Sind wir selbstlose Schwindler, weil keiner verletzt wird?

Ganz ohne Lügen kommt kein Mensch aus. Wir kennen zwar die ganzen Sprichwörter wie „Lügen haben kurze Beine“ und andere, aber trotzdem machen wir Ausnahmen, und zwar täglich. Wir benutzen Ausreden oder Notlügen, nur um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Unser schlechtes Gewissen meldet sich und der Bauch grummelt, uns ist nicht wohl dabei. Wir lügen, um dem anderen nicht weh zu tun, ihn nicht zu verletzen. Deshalb haben wir häufig ein gutes Gefühl, obwohl wir lügen.

Sagt jemand, dass er nicht lügt oder heute noch nicht gelogen hat, dann hat er nicht richtig nachgedacht. Bestimmt hat er jemandem schon „einen guten Tag“ gewünscht. In Wirklichkeit aber wünscht er ihn zum Blocksberg. Oder jemand fragt: „Wie geht es ihnen heute?“ Man sagt: „Gut, danke.“ In Wirklichkeit kann man sich vor Schmerzen kaum bewegen. Das könnte man so fortsetzen.

Wir lügen häufig aus Höflichkeit und wir lügen aus Angst, aber auch, um freundlicher zu erscheinen. Wir Lügen, weil unsere Gefühle niemandem etwas angehen. Ja, wir belügen uns sogar selbst, wenn wir uns nicht eingestehen wollen, dass wir Unrecht haben. Wir trösten andere mit einer Lüge. Sind wir also Schwindler? Nur weil wir aus der Absicht heraus lügen, dem anderen nicht weh zu tun?

Da wir offensichtlich eine ganze Menge lügen, würde ich schon sagen, dass der Mensch allgemein ein Schwindler ist. Das klingt aber im ersten Moment wesentlich dramatischer als es letzten Endes wirklich ist. Es kommt ganz auf die Absicht des Schwindlers an. Wenn ich jemanden aufgrund einer anstehenden Überraschung anlüge, sind die Absichten keineswegs schlecht. Wahrscheinlich funktioniert die Überraschung ohne Notlüge nicht. Das sind aber alles auf Kleinigkeiten basierte Lügen und diese nehmen wohl den Großteil aller Lügen ein.

Wesentlich schlimmer wird es, wenn wir Lügen um uns einen Vorteil auf Kosten anderer Mitmenschen zu verschaffen. Das kann in allen erdenklichen Situationen passieren. Im Berufsleben kann durch eine Lüge ein Vorteil verschafft werden, der dazu führt, beruflich aufzusteigen und seine Kollegen auszubremsen. Oder man verbreitet gezielt Lügen, um den Ruf eines Menschen zu beschmutzen und ihn auf ein soziales Abstellgleis zu stellen. Diese Arten von Lügen, die leider viel zu häufig vorkommen, sind wohl die Schlimmsten und Verachtungswürdigsten. Jemand, der auf solche Mittel zurückgreift, ist schlichtweg ein schlechter Mensch.

Bezüglich der Höflichkeitslügen bin ich eher unentschlossen. Im Grunde ist es in Ordnung, wenn mir jemand sagt, dass es ihm gut geht, obwohl es ihm richtig schlecht geht. Es liegt einfach nicht in meiner Macht, das zu kontrollieren. Allerdings verwehren sich Höflichkeitslügner somit auch die Möglichkeit, durch seine Mitmenschen unterstützt zu werden. Ob aus purer Eitelkeit oder einem anderen Grund ist da nicht wirklich relevant. Ich persönlich versuche immer möglichst ehrlich zu sein. Wenn es mir nicht gut geht, und mich fragt jemand nach meinem Wohlbefinden, sag ich es ihm. Vielen Menschen erkennt man dann an, dass diese Frage an sich nur reine Höflichkeit darstellte, aber nichts mir ehrlicher Nachfrage meines Gemütszustandes zu tun hatte. Das empfinde ich ebenfalls als ganz schlechte Charaktereigenschaft und zeigt letzten Endes auch nur, wer ein Schwindler ist. Immerhin kann man so erkennen, wer es ernst meint und seinen Kontakt mit dieser Person auf das Nötigste beschränken.

Ich würde von mir jetzt nicht unbedingt behaupten, dass ich primär lüge um anderen nicht weh zu tun, wobei es aber sicher auch vorkommt. Weil ich eigentlich der Meinung bin, dass ein erwachsener Mensch mit der Wahrheit klar kommen sollte, wenn sie in angemessener Form vorgetragen wird.

Wenn ich jemandem sage, dass es mir gut geht und ihm nichts von meinem gezerrten Oberschenkelmuskel erzähle, der beim Treppensteigen verdammt weh tut, dann vielleicht deshalb, weil ich einfach keine Zeit oder keine Lust auf eine Unterhaltung habe. Es gibt ja so Leute, die sich dann gleich aufgefordert fühlen von ihren eigenen Sportverletzungen zu erzählen und Tipps zu geben.

Und solche Sachen wie "guten Tag" oder "Gesundheit", wenn jemand niest, sind für mich einfach Höflichkeitsfloskeln, die ich gar nicht mit den Worten in ihrer eigentlich Bedeutung in Verbindung bringe. Wenn ich Englisch spreche sage ich auch "bless you", obwohl ich gar nicht an Magie glaube. Ich kenne Leute, für die dieser Zusammenhang tatsächlich ein Problem ist, aber ich sehe die eigentlich Bedeutung eben in dem Moment gar nicht. Deshalb denke ich auch nicht "ich wünsche dir einen schlechten Tag", wenn ich jemandem, den ich nicht mag, einen guten Tag wünsche. Ich benutze einfach die Floskel, die zur gegebenen Situation passt.

Ja, solche Höflichkeitsfloskeln sind einem schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man nicht mehr darüber nachdenkt. Natürlich sagt man nicht jedem, wenn es irgendwo zwickt oder schmerzt, weil man einfach keine Lust hat, sich volllabern zu lassen.

Wenn man schon schwindelt, sollte man vorsichtig sein bei barmherzigen Lügen. Wenn jemand sehr krank ist und man schwächt das ab durch eine Lüge, kann die schnell durchschaut werden. Kranke haben da eine besondere Antenne für Lügen. Eine Lüge zu gebrauchen, um sich auf Kosten anderer einen Vorteil zu verschaffen, das ist wirklich die gemeinste Lüge, die man sich ausdenken kann. Einen solchen Menschen würde ich bloßstellen, wenn ich das erfahren würde.

Wahrheit ist meiner Meinung nach relativ. Zu Lügen um sich Diskussionen zu ersparen oder nicht zu verletzen, finde ich OK. Es bleibt ja in einem Rahmen. Die, die wirkliche Schwindler, wirkliche Lügner sind, und nie geradeheraus sagen können was Sache ist, deren Tagesprogramm das Lügen ist - egal ob sie vorgeben andre zu schützen oder damit eben höflich zu sein - die entlarvt man früher oder später, man merkt einfach dass es Lügner sind, irgendwann, nicht zu vergleichen mit Menschen die immer wiedermal schwindeln und genauso andren die Tatsachen reindrücken, auf der andren Seite.

Ich würde jetzt nicht soweit gehen und uns alle als Schwindler bezeichnen. Einfach bietet die Wahrheit oft keinen Raum, um ausgesprochen zu werden. Um ehrlich zu sein, bediene ich mich hin und wieder auch ein paar "Schönheitslügen", um meinen Gegenüber nicht zu verletzen oder um mir unnötige Diskussionen mit meinem Gegenüber zu ersparen. Einigen kann man auch nicht zu 100 % die Wahrheit sagen, weil sie sie einfach nicht vertragen oder akzeptieren bzw. verstehen würden.

Wenn ich mir vorstelle, immer und überall zu 100 % die Wahrheit zu sagen, würde ich sicherlich in einige heftige Diskussionen verwickelt werden.

Es kommt sicherlich auch auf die persönliche Einstellung an und auch auf das Umfeld, in dem man sich befindet, denn nicht jeder verkraftet die Wahrheit, wenn man gnadenlos ehrlich sein müsste.

In manchen Situationen kann man auch gar nicht so recht die Wahrheit sagen. Wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, in meinem Job jedem Kollegen die Wahrheit zu sagen, würde ich sicherlich das Betriebsklima nachhaltig schädigen. Man schluckt einfach Dinge herunter, geht seiner Arbeit nach und denkt sich seinen Teil. Manchmal muss man einfach lügen oder schwindeln, weil die Wahrheit entweder nicht angebracht ist in diesem Moment oder weil man genau weiß, dass der Gegenüber die Wahrheit gar nicht hören möchte oder auch gar nicht akzeptieren würde.

Schwindeln oder lügen in leichtem Maße gehört somit einfach zum Alltag dazu und wird, solange man nicht nachhaltig jemand damit böse verletzt, schon als normal vertreten und akzeptiert. Man macht sich darüber später keine großen Gedanken mehr, warum man in dieser Situation nicht die Wahrheit gesagt hat oder ob es vielleicht besser gewesen wäre, die Wahrheit zu sagen. In dem Moment, wo man schwindelt, fühlt es sich so richtig an, weil es nicht anders möglich war. Bei größeren Lügen würden mich sicherlich im Nachhinein Gewissensbisse plagen.