Dissonanz als unangenehm empfinden - warum?
Zuerst einmal möchte ich klarstellen, dass ich das nicht ganz so sehe. Dissonanzen finde ich äußerst interessant und wenn sie zum richtigen Zeitpunkt Verwendung finden, können sie einen grandiosen Effekt erzielen. Viele Stücke haben gerade dadurch einen gewissen Reiz, der bei einem ausschließlich harmonischem Lied oft fehlt und das Lied deswegen "glatt" klingt und nicht diese Besonderheit aufweist, dass eben nicht alles "glatt" und makellos ist. In meinen Ohren können Dissonanzen herrlich klingen, solange sie gut eingesetzt werden.
Allerdings frage ich mich, warum wir so von Kind auf schon, so eine Dissonanz als etwas unangenehmes, unharmonisches und unschönes empfinden. Der Klang ist anders, als der eines vollkommen harmonischen Dur-Dreiklangs. Aber warum "schmerzt" eine Dissonanz (zumindest bei den meisten) in den Ohren? Ist es eine Art natürliches Gesetz, dass wir es las unangenehm und nicht schön (vom Klang her) empfinden? Im Prinzip ist es doch genauso ein Ton und selbst wenn die Töne, die zueinander klingen einen "ungünstigen Abstand" haben, dürften sie doch nicht deswegen als unmusikalisch und Lärm empfunden werden. Denn geht man mal von der Musiklehre weg so rein natürlich gesehen, da kann es doch kein "ungünstig" oder so etwas geben? Genauso wie es kein Gut oder Böse, kein Schön oder Häßlich geben kann.
Wodran liegt es also? Ist es nur so, weil wir es so gelernt von klein auf und dann auch verinnerlicht haben? Weil es gewissermaßen Norm wurde, dass eine Dissonanz unharmonisch klingt? Ich dachte auch immer, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, wie kann man denn überhaupt bestimmen was harmonisch und was unharmonisch ist? Dem einen könnte der Klang doch gefallen, welcher dem anderen missfällt. Wie kommt es zu irgendwelche Regeln in der Musik eigentlich? Gibt es die Bestimmung bei der Musik, dass eine Dissonanz eben "unschön" zu klingen hat - unabhängig vom Menschen? Wie eine Art Naturgesetz?
Was ich mich auch gefragt habe - man könne es als Art Experiment sehen - was denn passieren würde,oder wie sich das musikalische Empfinden eines Kindes entwickeln würden, wenn wir es viel mehr mit Dissonanzen vertraut machen würden und anstatt schönen, glatten Kinderliedern irgendwelche schiefen, unharmonische Dissonanzen vorspielen würden. Eben versuchen, dieses Harmonisch = Schön und Dissonanz = Unharmonisch = Unschön um zu kehren, so dass es eher gegenüber Harmonien abgeneigt ist. Geht das eigentlich oder besteht dieses "Gesetz" unabhängig von Erfahrung und menschlichem Empfinden?
Wobei es ja schon mal so ist, dass Menschen ganz unterschiedliche Klangwelten schön und angenehm finden. Nicht in allen Kulturen hört man Musik, die auf unserer Dur- und Moll-Tonalität basiert. Man denke nur an arabische Musik oder Musik aus Ostasien, wo die Töne häufig stärker verschliffen werden, und die auf anderen harmonischen Prinzipien basieren. In unseren Ohren klingen diese Musikstücke häufig unangenehm oder sogar anstrengend, während sie von Leuten aus diesem Kulturkreis gern gehört werden.
Unser Empfinden von Dissonanz beruht wohl zum Teil auch auf mathematischen Aspekten: Harmonische Klänge bestehen aus Tönen mit einem bestimmten Schwingungsverhältnis, und wenn Töne zusammen klingen, die stark von diesem Schwingungsverhältnis abweichen, dann klingen sie "schräg" bzw. dissonant. Beispielsweise haben zwei Töne im Oktavabstand das Schwingungsverhältnis 2:1, im Quintabstand 3:2, im Quartabstand 4:3. Der als dissonant empfundene Tonabstand des Tritonus (übermäßige Quarte) hat jedoch ein Schwingungsverhältnis 45;32.
Es tauchen immer wieder dieselben stereotypen Klassifizierungen auch in der Bewertung von "orientalischer" Musik auf. Möchte einmal versuchen, ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. Der Begriff Harmonie wird in der von Europa her geprägten Musik hier angewendet als das gleichzeitige Erklingen verschiedener Töne im Sinne einer vertikalen Schichtung von Noten. Dabei wird das Wesen der Harmonien, eine sinnvolle Struktur in der Abfolge von dichteren und weniger dichten Klängen zu erzeugen, außer Acht gelassen. Im strengen Sinne steht das Melodische und Harmonische untrennbar in engem Zusammenhang. Das eine kann nicht völlig isoliert vom anderen gesehen werden.
Kann Beispiele anführen, wo es erst bei entsprechender "Harmonisierung" gelingt, eine mittelalterliche Skala zu klassifizieren, obwohl das dieselben Töne sind wie ohne "harmonische" Begleitung. Die Harmoniebildungen dienen folglich auch zur Unterstützung eines melodischen Charakters. Und es gibt andere Beispiele, bei denen es genau umgekehrt ist. Da wird das Melodische durch "dicke" Akkorde so zugekleistert, dass es kaum noch zu erkennen ist.
Dem Forscherdrang ist es zu verdanken, dass die gelegentlich erhobene These, dass Zwei- und Mehrstimmigkeit nur in Europa vorkäme, widerlegt werden konnte. Auch in Afrika zum Beispiel ist Mehrstimmigkeit bei Ureinwohnern bekannt, ohne dass diese irgendwann einmal mit europäischer Musik in Berührung gekommen worden sind und dadurch wohl beeinflusst worden sein könnten.
Der Verkürzung der europäischen Musik auf ein reines Dur-Moll-System wage ich zu widersprechen. Sicherlich lassen sich mit der allfälligen Riemannschen Funktionalharmonik mit drei Grunddreiklängen Musikstücke eindrucksvoll harmonisieren. In Wirklichkeit gibt es aber noch eine ganze Reihe von Tongeschlechtern mehr, die sich irreführenderweise Kirchentonarten oder mittelalterliche Skalen nennen. Es kann ja auf jeder Tonstufe einer "natürlichen" Durtonleiter oder dem Jonisch wieder der Grundton einer Skala mit 7 Tönen gebildet werden. Durch ihre spezifische Abfolge von Ganz- und Halbtönen ist die "neue" Skala geprägt.
Bei der "Harmonisierung" wird dabei oft ein Kardinalfehler begangen, wenn dieselben Dreiklangsbildungen verwendet werden, wie sie für die Dur-Skala benutzt werden. Es findet dann lediglich eine Verschiebung statt und die Eigenständigkeit der Skala wird nicht erkannt. Erst durch die "richtige" Harmonisierung wird der entsprechende Tongeschlecht-Charakteristik deutlich. Dabei müssen nun nicht streng orthodox dieselben Harmoniebildungen gewählt werden, lediglich bestimmte Intervalle dürfen hierbei nicht verändert werden.
Und da sind wird wieder beim Melodischen angelangt. Und die Musik des nahen Ostens legt mehr Wert auf die Intervallstrukturen im Melodischen. Es gibt selbstverständlich auch die Tonart "Rast", unser Dur. Die Überlegungen sind aber einmal mehr von den Möglichkeiten der menschlichen Stimme und dann von denen der verwendeten Vielzahl an Saiteninstrumenten mit ihren durch Spannung und Verkürzen- der Saite bestimmten Gesetzmäßigkeiten bestimmt.
Als "Keimzelle" des melodischen Aufbaus könnte die kleine Terz angesehen werden. Diese kann in drei Halbtöne oder aber auch in zwei Intervalle aufgeteilt werden, die einmal etwas größer oder kleiner gewählt werden, wobei das "größere" das dominierende, das andere Intervall lediglich "Füllintervallcharakter" erhält. Dann können sich die Intervallstrukturen nicht nur im Tetrachordabstand, auch nicht im Oktavabstand wiederholen, sondern es können auch Intervallstrukturen über die Okave hinaus gebildet werden.
Es leuchtet sofort ein, dass es äußerst aufwendig werden kann, derartige Melodiefolgen korrekt zu harmonisieren. Sie erforderte jeweils ein eigens eingestimmtes Instrumentarium mit den entsprechenden Intervallstrukturen.
Dieser Schwierigkeit sah sich auch ein gewisser Herr Bach gegenüber und hat nun den Begriff "Temperierung", wie er von Keller und Werckmeister schon angedacht war, ganz konsequent weitergeführt, indem er ein Reihengesetz bei der Stimmung einführte, was nicht mehr auf Addition, sondern auf Multiplikation der Frequenzverhältnisse aufbaute.
Das Bedeutende daran ist, dass auch die Kombinationstöne, die durch die Abweichung von der reinen Stimmung entstehen, auf derselben Reihe beruhen, während die Temperierungen anderer Musiker stärkere Abweichungen bei ganz bestimmten Tonstufen aufwiesen. Mit der Lösung dieses Dilemmas errang sich diese heute weltbeherrschende 12-Ton-Stimmung die Bezeichnung "wohltemperiert".
Und das führt eben wieder zu dem im Eingangspost angeschnittenen Ansatz, was an "Schrägheit" gerade noch akzeptiert wird. Fest steht, je rauer der Klang wird, desto unangenehmer wird er empfunden. Und je dichter die Intervalle zusammenrücken, bis zum Sekundschritt, desto unangenehmer wird das empfunden. Nicht umsonst wurden in der Klavierbegleitung in der linken Hand im Bass die Terz herausgenommen, nur Quinte wird gespielt beim Durdreiklang. Die klopfende Terz sollte vermieden werden. Weniger ist hier mehr.
Die Betrachtungen in Richtung Hörphysiologie und Verarbeitung der Sinnesreize im Gehirn wurden hier nicht erwähnt. Es sollte hauptsächlich das Kulturelle hier kurz angeschnitten werden.
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