Woher kommt der Drang zur Selbstoptimierung?

vom 26.06.2019, 18:19 Uhr

Ich habe den Eindruck, dass der Drang zur Selbstoptimierung immer mehr zunimmt. Es wird gefühlt von allen Seiten aufgezeigt, wie man sich selbst, seinen Körper, seine Gewohnheiten, seine Leistung und Ernährung und seine Persönlichkeit optimieren und so effizient wie möglich gestalten könnte. Woher kommt aber dieser Drang - eigentlich schon fast "Zwang" - zur Selbstoptimierung? Inwiefern optimiert ihr euch selbst oder geht dieser "Trend" völlig an euch vorüber?

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» Täubchen » Beiträge: 33305 » Talkpoints: -1,02 » Auszeichnung für 33000 Beiträge



Dass es in unserer Gesellschaft einen ungesunden und immer stärker werdenden Drang zur Selbstoptimierung gibt, ist ja längst keine neue Beobachtung mehr und wurde ja bereits in sämtlichen Formaten lang und breit erörtert und diskutiert. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und das geht mit verschiedenen Dingen einher.

Viele Menschen wollen nahezu permanent das Beste aus sich herausholen, ihre Leistung, Fähigkeiten, Lebensführung auf ein Optimum hochpushen. Dass das eigentliche Glück und die persönliche Zufriedenheit dadurch aber leider nicht erreicht werden kann, ist etwas, das viele Menschen wohl entweder nicht einsehen oder ignorieren.

Ein weiterer, auch daraus resultierende Faktor ist, dass sich viele Menschen mit dem Optimieren jeglicher Lebensbereiche eine gewisse Kontrolle über ihr Leben erhoffen, welche aber nur begrenzt möglich ist, weil sich manche Dinge nun mal nicht immer vorherbestimmen lassen.

» Viktoria_ » Beiträge: 398 » Talkpoints: 32,44 » Auszeichnung für 100 Beiträge


Dazu gehört ja viel. Von der albernen App, die dich daran erinnert wann du wie viel Wasser trinken musst, bis zum guten alten Sport. Für mich, die ich hauptsächlich am Schreibtisch arbeite, macht Sport schon Sinn und eine ausgewogene Ernährung halte ich auch für sinnvoll.

Mit dem meisten anderen Zeug kann ich nicht wirklich viel anfangen. Ich weiß, wann ich Durst habe, ich brauche keine Anleitung zum Kleiderschrank ausmisten und T-Shirts falten und ganz kurios finde ich aktuell diese Obsession mit dem frühen Aufstehen. Die Leute tun so als wäre dadurch Zeit gewonnen, aber zumindest ich würde dann einfach früher müde werden am Abend und müsste das, was ich normalerweise Abends mache, dann auf den Morgen verlegen.

Ich denke auch, dass das viel mit Kontrolle zu tun hat. Und vielleicht wollen sich die Leute auch Erfolgserlebnisse schaffen, die sie sonst im Leben nicht haben. Da wird ja teilweise wirklich total banales Zeug getrackt. Das Wasser trinken ist ein Beispiel oder die fünf Minuten Meditation am Morgen oder die tägliche Portion Obst und Gemüse. Das sind alles leicht zu erreichende Ziele, die man dann am Ende das Tags abhaken kann.

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» Cloudy24 » Beiträge: 27476 » Talkpoints: 0,60 » Auszeichnung für 27000 Beiträge



Ich kann mir hier unterschiedliche Ursachen vorstellen, die zusammenspielen. Dass in unserer Gesellschaft Leistung schon etwas zu groß geschrieben wird, wurde ja schon erwähnt. Wenn man schon schief angeschaut wird, wenn man nicht 365 Tage im Jahr um halb fünf aufsteht, Yoga macht, sein Brot selber bäckt und neben "Familienmanagement" noch mindestens einen Job hat, kann das schon auf die Psyche schlagen.

Wer dagegen im Rahmen der Selbstoptimierung dokumentieren kann, dass er die letzten drei Monate nie mehr als die gesetzlich vorgesehenen 7 Stunden im Bett zugebracht hat, fühlt sich vielleicht eher bestätigt. Immerhin kann dir keiner vorwerfen, faul zu sein, sozusagen. Ob du vielleicht lieber ausschlafen würdest, ist bei dieser Denkensweise egal.

Auch das Selbstwertgefühl spielt in meinen Augen eine Rolle. Der schon erwähnte irrationale Leistungsdruck, den man natürlich auch mit einem Lächeln und gut sitzenden Haaren zu stemmen hat, führt zu Minderwertigkeitsgefühlen, wenn man trotz allem Gestrampel nicht so toll ist wie die Leute auf Instagram. Durch Selbstoptimierung kann man sich quasi sagen, dass man immerhin 8 Gläser Wasser am Tag trinkt und allein schon deshalb kein völliger Versager sein kann.

Ein weiterer Grund, der damit eng zusammenhängt, könnte das gesteigerte Bedürfnis nach Kontrolle im Allgemeinen sein. Die Welt ist so unübersichtlich und dreht sich so schnell, dass man ständig Gefahr läuft, zu stolpern und abgehängt zu werden. Selbstoptimierung verleiht den Menschen das Gefühl, zumindest ihren Körper und ihre Gewohnheiten im Griff zu haben und so einen festen Bezugspunkt. Was natürlich eine Illusion darstellt - Alter und Krankheit machen vor niemandem halt, egal ob mit oder ohne Fitness-Tracker-App.

» Gerbera » Beiträge: 11332 » Talkpoints: 52,90 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Ich finde es gar nicht so schlimm, wenn man versucht aus sich selber das Beste herauszuholen, immerhin kann man sich ja immer verbessern. Dabei rede ich nicht von irgendwelchen Operationen, sondern von dem eigenen Drang sich weiterzubilden, sich zu entwickeln und zu sehen was man besser machen kann. Man muss doch nicht immer auf der Stelle treten. Menschen, die das so sehen gibt es sicherlich schon immer und der Trend dazu keimt immer wieder auf in verschiedenen Bereichen.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


Ramones hat geschrieben:Ich finde es gar nicht so schlimm, wenn man versucht aus sich selber das Beste herauszuholen, immerhin kann man sich ja immer verbessern. Dabei rede ich nicht von irgendwelchen Operationen, sondern von dem eigenen Drang sich weiterzubilden, sich zu entwickeln und zu sehen was man besser machen kann.

Die Frage bei der Selbstoptimierung ist aber gerade: Hole ich wirklich das "Beste" aus mir heraus, wenn ich meinen Wasserkonsum überwache und dokumentiere wie die Pflegeperson einer schwer dementen Hundertjährigen im Hochsommer? Oder ist mein "Bestes" eher beim Malen oder Tanzen oder Spielen mit meinen Kindern oder mit dem Hund zu finden? Und "entwickle" ich mich wirklich, wenn ich mein Leben von Marie Kondo bestimmen lasse, obwohl ich eher der Siebenstein-Typ bin?

Ich denke, dass viele den Trend zur Selbstoptimierung gerade deswegen kritisch sehen, weil er viel mehr auf optimale Anpassung an gesellschaftliche Forderungen abzielt als auf das hehre Ziel der Persönlichkeitsentfaltung und entweder zum sinnfreien Selbstzweck verkommt oder die Leute eher daran hindert, ein gesundes, selbstbestimmtes und von Entwicklung geprägtes Leben zu führen.

Für die Siebensteins und Faulpelze, die Besonnenen und Verträumten ist nämlich kein Platz in einer Welt, wo es nur noch darum geht, besser zu sein, egal wie oder worin und ohne nachzudenken, ob es überhaupt Sinn ergibt.

» Gerbera » Beiträge: 11332 » Talkpoints: 52,90 » Auszeichnung für 11000 Beiträge


Gerbera hat geschrieben:Ich denke, dass viele den Trend zur Selbstoptimierung gerade deswegen kritisch sehen, weil er viel mehr auf optimale Anpassung an gesellschaftliche Forderungen abzielt als auf das hehre Ziel der Persönlichkeitsentfaltung (...)

Genau das ist mein Problem mit dieser Geschichte. Es geht oft eben nicht darum, dass man selber einen Bereich identifiziert hat, an dem man gerne arbeiten möchte. Viel mehr haben andere einen Bereich identifiziert, in dem viele Menschen vermeintliche Defizite aufweisen, und bieten dann eine Lösung an.

Es gibt ja einen großen Unterschied zwischen "ich möchte mein Spanisch für den Sommerurlaub verbessern" oder "ich möchte für den nächsten Halbmarathon trainieren" und "ich habe gehört, dass es ganz toll sein soll wenn man jeden Tag um fünf Uhr aufsteht, 15 Minuten meditiert, zehn Gläser Wasser trinkt und die T-Shirt Schublade nach Halbwertszeiten ordnet, das muss ich unbedingt ausprobieren!".

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» Cloudy24 » Beiträge: 27476 » Talkpoints: 0,60 » Auszeichnung für 27000 Beiträge



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