Ursachen und Dauer einer retrograden Amnesie

vom 10.10.2008, 10:00 Uhr

Eben bekam ich einen Anruf einer sehr guten Bekannten aus der alten Heimat. Ihre Tochter ist im Kindergarten vom Klettergerüst gefallen und liegt im Krankenhaus. Das ganze ist wohl gestern passiert und das Mädchen kann sich an den Unfallhergang nicht erinnern und weiß auch nicht, wie sie heißt. Sie erkennt auch die Mutter nicht und weint immer nach der Mutter, obwohl sie neben dem Kind sitzt. Das Kind war wohl kurz bewusstlos nach dem Unfall.

Das Mädchen wurde im Krankenhaus total durchgecheckt. EKG, röntgen und alles was dazu gehört und es wurde "nur" eine Schädelprellung diagnostiziert mit einer mittelstarken bis starken Gehirnerschütterung. Meine Bekannte ist total aufgelöst und ist nur am Weinen. Die Ärzte haben wohl auch gesagt, dass es nur etwas vorübergehendes ist und sich das Mädchen bestimmt bald erinnern kann.

Mich wundert, dass die Ärzte von einer retrograden Amnesie sprechen, wo es sich doch bei dieser Amnesie um eine rückwirkende Amnesie handelt. Also normalerweise nur an den Gedächtnisverlust unmittelbar vor dem Unfall und während des Unfalls. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein nicht mal 4 Jahre altes Kind eine Amnesie nur vorspielt. Ihren Vater erkennt das Mädchen. Aber den hat sie am Wochenende das letzte mal gesehen.

Hat jemand schon mal Erfahrung mit einer retrograden Amnesie gemacht und kann mich bzw. die Mutter etwas beruhigen? Geht diese Amnesie wieder vollständig weg, wenn das Kind wieder gesund ist? Wie lange kann diese Art von Amnesie anhalten und wie kommt es, dass sie sich an vieles erinnern kann, aber nicht wie es passiert ist, wie sie heißt und wer ihre Mutter ist?

Da ich nicht lange mit der Mutter gesprochen habe, weiß ich nicht, was das Mädchen noch alles vergessen hat. Aber ich mache mir auch Sorgen um das kleine Mädchen.

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» Diamante » Beiträge: 41749 » Talkpoints: -4,74 » Auszeichnung für 41000 Beiträge



Diamante hat geschrieben:Mich wundert, dass die Ärzte von einer retrograden Amnesie sprechen, wo es sich doch bei dieser Amnesie um eine rückwirkende Amnesie handelt. Also normalerweise nur an den Gedächtnisverlust unmittelbar vor dem Unfall und während des Unfalls. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein nicht mal 4 Jahre altes Kind eine Amnesie nur vorspielt.

Das ist schon richtig mit der Retrograden Amnesie, denn die beschreibt eine Rückwirkende Erinnerungslücke ab dem Geschehen bis zu einem bestimmten Zeitraum. Wenn du sagst das Kind kann sich an den Vater erinnern, den es am Wochenende gesehen hat, dann ist es der Zeitraum vom Geschehen rückwirkend bis zum Besuch des Vaters. Jedoch können zusätzlich immer noch ein paar Informationen im Kopf verloren gehen, bei einer Commotio Contusi (Schädelprellung) und das ist eine stärkere Form der Gehirnerschütterung.

Das musst du dir so vorstellen, das Gehirn liegt "locker" im Schädel drinnen und bei einem starken Trauma z..B. wie hier durch einen Sturz geschehen und mit dem Kopf aufgeschlagen, bewegt sich das Gehirn und knallt gegen den Schädel. Da die Erinnerungszentren überall verteilt liegen, kommt es darauf an welche Seite am stärksten Betroffen war - da sterben dann ein paar Zellen ab, und die haben die Erinnerung gespeichert. Es können also die Gedanken nicht mit Bildern zusammen abgerufen werden, und deswegen erkennt das Kind die Mutter gerade nicht. Das hat aber nichts damit zu tun, dass das Kind eine schwächere Bindung zur Mutter hat als zum Vater - sondern so etwas passiert Zufällig.

Da aber das Gehirn Informationen mehrfach speichert, dauert es ein wenig bis die Informationen wieder an die neu gebildeten Zellen im Kopf weiter gegeben werden. Also die Information "Mutter" ist einmal im Langzeitgedächtnis, im Kurzzeitgedächtnis und noch im Emotionalenteil abgespeichert. Wenn jetzt alle Teile betroffen sind, dann ist die Information erst einmal weg - meistens aber noch irgendwo anders abgespeichert da man die lange kennt. Anders sieht es bei Leuten aus, die man nicht so oft sieht - diese Information ist nicht so häufig abgespeichert und kann danach schon einmal verloren geht.

Würde es sich um eine Retrograde und Anterorgrade Amnesie (Fachmedizinisch : Transiente globale Amnesie) handeln, dann wüsste das Kind die Informationen vor dem Geschehen nicht mehr und alles was es nun erlebt, würde es auch wieder vergessen. Das wäre dann vergleichbar mit "Täglich grüßt das Murmeltier" und stellt die schwerste Form der Amnesie dar, da es sich oftmals nicht vollständig rückbildet.

Allgemein unterscheidet man fünf Amnesiearten, davon sind vier Stück meistens Traumatischer Natur und eines ist die normale Amnesie die jeder von uns hat, also z.B. das Vergessen an die eigene Kindheit.

Hat jemand schon mal Erfahrung mit einer retrograden Amnesie gemacht und kann mich bzw. die Mutter etwas beruhigen? Geht diese Amnesie wieder vollständig weg, wenn das Kind wieder gesund ist? wie lange kann diese Art von Amnesie anhalten und wie kommt es, dass sie sich an vieles erinnern kann, aber nicht wie es passiert ist, wie sie heißt und wer ihre Mutter ist? Da ich nicht lange mit der Mutter gesprochen habe, weiß ich nicht, was das Mädchen noch alles vergessen hat. Aber ich mache mir auch Sorgen um das kleine Mädchen.

Erfahrung ist gut, ich hab viele Patienten die das direkt nach dem Geschehen haben. Meistens in Verbindung mit einem schweren Schädeltrauma oder auch mit Drogenmissbrauch. Eine Anfangsrückbildung einer retrograden Amnesie tritt meistens im Zeitraum ab 24 Stunden (kann aber Tage bis Wochen dauern) nach dem Ereignis ein, aber da ist auch nicht schlagartig wieder alles da - sondern es braucht seine Zeit. Das Gehirn muss die zerstörten Informationen erst wieder zusammen suchen und dann neu Abspeichern, also kann es auch sein dass die Information mit der Mutter erst später kommt und vorher andere "unwichtige" Dinge wieder da sind. Eine vollständige Rückbildung ist in den meisten Fällen der Fall, muss es aber nicht immer sein - dann muss die Betroffene Person die Information ganz neu Aufnehmen und gerade bei Kindern, sollte man sich da noch mehr Zeit lassen als bei Erwachsenen. Denn ich kann nicht jemanden "fremden" für das Kind hinsetzen und sagen es ist die Mutter, das muss das Kind selbst annehmen und bemerken. Kinder brauchen in der Hinsicht länger das wieder zu akzeptieren als jemand der schon Erwachsen ist, denn die nehmen das meistens hin und Kinder reagieren da mehr Emotional drauf und deswegen weint und schreit sie auch die ganze Zeit. Gerade überflutet halt das Emotionale Gedächtnis das Kind, und da es seine Mutter nicht erkennt aber Angst hat da es das nicht kennt, schreit und weint es weiter bis da eine Besserung eintritt.

Was die Mutter nicht machen sollte, sich aufdrängen und immer wieder sagen ich bin aber die Mutter wenn das Kind schreit und weint - denn das verschlimmert das beim Kind nur noch. Am besten in einem ruhigeren Moment das Kind auf den Arm nehmen, trösten und mit der nähe Trost spenden - aber nicht mit Worten aufdrängen das sie die Mutter ist. Wie gesagt das Kind reagiert nur aus dem Emotionalen gerade heraus, und die nähe der Mutter kennt es von klein auf und so kann es die Erinnerung an die Mutter fördern wenn sie es auch körperlich zeigt. Klar ist der Schritt nicht einfach, aber das ist momentan das einzigste was die Mutter machen kann, mit der nähe zu reagieren und körperlichen Trost spenden. Was auch manchmal hilft, die Kinderlieder die man den Kindern vorgesungen hat beim Schlafengehen, aber auch da tritt keine Spontanheilung auf sondern das entwickelt sich langsam.

Und auch im Schlaf sortiert das Kind die Erinnerungen neu wenn es träumt, denn auch da kann es sein nach einer Schlafphase das es auf einmal wieder Leute und Gegenstände erkennt die vorher vergessen waren. Mitbringen muss die Mutter nun Geduld und auch ein wenig Stärke (auch wenn es nicht einfach ist) und dem Kind Zeit lassen - die Erinnerung kommt sicherlich wieder. Wenn ich es richtig rausgelesen habe, dann sind die Eltern wohl getrennt lebend oder sehen sich nicht oft - aber auch dann sollten sie versuchen wieder ein besseres, näheres Verhältnis zueinander finden denn wenn es den Vater noch Erkennung und zu ihm vertrauen hat, dann kann auch der Kindsvater versuchen das Kind vorsichtig an die Information Mutter heranzuführen durch z.B. Geschichten oder dem Kind zeigt das er der "fremden Frau" nahe steht, das überträgt sich auch auf das Kind. Falsch wäre jetzt, sich zu Streiten und voneinander zu Distanzieren - da muss man sich einmal zusammen reißen und zusammen arbeiten.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge


Danke für die ausführliche Information. Die Eltern sind getrennt, aber sie verstehen sich sehr gut. Der Vater ist oft auf Montage und so sieht die Kleine den Vater manchmal eine ganze Woche lang und manchmal auch 3 Wochen nicht. Der Vater hat jetzt wohl die Montage abgebrochen, damit das Kind eine Bezugsperson bei sich hat, die es auch als Bezugsperson wieder erkennt.

Die Mutter gönnt sich jetzt ein wenig Ruhe. Sie hat wohl seit gestern nicht mehr geschlafen und die Ärzte haben sie erst mal nach Hause geschickt. Der Vater ist bei dem Kind, was jetzt wohl auch mit Beruhigungsmitteln erst mal ruhig gestellt wird.

Es muss einfach furchtbar für meine Bekannte sein, dass ihr eigenes Kind sie nicht erkennt und sie steht zwischen Bangen und Hoffen, dass sich das schnell wieder ändert. Ich denke mal, dass die Mutter sich bald wieder mal bei mir meldet. Dann werde ich ihr deine Information weitergeben. Sie drängt sich auch nicht auf. Sie hat nur den gestrigen Tag und die ganze Nacht am Bett der Kleinen gesessen.

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» Diamante » Beiträge: 41749 » Talkpoints: -4,74 » Auszeichnung für 41000 Beiträge



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