Werden introvertierte Menschen unterschätzt?
Ich würde mich und auch meine Zimmerkollegin als introvertierte Menschen bezeichnen. Erst kürzlich hatten wir in der Arbeit eine größere Diskussion, weil wir beide uns in den Frühstückspausen eher aus Unterhaltungen raushalten und lieber zuhören. Während ich mich noch versuche hin und wieder einzubringen, ist meine jüngere Kollegin sehr still. Besonders ihr wird nun von Schüchternheit bis zur Unkollegialität alles mögliche "vorgeworfen".
In mehreren Internetartikeln habe ich nun gelesen, dass dies für introvertierte Charaktere völlig normal ist und sie als solche oft wenig Akzeptanz und Verständnis erfahren bzw. gar unterschätzt werden. Ruhige Menschen gelten oft als unscheinbar und bleiben häufig unbemerkt. Selten sehen andere, was hinter ihrer ehrlichen, zurückhaltenden und stillen Erscheinung steckt. Viele ruhige Menschen sind einfach Beobachter und Entdecker.
Ruhige Menschen stehen nicht gern im Mittelpunkt, sie sind gern für sich allein. Dieses Verhalten kann Befremdung in den Augen anderer hervorrufen. Infolgedessen werden ruhige Menschen oft als schüchtern, reserviert oder uninteressiert abgestempelt.
Wissenschaftlich gesehen geht im Gehirn eines Introvertierten jeder Reiz auf einen längeren Weg, vom emotionalen Gedächtnis über das für das analytische Denken zuständige Gebiet. Extrovertierte Menschen hingegen haben einen viel niedrigeren Schwelle für Reize und können zum Beispiel viel schneller eine Antwort geben oder reagieren.
Die ruhige Art introvertierter Menschen wird meiner Meinung nach oft falsch verstanden bzw. interpretiert. Dies habe ich leider bereits mehrfach privat als auch beruflich erfahren. Wie empfindet ihr introvertierte Menschen? Kommt ihr mit der zurückhaltenden und ruhigen Art des Menschen klar? Könnt ihr mit introvertierten Menschen gut zusammenarbeiten?
Ich war selber super lange schüchtern und habe kaum ein Wort gesagt, wenn ich von anderen Menschen umgeben war. Bei mir lieben Menschen war das nie ein Problem, da habe ich schon etwas gesagt, auch wenn es nur eine Person war, aber in Gruppen habe ich mich damals extrem unwohl gefühlt. In der Schule hat man mir daher nie etwas zugetraut und Gruppenarbeiten waren daher die Hölle. Ich wusste, dass die anderen Leute beispielsweise gerade den größten Schrott besprechen und einfach keine guten Ideen haben, aber ich habe mich nicht getraut etwas zu sagen und man erwartete von mir auch nichts, was man mir mehr als deutlich machte. Irgendwann traute ich mich dann aber doch mal mehr zu sagen und da waren dann alle überrascht, weil sie dachten ich hätte nichts zu sagen oder hätte keine Meinung zu den Dingen.
Kurzum ja man wird unterschätzt und das ist nicht gut. Ich habe einige eher ruhige Menschen auch in meinem Umfeld. Bei mir ist es nun nicht mehr unbedingt so, dass ich immer nur ruhig bin. Das war für mich aber auch wirklich harte Arbeit, mich zu überwinden. Ich finde es traurig, dass man solchen Menschen nur weil sie sich nicht in den Vordergrund drängen nichts zutraut. Ich denke man muss jedem eine Chance geben und vielleicht solche Menschen auch eher in ein Gespräch mit einbeziehen und nicht warten bis da etwas kommt. So kann man deiner schüchternen Kollegin ja auch mal eine Frage stellen und wenn sie einsilbig antwortet ist es nicht unbedingt Desinteresse.
Introvertiert zu sein hat erst mal nichts mit Schüchternheit zu tun. Natürlich gibt es Menschen, die eher auf der introvertierten Seite und dazu noch schüchtern sind, aber prinzipiell (und sehr stark vereinfacht) geht es dabei nur darum, ob jemand menschliche Kontakte anstrengend findet und sich alleine erholen kann oder alleine am Rad dreht und unter Menschen aufblüht und auftankt. Noch dazu handelt es sich um ein Spektrum mit Ausreißern in beide Richtungen.
Ich selber würde mich eindeutig als introvertiert ansehen. Selbst unter guten Freunden, in deren Gesellschaft ich mich wohlfühle, brauche ich regelmäßige Pausen, in denen ich meine eigenen Gedanken wieder hören kann. Und in Gesellschaft bin ich meistens eher ruhig, weil ich mit meiner Energie haushalten muss und aufpassen, dass ich nicht in kürzester Zeit völlig ausgelaugt und mit Kopfweh abhauen muss oder der Sprache nicht mehr mächtig in der Ecke lehne. Nicht, weil ich mich nicht traue, den Mund aufzumachen.
Von daher habe ich auch nicht den Eindruck, "unterschätzt" zu werden. In Job geht es um Leistung, und wenn ich der Frau Röhrmöller aus der Reparaturannahme nicht aufgekratzt genug bin - für meinen Chef reicht's! Und im Alltag kann ich so gut wie jeder andere höflich, aber bestimmt für meine Anliegen und Wünsche eintreten und auch mal jemanden in seine Schranken verweisen. Der einzige Unterschied ist eben, dass ich auf Familienfeiern meistens die erste bin, die sich verabschiedet oder nicht versucht, die anderen zu überbrüllen, sondern sich lieber am Buffet verlustiert. Wenn mir daraus jemand einen Strick drehen will, bitte gern. Es haben schon Leute darüber gestaunt, dass ich weder schüchtern noch auf den Mund gefallen bin.
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