Industriespionage in Großbritannien im 19. Jahrhundert
I. Industrialisierung in Großbritannien
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ließ sich in England in allen Industriezweigen eine Zunahme an neuartigen Technologien verzeichnen, die die Produktivität erheblich steigerten. Im Textilsektor führten die Erfindung des Schnellschützen, der „spinning jenny“ und der „waterframe“ zu Produktionssteigerungen, die Dampfmaschine ermöglichte massive Fortschritte im Kohleabbau, der Schwerindustrie und der Verkehrsindustrie. Da all diese Innovationen jedoch in England entwickelt worden waren, zeigte sich bald ein deutliches Produktivitätsgefälle zum übrigen Europa, so dass eine Notwendigkeit zur nachholenden Entwicklung entstand.
II. Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es daher immer üblicher für versierte Industrielle nach England zu reisen um sich zu informieren, viele hielten sich zeitweise im Ausland auf. So arbeitete etwa Alfred Krupp Ende 1830er Jahre unter falschem Namen in der englischen Geschäftswelt, von Johann Brügelmann, dem Gründer der ersten maschinellen Baumwollspinnerei des deutschen Reiches in Ratingen wird ähnliches behauptet.
Diese Reisen wurden von den Briten zunächst durchaus wohlwollend betrachtet, man war sich seiner Überlegenheit gegenüber den anderen Nationen bewusst und zeigte diese gern. Auch wurde die englische Technik ins Ausland verkauft, um dort zusätzliche Gewinne zu erwirtschaften, wie es etwa bei Matthew Boulton mit der Dampfmaschine geschah.
Nachdem sich jedoch eine zunehmende Konkurrenzsituation abzeichnete, änderte sich die Wahrnehmung deutlich. So wurden etwa in Boultons und Wegdwoods Fabriken Besuchsverbote für Ausländer erteilt. Daraufhin mussten die Informationsreisen inkognito stattfinden, auswärtige Industrielle verschafften sich durch gefälschte Empfehlungsschreiben oder Identitäten Zutritt zu den Fabriken.
In Preußen wurden diese Spezialistenreisen sogar staatlich gefördert. Besonders viel versprechende Absolventen des Berliner Gewerbeinstituts erhielten Reisestipendien, die Entscheidungsgewalt über die Verwendung der dabei erworbenen Kenntnisse oblag jedoch der Regierung.
Schließlich erließen die englischen Unternehmer strikte Verbote für die Besichtigung ihrer Betriebe, die nicht nur für Ausländer sondern auch für die Landsmänner selber galten. Boulton in Birmingham machte den Anfang, die Industriellen in Manchester, Leeds und Glasgow schlossen sich ihm bald an. Empfehlungsschreiben auch enger Freunde verloren ihre Bedeutung und auch für wichtige Persönlichkeiten, wie Admiral Nelson, wurden nur zögerlich Ausnahmen gemacht. Ausländischen Besuchern, wie sogar dem Freiherrn von Stein, wurde der Zutritt jedoch kategorisch verweigert.
Eine weitere Maßnahme, um die englische Industrie vor dem Kopieren der Technik und somit Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen, waren Ausfuhrverbote für Maschinen und Werkzeuge. Dadurch sollte ein Vorsprung der heimischen Manufakturen gewährleistet werden, die Maschinen sollten in den ausländischen Manufakturen weder eingesetzt noch nachgebaut werden können. Von 1750 bis 1782 wurden verschiedene Gesetze verabschiedet, die Maschinen des Textilsektors betrafen, 1786 folgte eine Regelung für das Hüttenwesen. Diese Gesetze wurden den technischen Neuerungen in den darauf folgenden Jahren immer wieder angepasst.
Doch auch die Abwerbung fremden Fachpersonals als wohl effektivste Möglichkeit zum technischen Fortschritt war bekannt und wurde unterstützt. Bereits 1740 wies Friedrich der Große seinen Chef des Manufaktur- und Kommerzdepartements an, so viele fremde Arbeiter wie möglich heranzuziehen, damit diese mit in Preußen noch unbekannten Techniken die einheimischen Manufakturen verbessern könnten.
Auch von französischer und russischer Seite wurden Versuche unternommen, englische Fachkräfte ins Land zu holen, dafür wurden den Arbeitern teilweise unverhältnismäßig hohe Honorare geboten. Um dies zu unterbinden wurden, etwa zur selben Zeit wie die Ausfuhrverbote für Maschinen, Auswanderungsverbote für Facharbeiter erlassen.
III. Das Ende der Spezialistenreisen
Die Weltausstellung von 1851 in London stellte den Höhepunkt der Unternehmerreisen dar. Allein aus den deutschen Staaten reisten knapp 12.000 Personen an, um sich gewerblich weiterzubilden. Danach spielten die Spezialistenreisen nach England kaum noch eine Rolle, da Deutschland sich seinerseits zum Innovationszentrum etabliert hatte und nun selbst mit Industriespionen aus dem Ausland zu kämpfen hatte.
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