Unnatürlich, wenn Frau sich nicht schminkt?

Ich bin kein Mensch, der sich regelmäßig schminkt. Bei mir muss alles praktisch und effizient sein, da ich keine Lust habe, im Alltag meine wertvolle Zeit zu verschwenden. Es reicht mir, dass ich sauber und gepflegt bin und ich brauche keine Schminke im Gesicht um mich wohlzufühlen. Es kommt vor, dass ich mal zu besonderen Anlässen ein klein wenig MakeUp auflege, aber nie besonders viel und dann auch noch vergleichsweise selten.

Nun meinte eine Bekannte zu mir, dass ich nicht normal wäre. Denn die Eingeborenen in Afrika, Südamerika oder anderswo würden sich schminken und das wäre wie eine Tradition. Kulturen in Asien würden sich ebenfalls schminken. Es wäre also das natürlichste der Welt, wenn sich Frauen schminken würden. Da ich das nur seltenst tue, wäre ich total unnormal. Denn es wäre nicht natürlich, wenn jemandem sein Aussehen so egal ist wie bei mir.

Abgesehen davon, dass ich nicht der Ansicht bin, dass einem das Aussehen egal ist nur weil man sich nicht tonnenweise Schminke ins Gesicht kleistert, finde ich die Meinung meiner Bekannten schon interessant. Wie denkt ihr darüber? Ist es das natürlichste der Welt, dass sich Frauen schminken und findet ihr es unnormal, wenn man darauf verzichtet?

Dann bin ich wohl auch unnormal. Ich schminke mich auch nur wenn wir mal weggehen und im Alltag eigentlich gar nicht. Ich pflege mich, aber ich schminke mich nicht. Ich finde es auch ehrlich gesagt eher unnatürlich, wenn man sich jeden Morgen einen Kilogramm Schminke in das Gesicht wirft und das dann auch noch gut findet. So gibt es Frauen, die man noch nie ohne Schminke gesehen hat und das ist doch eigentlich viel unnnatürlicher.

Du solltest deinen Bekanntenkreis mal ausdünnen. Oder ist das immer dieselbe "Bekannte", die so merkwürdige Ansichten hat? Jedenfalls ist die Argumentation, dass Gesichtsbemalung weltweit relativ verbreitet ist und deswegen zur "Natur" des Menschen gehört, in meinen Augen relativer Schwachsinn. Beispielsweise malen sich mitnichten nur die Frauen an, sondern je nach Tradition beide Geschlechter oder auch mal vor allem die Männer, um damit die Damenwelt zu beeindrucken. Deswegen sind europäisch sozialisierte Männer wohl auch kaum "unnatürlich", weil sie weniger Eyeliner auftragen als die Herren vom Stamme der Woodabe.

Wenn man dieser Argumentationskette folgt, sind zudem noch ganz andere Traditionen und Bräuche etwas Natürliches, nur weil sie von irgendwelchen indigenen Völkern betrieben werden, wie beispielsweise der Verzicht auf Kleidung, spektakuläre Piercings, männliche und weibliche Genitalverstümmelung oder der Konsum von irgendwelchen Rauschmitteln, um mit der Götterwelt in Verbindung zu treten.

Meiner Erfahrung nach sind Leute, die hartnäckig damit argumentieren, ihr spezielles Verhalten entspräche der naturgegebenen Norm, nach der sich alle normalen, gesunden Menschen zu richten haben, oft selber zutiefst verunsichert und kommen mit der Tatsache nicht klar, dass andere Leute nach anderen Spielregeln leben und trotzdem ein schönes Leben haben. Bevor sie sich eingestehen, dass ihre Lebensart nur eine von vielen gleichwertigen Alternativen darstellt, sehen sie lieber alle anderen als irgendwie "defekt" an, weil sie es anders machen.

Diese Diskussionen zur Schminke sind zur Zeit im Forum aber überbordend oft zu finden und von beiden Seiten mit Klischees ohne Ende gefüllt. So richtig verstehe ich das nicht und manchmal ist man diese ganzen Vorurteile von allen Seiten leid. In meinem realen Leben schert sich kein Mensch darum, wer wie und ob überhaupt geschminkt ist, wenn es sich um eine Frau handelt. Ein mit schwarzem Kajal geschminkter Mann wäre in meinen Augen ja schon ein netter Knalleffekt, aber das ist nur meine persönliche Wahrnehmung.

Die Ansichten deiner Bekannten sind im besten Fall anmaßend. Ob und wie sich jemand schminkt, welche Haarfarbe, Haarlänge, Kleidung oder Stilrichtung jemand trägt, ist schließlich des Menschen ureigenste Entscheidung. Warum meinen andere Leute denn immer, ihren Senf dazu geben zu müssen? Warum muss alles immer in einer Sekt oder Selters, Schwarz oder Weiß-Mentalität betrachtet werden?

Wenn man überhaupt das Etikett Natürlich oder Unnatürlich an Frau anheften möchte, dann müsste man theoretisch der geschminkten Frau die Unnatürlichkeit attestieren. Haare färben und kämmen, Zähne putzen, Rasieren und Duschen sind aber auch unnatürlich und wurden vom Urmenschen vermutlich nur sehr rudimentär bis gar nicht betrieben. Und nun? Was sagt diese Etikettierung "Natürlichkeit" überhaupt aus? Auch Hornhaut, Zahnstein, Schweiß und Achselhaare sind natürlich. Das wollen trotzdem viele nicht.

Abgesehen davon investiert nicht jede sich schminkende Frau jährlich das monetäre Äquivalent eines Kleinwagens in Kosmetik und man schafft ein einfaches Tages-Make-up in fünf Minuten, wenn man geübt ist. Warum wird dann hier der Maßstab der zeitlichen Effizienz an die eigene Tagesgestaltung angelegt? So oder so, ich finde die Kategorisierung, welches Verhalten jetzt natürlich oder unnatürlich ist an dieser und auch an vielen anderen Stellen einfach unglücklich gewählt.