Missbrauch: Trotz Geldmangel keine Entschädigung einfordern?

vom 23.02.2012, 11:21 Uhr

In den letzten Jahren wurde ja eine unglaubliche Vergangenheit von öffentlichen und kirchlichen Erziehungseinrichtungen offenbart. Tausende Kinder und Jugendliche wurden in diesen Einrichtungen sexuell missbraucht sowie physisch und psychisch misshandelt. Auch wenn man solche Taten nicht mit Geld aufwiegen kann, ist eine Entschädigung doch das mindeste, was die Kirche sowie der Staat in dieser Situation tun kann. Deshalb meldeten sich in Österreich im letzten Jahr insgesamt über 3000 mittlerweile erwachsene Menschen, die nun entschädigt werden.

Meine Eltern haben einen Bekannten, der ebenfalls Opfer dieser Gewalt wurde. Er war in einem öffentlichen Erziehungsheim und wurde dort von den "Schwestern", also den Erzieherinnen schwerst physisch und psychisch misshandelt. Körperliche Gewalt gehörte zur Tagesordnung und er und die anderen Kinder wurden unglaublich gedemütigt. Da eine solche Kindheit bleibende Spuren hinterlässt, fällt es ihm unglaublich schwer, ein normales Leben zu führen. Er hat weder eine Familie noch eine geregelte Arbeit. Deshalb ist er auch in ziemlichen Geldmangel.

Trotzdem will er sich nicht bei den Anlaufstellen melden und eine Entschädigung anfordern, obwohl diese mehrere zehntausend Euro beträgt. Ich selbst habe zwar nicht mit ihm gesprochen, allerdings meine Eltern. Er hätte gesagt, dass er seine Vergangenheit endlich ruhen lassen will und nicht wieder alles hochkommen lassen will. Deshalb verzichtet er gerne auf das Geld. Ich kann das ehrlich gesagt nicht so ganz nachvollziehen. Es muss unglaublich schwer sein, darüber zu reden. Aber unter solchen Lebensumständen sollte einem das doch eigentlich wert sein. Wie seht ihr das? Versteht ihr, wieso er auf die Entschädigung verzichtet?

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» mendacium. » Beiträge: 750 » Talkpoints: 17,61 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Vielleicht überschätzt du bei deiner Einschätzung auch den Wert bzw. die Wirkung solcher Entschädigungen auf die Opfer. Wenn der Bekannte im Moment sowieso klamm ist bzw. hier generell ein Problem hat, dann würde diese Entschädigungszahlung vielleicht seine Situation für ein paar (wenige) Monate verbessern. Wenn man unterstellt, dass bei Vorhandensein von Geld dann die Ausgaben und Ansprüche wachsen, dann liegt sogar der Verdacht nahe, dass vielleicht auch schon nach Wochen der Status Quo wieder erreicht wurde, und dann nichts gewonnen wäre. Aus rein finanzieller Sicht kann also die eigene prekäre Lage nicht Antriebsfeder sein, weil einfach der Nutzen begrenzt ist, der Aufwand um zu einer Auszahlung zu kommen, hingegen vermutlich recht hoch. Auch Emotional, weil man praktisch einen Beweis führen muss, selbst Opfer gewesen zu sein.

Dann muss bitte auch bedacht werden, dass hier bei der Persönlichkeit sicher viele Punkte den Lebenslauf negativ beeinflusst haben dürften. Allein die Tatsache der schlechten Zustände im Erziehungsheim ist da sicher nicht ursächlich! Vielleicht liegt die Ursache der Traumatisierung ja im Umstand, überhaupt in ein Erziehungsheim gekommen zu sein. Hier jetzt die Wurzel allen Übels zu suchen, ist zu einfach. Insbesondere für Außenstehende.

» derpunkt » Beiträge: 9898 » Talkpoints: 88,55 » Auszeichnung für 9000 Beiträge


Ich denke, vielen ist gar nicht bewusst wie sich Missbrauch anfühlt. Nein man muss Missbrauch nicht erlebt haben, um Missbrauch grausam zu finden. Aber jemand der keinen Missbrauch erlebt hat, egal welcher Art, kann nicht wirklich nachvollziehen, wie es in den betroffenen Menschen aussieht.

Als nicht Betroffener sieht man durchaus da das Geld winken. Gerade wenn man selber nicht viel hat oder weiß, der andere hat nicht viel Geld. Aber ist das Geld es wirklich Wert? Wird sich mit einer Zahlung von ein paar Euro nur irgendwas ändern?

Eine Befragung lässt alles wieder hoch kochen. Das kann nicht jeder. Und es bleibt meistens nicht bei einer kleinen Befragung. Oftmals wird dann angefangen anzuzweifeln, es werden Beweise gefordert und so weiter. Wobei oftmals noch hinzu kommt, dass die Betroffenen als Kinder, also während den Vorfällen, schon Ansprechpartner gesucht haben. Und dort dann oft mit einem Kann nicht sein abgebügelt wurden. Die Opfer als Kinder bereits kennen gelernt haben, wie es ist, wenn einem keiner glaubt.

» LittleSister » Beiträge: 10426 » Talkpoints: -11,85 » Auszeichnung für 10000 Beiträge



Viel Schadensersatz oder Schmerzensgeld wird man vermutlich nicht bekommen, wenn man gegen die Misstaten durch kirchliche Einrichtungen vorgeht und vor allem wird dieses Geld die Wunden, die ganz besonders ein Prozess wieder aufreißen würde wohl eher nicht heilen, sondern sie vielleicht sogar offen halten. Von daher kann ich es schon sehr gut verstehen, wenn man auf das Geld verzichtet und dafür lieber die Vergangenheit auf sich beruhen lässt.

Ich als Betroffener würde abwägen, ob die Taten für mich noch einmal zu reflektieren wären und ich dafür das Geld nehmen kann. Denn ich wäre mir nicht sicher wenn man mich so spontan fragt, ob ich wenn ich betroffen wäre die Kraft dazu hätte, alles noch einmal zu schildern. ich würde wahrscheinlich lieber auf das Geld verzichten, auch wenn es bei mir finanziell nicht so rosig aussieht, und dafür ein friedliches Leben weiter leben. Und ich denke, dass viele wirklich Betroffene ähnlich denken wie ich.

» Anky » Beiträge: 579 » Talkpoints: 4,27 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Du stellst dir das ganze Prozedere recht einfach vor. So wie du das beschreibst, geht man hin, meldet wo man in welchem Zeitraum gewesen ist und gibt seine Kontonummer an. Nur so läuft das nicht. Der Bekannte von euch würde quasi jemanden, hier das Erziehungsheim, anklagen und hat dann auch die Beweisführung.

Klar, kann er Glück haben und andere ehemalige Bewohner aus diesem Heim, haben schon entsprechende Beweise gebracht. Nur das weiß euer Bekannter nicht. Ihm steht also erst mal ein Spießrutenlauf bevor, welcher auch ins Leere laufen kann. Zumal eben auch noch die Ursachen für sein jetziges Leben vor dieser Zeit im Erziehungsheim liegen können. Und damit wird man argumentieren.

Weißt du denn, warum er dorthin gekommen ist? Das muss ja auch Gründe haben und diese wird man von der Gegenseite her als Ursache nehmen. Wobei eben die damaligen Erlebnisse nicht ausschließlich der Grund für sein jetziges Leben sein müssen. Das kommt auch bei Menschen vor, welche eine wohl behütete Kindheit hatten.

» Punktedieb » Beiträge: 17970 » Talkpoints: 16,03 » Auszeichnung für 17000 Beiträge


Ich kann das voll und ganz nachvollziehen, dass der Bekannte deiner Eltern sich scheut, einen Antrag auf eine Entschädigung zu stellen für die ihm als Kind oder Jugendlichem angetanen Misshandlungen. Er wird auch im Erwachsenenalter die schlimmen Dinge, die er erdulden musste, noch nicht vergessen können. Und wenn er nun einen Antrag stellen würde – was ich persönlich richtig fände – käme alles wieder hoch, was er tief in seinem Innersten mühsam begraben hat. Aber gibt es nicht eine Möglichkeit, eine städtische Einrichtung mit einem solchen Fall zu betrauen mit der Begründung, dass ein erneutes Aufrollen seelisch nicht mehr verkraftet werden kann. Vielleicht war er auch irgendwann bei einem Arzt oder Psychiater in Behandlung und das kann nachgewiesen werden. So dass es für ihn einfacher würde mit Fachkraft seine Ansprüche durchzusetzen.

» Cid » Beiträge: 20027 » Talkpoints: -1,03 » Auszeichnung für 20000 Beiträge


Auf der einen Seite kann ich verstehen, dass der Bekannte von deinen Eltern diese ganze SAche nicht noch mal durchleben muss. Wenn er zu dieser Anlaufstelle gehen sollte, dann wird er wahrscheinlich über all diese Sachen, die damals mit ihm gemacht wurden, ausgefragt werden und er wird ihnen alles erzählen müssen. Dadurch lässt es sich dann nicht vermeiden, dass die Gefühle, die er vielleicht über mehrere Jahre erfolgreich unterdrückt hat, wieder hochkommen und ihn erneut belasten und vielleicht auch demütigen.

Jedoch sollte er bedenken, dass es auch einen große Vorteil hätte, wenn er zu dieser Anlaufstelle geht. Er würde dann nicht nur eine Beschädigung bekommen, sondern hätte auch die finanzielle Möglichkeit sich ganz und gar einer Therapie zu widmen und diese schrecklichen Erinnerungen von damals zu verarbeiten. Vielleicht wäre es dann möglich, dass er wieder ein normales und geregeltes Leben führt, wen die Therapie erfolgreich ist.

» Hufeisen » Beiträge: 6056 » Talkpoints: 0,00 » Auszeichnung für 6000 Beiträge



Geld ist doch nun wirklich nicht alles. Sicherlich könnte er sich damit über Wasser halten, dafür müsste er aber seine kompletten Qualen noch mal durchleben und auch anderen Menschen mehrmals davon berichten. Ganz ehrlich gesagt denke ich nicht, dass das die Sache wert ist. Ein Missbrauch ist eine schwerwiegende Sache und daher ist es absolut verständlich, wenn man davon eben nicht immer wieder erzählen möchte und auch seinen Frieden finden möchte. Ich denke, dass muss jeder für sich selber entscheiden und wenn man nicht in einer solchen Situation war, kann man das ja auch nicht einschätzen, wie das so ist. Er will sicher nur seine Ruhe und die sollte man ihm auch gönnen.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


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