten voller Blumen.

Heute schaut die Realität etwas anders aus. Bei meinem letzten Besuch an diesem Ort war ich mit meinem Vater und meinem Bruder dort und es war schwer überhaupt dorthin zu gelangen, weil die Straßen große Schlaglöcher hatten und keiner sie mehr pflegte. Der Ort wirkte verlassen und doch war das grüne Holzhaus von jemandem aufgekauft worden. Was die Person damit vor hatte, wussten wir nicht.

Mein Bruder wollte dann in Zukunft auch nicht mehr in den Ort fahren. Nur bis zum Friedhof sollte es gehen, nicht weiter. Wenn das Haus abgerissen worden war, dann war das sicherlich kein guter Anblick und er wollte sich diese Erinnerung offenbar auch bewahren und sie nicht durch eine neue, schlechtere Erinnerung ersetzen.

Wie ist das bei euch, kommt es bei euch auch vor, dass ihr Erinnerungen habt an die ihr euch gerne erinnert und wo ihr dann Angst habt, dass diese verschwinden oder verblassen, wenn ihr den Ort noch einmal seht und dann auch seht, dass es gar nicht mehr so ist wie damals? Oder möglicherweise auch seht, dass bestimmte Dinge in eurer Erinnerung gar nicht stimmen? Verzichtet ihr dann auch lieber darauf Orte von früher zu sehen?

Ich habe lange Zeit Probleme damit gehabt, an der Palliativstation der örtlichen Klinik vorbei zu gehen, weil ich damit die letzten Wochen meiner Mutter verband und da sowohl schlechte, wie auch gute Erinnerungen wach wurden. Da es sich leider nicht vermeiden lässt dort vorbei zu gehen, haben sich die Probleme damit in wenig verflüchtigt.

Ich würde gerne das Haus in dem meine Großmutter lebte noch mal sehen. Allerdings war das schon beim letzten Besuch nicht mehr so wie wir es als Kinder kannten. Es ist auch nicht das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. Allerdings verbrachten wir als Kinder dort viele schöne Stunden. Ich befürchte allerdings, auch hier würden nur schlechte Erinnerungen hoch kochen.

Meine Patentante habe ich das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Mutter gesehen. Sie wohnt weiter weg. Ich habe sie seit Jahren nicht besucht. Ich glaube ich scheue den Besuch auch, weil es mich sehr an meine Mutter erinnern würde.