Wodurch habt ihr euren Glauben verloren?
Neben einigen Bekehrungen höre ich viel häufiger von Menschen, dass sie ihren Glauben verloren haben. Fast immer waren die Personen in ihrer Kindheit gläubig, und sagen dazu, dass sie damals regelmäßig in die Kirche, Moschee, Synagoge oder andere Glaubenszentren gegangen sind. Darunter mag es einige geben, die dies nicht aus eigener Motivation taten, sondern sich rückblickend dazu gezwungen fühlten. Mir geht es jedoch um euch andere.
Wer würde von sich sagen, dass er selbst eine Gottesbeziehung hatte, die auch über den Glauben in jungen Jahren standgehalten hat und hat diesen Glauben später verloren? Wie ist das passiert? Ich vermute, dass es meistens ein schleichender Prozess war und man Gebetszeiten ausgelassen hat, den Gottesdiensten erst gelegentlich und dann dauerhaft fernblieb und sich stattdessen bewusst mit anderen Dingen befasst hat. Oder gab es einen bestimmten Moment, wo euch klar wurde, dass ihr nicht mehr glaubt?
Bei mir wars so, dass ich schon als Jugendlicher hin und wieder Zweifel hatte, ob die religiösen Glaubensinhalte wirklich stimmen könnten. Ich hatte ursprünglich versucht, mit Gott zu kommunizieren, hatte aber ehrlich gesagt nie den Eindruck, dass ich von ihm gehört werden würde. So kam es, dass meine Zweifel im Lauf der Jahre immer größer wurden.
Dazu kamen dann noch verschiedene Einstellungen der katholischen Kirche zum Themenbereich Sexualität und Partnerschaften, die ich nicht nachvollziehen konnte. Aus meiner Sicht hätte ein gütiger und wohlwollender menschenfreundlicher Gott andere Entscheidungen für richtig gefunden, als solche, die von der katholischen Kirche vertreten wurden.
Letztendlich bin ich im Lauf der Zeit zu der Sichtweise gelangt, dass die Gottesvorstellungen eben doch wahrscheinlich von den Menschen entwickelt bzw. "erfunden" wurden. Sollte es Gott bzw. einen Gott geben, dann dürfte er meiner Ansicht nach deutlich andere Eigenschaften besitzen als solche, wie sie von den Kirchen verkündet werden.
@lascar: Danke für deine geteilten Erfahrungen. Woher kam denn dein Eindruck, dass Gott dich nicht hört? Hast du ihn gehört? Und was meinst du mit den Einstellungen der katholischen Kirche zur Sexualität? Mir waren diese in jungen Jahren völlig fremd.
So wurde ich eher beeinflusst von offenen, modernen, freizügigen Einstellungen und als Teenie durch den Vergleich mit anderen. Bei uns war es damals so, dass viele mit 13 ihr erstes Mal erlebten und jene, die am Ende des 14.Lebensjahres noch Jungfrau waren, galten schnell als Mauerblümchen. Zudem war das, was wir heutzutage Cat-Calling nennen, meine Realität als Teenager. Die Täter, erwachsene Männer, galten damals nicht als Täter, sondern es war normal, dass Familienväter sich von aufreizend angezogenen Mädchen erregt fühlten. Und uns Mädchen wurde vermittelt, dass wir es doch provozieren, wenn wir uns so anziehen und wir doch froh sein sollen, wenn wir etwas zeigen können.
Bis ich katholisch wurde, war ich sicher, dass mir das alles nicht geschadet hat. Auch wenn ich durchaus schon als junge Erwachsene erkannte, dass jene die mich entjungferten doch nicht die große Liebe waren- wie ich damals dachte. Und das die meisten der gültigen und wohlwollenden Herrschaften, die so mädchenfreundlich daherkamen, keineswegs aus Menschenfreundlichkeit handelten, sondern eher gesteuert von ihren Trieben.
Heute weiß ich, dass sich Gott andere Entscheidungen von mir gewünscht hätte. Das kann ich mir vergeben, wie auch den Beteiligten und habe meinen Frieden damit gemacht. Was bleibt sind dennoch Schäden und die Auswirkungen auf mein Leben. Ich kann nicht auf eine treue, harmonische Liebe blicken, für die ich Jahre lang gebetet habe und mich dafür aufbewahrt habe. Ich habe Sexualität, meiner heutigen Einstellung nach, zu früh kennengelernt und nicht als etwas von Gott gegebenes Besonderes.
Ich würde "Glauben" nicht mit Kirchgang oder den ganzen anderen Ritualen gleichsetzen. Ich selber wurde als Kind auch nicht "gezwungen", in die Kirche zu gehen, sondern bin eben mit der ganzen Familie sonntags losmarschiert. Auch die Gebete, die mir meine Oma und Mutter beigebracht haben, habe ich brav gelernt und mitgesprochen, weil es von mir erwartet wurde, nicht weil ich geglaubt habe, dass mich außer Oma noch jemand hören kann oder gar antwortet. Es ist nur normal und natürlich, dass ein Kind seinen Eltern gefallen und Momente der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit erleben möchte, und dafür waren kirchliche Rituale in meinem ersten Lebensjahrzehnt gut geeignet.
Aber hätten meine Eltern stattdessen Ausflüge in Freizeitparks gemacht oder tapfer irgendwelche Aufführungen oder sportlichen Erfolge von Klein Gerbera beklatscht, ohne jemals einen Fuß in die Kirche zu setzen, wären diese Erfahrungen eben meine Bonding-Momente geworden, ganz ohne Kreuz und Priester und Andacht und den ganzen Kram. Und mit der allmählichen Ablösung vom Elternhaus in der Pubertät habe ich eben wie die meisten Menschen Zugehörigkeit, Vertrautheit und gemeinsame Erlebnisse außerhalb meiner Kernfamilie gesucht. Mit "Glauben" hatte das nie irgend etwas zu tun.
Trisa hat geschrieben:@lascar: Danke für deine geteilten Erfahrungen. Woher kam denn dein Eindruck, dass Gott dich nicht hört? Hast du ihn gehört?
Nein, ich hatte zu Anfang regelmäßig gebetet, habe aber nie den Eindruck bekommen, dass mich jemand hört oder auf mich reagiert. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob das alles überhaupt stimmen kann, was man mir über die Religion erzählt hat.
Was die Themen Sexualität, Ehe und Partnerschaft betrifft, habe ich mich immer daran gestört, dass Homosexualität, Scheidung, Sexualität außerhalb einer Ehe etc. so streng und ablehnend gesehen wird. Ich konnte mir nie erklären, warum ein gütiger Gott die Menschen einerseits mit einem Sexualtrieb ausgestattet hat, um sie dann andererseits dafür quasi zu verurteilen, wenn sie diese auch ausleben und erleben wollen.
@Iascar: Dieser gütige Gott stattete uns im Gegensatz zu Tieren auch mit Verstand aus und dem freien Willen. Wir können unsere Triebe kontrollieren und das sollten wir auch- zu unserem eigenem Wohl. Ich vermute, dass jeder Mensch schonmal sexuelle Phantasien hatte, die lieber nicht ausgelebt werden sollten (zum Wohle der Allgemeinheit) oder für die es (vorübergehend oder manchen Menschen auch dauerhaft) kein adäquates Gegenüber gibt. Da kommt die Selbstkontrolle ins Spiel.
So sehe ich es auch bei anderen Phantasien, von denen Menschen getrieben werden: Macht, Geld, Ruhm, Substanzen, Besitz, Anerkennung, usw. All das kann für uns Menschen schädlich werden und wenn du dich umschaust, sei es in deiner direkten Umgebung, und noch viel mehr wenn du weltweit schaust, erkennst du vermutlich, dass vieles sicherlich nicht im Sinne des gütigen Gottes ist.
Früher dachte ich allerdings auch so, dass es doch nicht "natürlich" ist, wenn sich junge Menschen dafür entscheiden, Sexualität nur in einer christlichen Ehe auszuleben und auf den/die Richtige warteten. Mittlerweile durfte ich einige solcher Ehen kennenlernen und sehe dies durchaus als sehr erstrebenswert. Und bedauere, dass mir dieses Liebesglück aufgrund meiner früher getroffenen Entscheidungen, verwehrt bleibt.
Trisa hat geschrieben:Wir können unsere Triebe kontrollieren und das sollten wir auch- zu unserem eigenem Wohl.
Aber was sollte der Sinn sein, dass die Menschen mit einem starken Trieb ausstattet werden, den man anschließend mühsam kontrollieren muss? Das hat aus meiner Sicht nie einen Sinn ergeben. Außerdem habe ich nie verstanden, warum es unbedingt eine christliche Ehe sein muss, um gemeinsam glücklich zu leben. Andererseits ist auch eine christliche Ehe keine Garantie dafür, dass man eine glückliche und zufriedenstellende Beziehung erlebt.
Auch die Sache mit dem "auf den Richtigen warten" scheint mir eher eine Illusion zu sein. Meiner Erfahrung nach gibt es in der Regel nicht den einen "Richtigen", und falls doch, dann ist es Zufall, ob man diese Person finden und für sich gewinnen kann oder nicht. Eine Eheschließung ist jedenfalls keine Garantie dafür, dass man diese mit der einzig richtigen Person eingehen wird.
Gerbera hat geschrieben:Ich würde "Glauben" nicht mit Kirchgang oder den ganzen anderen Ritualen gleichsetzen.
Es ist nicht gleichzusetzen, sondern ein Teil davon. Ich sehe das so, wie in einer Partnerschaft, die auch nicht mit ihren Ritualen und dem gemeinsamen Aufenthaltsort gleichzusetzen ist. Diese braucht es für die Beziehungspflege. So sehe ich es auch bei Gott.
Ich bin nie zur Kirche gegangen, weil es irgendjemand von mir erwartet. Eher im Gegenteil. Ähnlich wie in einer Bibliothek, wo Menschen doch auch für sich hingehen, dort bestimmte Plätze bevorzugen, um sich mit dem zu befassen, wofür sie sich entschieden haben. So wie ich auch anderswo beten könnte, könnten Studierende auch anderswo ihre Bücher lesen. Und doch passt manches besser an bestimmte Orte, weil man dort unter Gleichgesinnten ist und die Atmosphäre förderlicher ist.
Anfangs sagten mir viele eher kritisch, dass man doch wohl überall mit Gott sprechen kann und so manche verweisen auf die Natur. Ich versuchte es- und merkte wie schwer es ist, ungestört zu sein. Selbst oder gerade fernab von Wegen, an eher ungemütlichen Tagen, gab es Begegnungen mit anderen Menschen, die entweder offensichtlich selbst ungestört sein wollte oder mich ansprachen und ihre Themen somit in mein Leben trugen. Manches durchaus interessant, anderes eher verstörend. Alles jedoch etwas, dass mich in diesen Momenten weit weg vom Gespräch mit Gott brachte.
In leerer Krypta gab es zwar auch schonmal jemanden, die meinte mich fragen zu müssen, ob ich alleine da bin und auf meine Antwort hin, dass Jesus auch da ist, mir etwas über ihre Glaubens- oder Unglaubensgeschichte erzählen wollte, aber das passiert wesentlich seltener.
@lascar: Erstmal zur christlichen Ehe. Jene Paare sehen das keineswegs als Zufall, sondern beteten oft Jahre lang dafür, dass Gott ihnen die Richtige zeigt. Ein katholischer Youtuber weitete dies gewissermaßen aus, dass er Gott bat, ihm entweder die Angst vor dem Leben im Kloster oder die Angst vor der Vaterschaft nehmen soll.
Ich selbst begann mich eher mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Ordensgemeinschaft der richtige Platz für mich wäre und bat Gott mir diese zu zeigen. Es brauchte ein bisschen, bis ich bereit war diese Gemeinschaft kennenzulernen, denn mein erster (und zweiter und dritter) Gedanke war eher "alle anderen fände ich passender".
Dann kommt der freie Wille ins Spiel. Wir können Gott bitten, uns zu helfen, uns den Weg zu zeigen oder uns die passenden Menschen zu "bringen". Was wir daraus machen, ob wir den Weg gehen, ob wir nach Gottes Willen handelt oder unserem Eigenwillen nachgeben, ist unsere Entscheidung.
Mit "der/die Richtige" meinte ich keineswegs, dass alles immer passt. Und natürlich ist eine Eheschließung keine Garantie, doch das eigene Versprechen kann vieles ermöglichen. Bei Haustieren verstehen viele dies besser. Tierliebhaber versprechen doch auch oft, ihrem Tier lebenslang treu zu bleiben, sich zu sorgen und alles zu tun. Dass ist keine Garantie, dass der süße Welpe nicht eine versteckte Behinderung oder Krankheit hat, die kosten- und pflegeintensiv wird und nicht immer nur Freude bringt.
Erst recht ist der Kauf keine Garantie, dass sich das Tier gut entwickelt und sich den eigenen Lebensumständen anpasst. Das ist Arbeit. Das ist nicht immer schön. Manche Probleme in den gemeinsamen Jahren wären sofort gelöst, wenn man sich vom Tier trennt, man hätte weniger Stress, mehr Zeit, wäre flexibler und freier. Das eigene Haus wäre sauberer, man würde seltener nachts wach, hätte mehr Geld zur Verfügung, usw.
So sehe ich es auch in einer Beziehung unabhängig davon, ob Ehe, Freundschaft, Interessensgemeinschaft, etc. Es ist unsere freie Entscheidung. Unser Versprechen, das wir abgeben. Und bei christlichen Versprechen wie dem Tauf- oder Ordensgelübde, der Jungfrauen- oder Priesterweihe, der Firmung und Ehe kommt als Unterstützer Christus hinzu. Gott verspricht uns nicht, dass unser irdisches Leben immer leicht und spaßig ist, sondern eher im Gegenteil geht es Christen um das Reich Gottes.
Leben in der Nachfolge Jesu bedeutet deshalb keineswegs Reichtum, Spaß, Befriedigung, Macht, Ruhm und Ehre, sondern Treue, Verzicht, Mäßigung und auch in Zeiten schwerer Versuchungen und Anfeindungen treu zu bleiben. Da sind wir dann wieder bei den Trieben, bei denen uns der Teufel gerne packen möchte. Es ist nämlich nach Meinung Erfahrung keineswegs Gott, der mein sexuelles Interesse auf den glücklichen Familienvater richtet, der mir an Fastentages die leckersten Gerichte riechen lässt, der mich fluchen lassen will, der viele Hilfsmittel anbietet, um dem Alltag (und damit meistens meinen Verpflichtungen) kurzzeitig zu entfliehen.
Trisa hat geschrieben:Es ist nämlich nach Meinung Erfahrung keineswegs Gott, der mein sexuelles Interesse auf den glücklichen Familienvater richtet, der mir an Fastentages die leckersten Gerichte riechen lässt, der mich fluchen lassen will, der viele Hilfsmittel anbietet, um dem Alltag (und damit meistens meinen Verpflichtungen) kurzzeitig zu entfliehen.
Stimmt, habe ich auch immer wieder mal gehört, dass es in diesen Fällen der Teufel sei, der die Menschen ins Dilemma führt. Das ist natürlich auch eine optionale Erklärungsmöglichkeit für die Schwierigkeiten des Lebens und der menschlichen Existenz in der Welt.
Da ich allerdings nicht (mehr) an Gott, Götter, Teufel etc. glaube, nehme ich dies als interessierter Außenstehender wahr. So wie ich mich generell für Denkmodelle von Religionen interessiere, ohne sie selbst zu glauben.
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