Mutterschaft - kein Trauern vor 72h?
In einem Interview mit der berühmten Anthropologin Sarah Hrdy habe ich vor kurzem gelesen, dass sich Mütter wohl ohne emotionale Kosten innerhalb von 72h nach der Geburt von ihrem Kind lösen können. In dem Interview hat sie das sehr allgemein formuliert und keine Ausnahmen zugelassen. Nach der Geburt wird bei der Mutter erstmal ein Hormon ausgeschüttet, was dazu führt, dass sie das Neugeborene liebt.
Andernfalls wäre das Kind nur ein verschrumpeltes, quengelndes Etwas, was einem sehr viel Leid zugefügt hat und bei dem es eigentlich keinen guten Grund gibt, es zu lieben. Das Phänomen ist schon von vielen Forschern untersucht worden, denn Frauen die das Hormon nicht ausschütten, lieben ihr Kind oft nicht und haben Depressionen oder Probleme mit dem Kind umzugehen.
Trennt man das Kind aber innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt von der Mutter, dann hat das in der Regel keine großen Konsequenzen für die Mutter. Die Mütter lieben das Kind zu dem Zeitpunkt aufgrund hormoneller Schwankungen nicht oder zumindest nicht so sehr, wie sie es später tun werden. Später führen andere Hormone dazu, dass die Mutter in das Kind absolut vernarrt sein wird und nichts anderes mehr machen will, als sich mit dem Kind zu beschäftigen.
In anderen Kulturkreisen wird die 72h Grenze daher oft genutzt. Man lässt zwischen Mutter und Kind eine Distanz, so dass die Mutter sich in Ruhe überlegen kann, ob sie das Kind will oder nicht. Wenn sie es nicht will, dann leidet sie nicht so sehr oder gar nicht unter dem Verlust des Kindes.
War euch klar, dass es diese 72h Grenze gibt und hat diese auch in Deutschland eine Bedeutung? Sind dramatische Szenen von heulenden Frauen im Fernsehen, denen das Kind nach der Geburt entrissen wird dann nicht eigentlich eher hinfällig?
Ich denke, wenn ich ehrlich bin, dass das eine schwachsinnige Aussage ist. Ein bisschen so etwas wie die 3 Sekunden Regel, wenn dir etwas auf den Boden gefallen ist. Eine Mutter bekommt automatisch auch schon während der Schwangerschaft eine Menge Hormone mit, die eben auch dafür sorgen sollen, dass man das Kind gesund auf die Welt bringt.
Man bekommt in aller Regel aber auch eine Beziehung zu einem kleinen Etwas im eigenen Bauch und so kann ich mir nicht vorstellen, dass es einem dann egal ist, wenn man diesen Zeitraum einhält, weil es eben auch eine Zeit danach gibt und man dann eben auch darüber nachdenkt was vorher war und dann auch an das Kind denken wird. Ich halte diese Angabe der Stunden für nicht realistisch.
Also ich halte die These für sehr gewagt. Nur mal so aus dem Nähkästchen. Ich habe am Abend per Kaiserschnitt entbunden und meine Kinder erst am nächsten Morgen das erste Mal gesehen. Rund zwei Stunden danach wurde eine meiner Töchter in ein anderes Krankenhaus verlegt und ich sah sie da noch mal kurz. Das war Samstagvormittag und ich habe sie erst Mittwochnachmittag das erste Mal besuchen dürfen.
Hier würde also diese Regel mit den 72 Stunden in das Zeitfenster passen. Aber ansonsten passt sie nicht, denn ich liebe meine Tochter und da konnte auch diese Trennung nichts daran rütteln. Wenn überhaupt würde ich nur soweit gehen und behaupten, dass dies bei Frauen zutreffen kann, wo es kein Wunschkind war.
Aber wer ein Wunschkind geboren hat, der wird sein Kind lieben, auch wenn man es erst Wochen nach der Geburt sehen kann. Und das hat meine Mutter in ähnliche Form mit mir erlebt. Es war zwar nur etwa eine Woche, aber sie hat mich nach der Geburt gar nicht gesehen, weil auch ich eine Kaiserschnittgeburt war. Trotzdem liebt mich meine Mutter und das seit über 40 Jahren.
Es stimmt schon, dass eine Mutter nach der Geburt voll von Hormonen ist und klar sind die dazu da, dass sie das unbändige Gefühl hat, das Kind zu beschützen. Aber das ist doch nicht die ganze Grundlage für die Liebe.
Wenn eine Frau schwanger ist, malt sie sich die Zukunft aus, sie freut sich auf das Kind, sie richtet ein Kinderzimmer ein, sie beginnt sich als Mutter zu sehen, sie redet mit dem Kind und gibt ihm einen Namen und so weiter. Wenn das alles plötzlich wegfällt, sieht ihre Zukunft wieder ganz anders aus. Das geht doch nicht spurlos an ihr vorbei.
Selbst, wenn man das Kind nicht will und sich schon für eine Adoption entschieden hat, funken einem nicht nur die Hormone in die Quere. Man hat doch die Geburt erlebt. Man weiß, dass es da jetzt diesen kleinen Menschen gibt, der jemanden braucht. Das sind doch auch ganz nüchtern betrachtet Gedanken, die einem nun mal kommen.
Also meiner Meinung nach sind Hormone einfach nicht alles. Ja, sie sind da und sie steuern viel. Aber es gibt eben auch echte Gefühle, positive und negative. Hoffnungen, Erwartungen, Ängste und Träume, die man auch schon Jahre vor der Schwangerschaft hatte. Es gibt gesellschaftliche Verpflichtungen und Moral, die unser Denken beeinflussen. Es lässt sich nicht auf einen Faktor reduzieren.
Ich halte diese These ehrlich gesagt für ziemlich unglaubwürdig. Hormone sind eben nicht alles, es spielen auch Charakter und Persönlichkeit der Mutter da mit rein und dann noch, wie sie die Geburt empfunden hat, welche Bindung sie während der Schwangerschaft zu dem Kind aufgebaut hat etc.
Wenn ich schwanger wäre, würde ich mich die ganze Zeit auf das Kind freuen. Ich würde das Zimmer einrichten, Babysachen kaufen und total glücklich darauf warten, wenn es sich bewegt oder tritt. Da werden keine 72h ausreichen, damit ich mein Kind "vergesse". Das kann ich mir definitiv nicht vorstellen.
Es gibt ja auch so Fälle, wo es Komplikationen bei der Geburt gibt und das Kind sehr schnell in ein anderes Krankenhaus verlagert wird. Das war bei meiner Tante der Fall, als sie damals meinen Cousin bekommen hat. Es war nämlich so, dass sie eine Frühgeburt hatte und das Kind direkt auf eine Kinderklinik in den Brutkasten musste. Es kam Ende des 6. Monats zur Welt und es war wirklich sehr knapp. Da durfte man nach der Geburt auch keine Zeit verlieren und musste schnell Handeln.
Dementsprechend hat sie ihr Kind nach der Geburt auch kaum gesehen, sondern erst später. Wie viel später weiß ich allerdings nicht. Sie war trotzdem sehr unruhig und wollte unbedingt bei ihrem Sohn sein. Sie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihr Kind zu sehen, was ich auch durchaus verstehen kann. Das stimmt dann aber nicht mit deiner These überein.
Wenn diese These zutreffen würde, dann hätten wir keine Möglichkeiten, Sternenkinder zu begraben. Wenn Mütter nicht nicht trauern würden, wenn sie in den ersten 72 Stunden vom Kind getrennt werden, dann hätte niemand für das Recht gekämpft, dass auch still geborene Kinder mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm bestattet werden können.
Das ist einfach viel zu simpel gedacht. Eine emotionale Bindung zum Kind entsteht schon vor der Geburt. Und Frauen, die ihre Kinder aus welchen Gründen auch immer verloren haben, trauern in der Regel. Das war auch schon in früheren Zeiten so.
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