Warum erkennen Menschen Notsituationen nicht mehr?

vom 18.01.2023, 17:16 Uhr

Ich las gerade folgenden Artikel, wonach die Polizei erst durch ein veröffentlichtes Video in sozialen Medien darauf aufmerksam wurde, dass Tage vorher ein Mädchen auf einem Bahnhof brutal zusammengeschlagen und schwer verletzt worden war. Es gab viele Zeugen, aber keiner griff ein, keiner rief auch nur die Polizei. Stattdessen wurden wohl mehrere Videos gemacht und mindestens eines sogar veröffentlicht.

Ich verstehe dieses Verhalten einfach nicht. Natürlich sollte man in diesem Fall an die Eigensicherung denken und aufpassen, dass man nicht selbst gleich das nächste Opfer dieser zwei Täterinnen wird. Aber heutzutage hat doch fast jeder ein Smartphone dabei und man kann problemlos die Polizei informieren. Auf einem Bahnhof sollte es auch Personal geben, dass man um Hilfe bitte kann.

Warum greift also niemand ein? Liegt es daran, dass es in diesem Fall Jugendliche waren? Aber selbst bei Autounfällen wird ja eher selten geholfen, sondern lieber gefilmt. Woher kommt aber diese Abgestumpftheit und dieser Egoismus? Und wenn man mit den Nicht-Helfern redet, sagen sie meist, dass sie gar nicht erkannt haben, dass sie hätten helfen sollen oder müssen. Sie fühlen und benehmen sich eher, als wären sie in einer Filmkulisse.

Ich frage mich das immer wieder, denn es kommt ja auch schon im alltäglichen Leben vor. Letztes Jahr erkannte niemand, dass jemand vor der Apotheke einen allergischen Schock erlitt. Alle blafften den kaum noch ansprechbaren, herumtorkelnden Mann an, dass er sich gefälligst hinten in die Schlange anstellen sollte.

Die Notsituation hat angeblich niemand erkannt, was mein Freund und ich kaum glauben konnten. Schon auf den ersten Blick war für uns die Notlage erkennbar und während mein Freund in der Apotheke Hilfe holte, rief ich draußen den Notarzt. Die anderen aus der Schlange guckten nur betreten zu oder waren froh, dass die Schlange nun kürzer war und sie schneller bedient wurden. Zumindest dort gab es also keine Gaffer.

Warum scheint kaum noch jemand echte Notsituationen erkennen zu können? Hat uns das Fernsehen abstumpfen lassen mit seinen ganzen Reality-TV? Oder dass wir solche Dinge jederzeit massenweise im Internet sehen können? Warum hilft niemand mehr, selbst wenn es mit annähernd keinen Unannehmlichkeiten verbunden ist?

» SonjaB » Beiträge: 2698 » Talkpoints: 0,98 » Auszeichnung für 2000 Beiträge



Die ganze Klickgeilheit stumpft ja zudem ab. Wenn man so ein Video hochlädt, dann hat das sicherlich viele Views und daher wird es da auch Menschen geben, die darauf aus sind. Abgesehen davon ist da die Lust etwas sehen zu wollen, was man sonst nicht sieht. Ich finde Menschen sollten wieder sensibilisiert werden für solche Sachen. Es wird viel zu wenig gezeigt, was die Folgen von Gaffern sind. Wichtig sind da aber auch Erste Hilfe Kurse, die regelmäßig wiederholt werden sollten.

Hat man an einem solchen Kurs teilgenommen, wird man es irgendwann vergessen und hat das nicht mehr auf dem Schirm, ist dann vielleicht einfach überfordert. Deswegen würde ich mich freuen, wen man beispielsweise in der Schule das Ganze ein Mal im Jahr zeigen würde oder bei der Arbeit. Das würde ein anderes Bewusstsein für solche Situationen schaffen. Ich bin kein Mensch, der wegschaut und habe auch schon öfter mal geholfen, auch den Krankenwagen geholt oder ich bin auch schon dazwischen gegangen. Deswegen kann ich ein solches Verhalten, wie es die Gaffer an den Tag legen, auch nicht nachvollziehen.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


@Ramones: Das liegt doch am Arbeitgeber, ob er seinen Angestellten regelmäßig einen erste Hilfe Kurs spendiert. Bei meinem Mann ist das alle zwei Jahre, dass sie daran teilnehmen müssen. Aber so vergesslich ist der Mensch auch nicht. Wer einmal einen solchen Kurs gemacht hat, der wird auch noch nach Jahren intuitiv richtig handeln.

Aber insgesamt ist die Gesellschaft in den letzten Jahren sehr abgestumpft. Das Problem ist doch schon länger, dass man lieber gafft und sogar Fotos macht, als zu helfen. Ob es nun die Angst vor Fehlern ist oder deren Folgen, müsste da sicherlich mal über Umfragen analysiert werden. Denn vielen Menschen ist nicht klar, dass sie nicht belangt werden können, wenn sie als Ersthelfer einen Fehler machen.

Bei Gewaltaktionen nicht zu handeln und dabei sogar noch zu filmen beweist aber einmal mehr, wie egoistisch die Menschen teilweise schon geworden sind. Es ist schon mehr als traurig, wenn man es da nicht mal schafft die Polizei anzurufen. Aber im Nachgang muss man wieder sagen, wenn da jemand filmt, dann sind eben auch die Beweise gesichert. Da kann man sich als Täter kaum mehr rausreden.

» Punktedieb » Beiträge: 17970 » Talkpoints: 16,03 » Auszeichnung für 17000 Beiträge



Ich bin generell mehr als skeptisch, wenn der Eindruck vermittelt wird, als seien Desinteresse, Egoismus und mangelnde Rücksichtnahme aufeinander gesellschaftliche Probleme von heute, die es "früher" so nicht gegeben hat. "Früher" waren die Menschen im Schnitt unter Garantie nicht hilfsbereiter oder sozialer eingestellt, obwohl die soziale Kontrolle noch eine ganz andere war und die Gemeinschaften oft noch übersichtlicher.

Ich verweise hier immer beispielhaft auf die Anekdoten meines Vaters (seligen Angedenkens), als der "Dorfdepp" gerne mal mit Steinen beworfen wurde, garantiert niemand eingegriffen hat, wenn der Huberbauer im Suff seine Frau verdroschen hat, und es ebenso schon mal passieren konnte, dass von 10 Kindern einer Familie eins im Löschteich ersoffen ist, weil der aufsichtführende Opa nicht mehr so gut aufgepasst hat.

Ich muss aber auch zugeben, dass das Alltagsleben in der modernen Gesellschaft nicht gerade Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden fördert. Auch bei mir nicht. Ich bin jeden Tag in der Großstadt unter Menschenmengen unterwegs und auch schon so abgestumpft, dass ich unter Garantie nicht mehr jeden Mitmenschen wahrnehme, der "torkelt" oder sonst wie Hilfe bräuchte. Auch wenn es nicht um Leib und Leben geht, habe ich schon länger nicht mehr die Nerven, jedem Senior den schweren Koffer am Bahnhof in den Zug zu hieven oder den Weg zu erklären und ähnlichen Kram.

Dazu kommt noch, dass ich zugegebenermaßen Angst vor aggressiven Leuten habe und einfach nicht die Courage, selber Schläge oder Schlimmeres zu riskieren, wenn ich mich mit breiter Brust in irgendeinen öffentlich ausgetragenen handfesten Konflikt werfe. Spricht nicht gerade für mich. Ich hoffe lediglich weiterhin, im akuten Notfall nicht völlig zu versagen. Meistens reicht es ja, wenn eine Person eingreift, weil es ja leider in der Natur des Menschen liegt, immer erst mal abzuwarten, was die anderen machen.

» Gerbera » Beiträge: 11332 » Talkpoints: 52,90 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Es ist traurig zu sehen, wie viele Menschen heute in Notsituationen nicht mehr helfen. Wie du schon sagst, scheint es ein wachsendes Problem zu sein, das in vielen verschiedenen Kontexten auftritt. Ob es nun um ein Mädchen geht, das brutal zusammengeschlagen wird, oder um einen Mann, der vor einer Apotheke einen allergischen Schock erleidet - es scheint, als ob wir als Gesellschaft unser Mitgefühl verlieren.

Ich denke, dass es viele Faktoren gibt, die dazu beitragen. Einerseits haben wir in den letzten Jahren eine Zunahme von Reality-TV und Sensationsjournalismus erlebt, bei dem es darum geht, Aufmerksamkeit zu erregen und die Zuschauer zu schockieren. Dies kann dazu führen, dass Menschen abstumpfen und unfähig werden, echte Notsituationen von inszenierten zu unterscheiden.

Zudem leben wir in einer Gesellschaft, in der es immer mehr um das Individuum und weniger um die Gemeinschaft geht. Viele Menschen scheinen sich nur noch um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kümmern und sich weniger um die Bedürfnisse und Interessen anderer zu scheren. Diese Mentalität kann dazu führen, dass wir uns weniger um unsere Mitmenschen kümmern.

Aber es gibt auch andere Faktoren. Zum Beispiel können manche Menschen einfach unsicher sein, was sie in einer Notsituation tun sollen. Sie wissen vielleicht nicht, wie sie helfen können oder haben Angst, etwas falsch zu machen. In diesem Fall könnte eine bessere Ausbildung und Sensibilisierung dazu beitragen, mehr Menschen zu motivieren, in Notsituationen zu handeln.

Letztendlich denke ich, dass es wichtig ist, dass wir als Gesellschaft uns stärker auf Empathie und Mitgefühl besinnen. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir alle Teil derselben Gemeinschaft sind und dass es unsere Verantwortung ist, einander zu helfen und uns gegenseitig zu unterstützen. Nur so können wir als Gesellschaft wachsen und uns entwickeln.

» Aguti » Beiträge: 3109 » Talkpoints: 27,91 » Auszeichnung für 3000 Beiträge


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