An bestimmten Orten werden ungute Erinnerungen wach

vom 13.06.2014, 13:56 Uhr

Ich wurde vor ungefähr dreißig Jahren in der ehemaligen DDR zum Grundwehrdienst einberufen, damals war ich 18 Jahre alt. Es war eine schlimme Zeit und ich hatte sie so gut es ging auch verdrängt. Besonders das erste halbe Jahr während der Ausbildung war von Schikanen und Gehirnwäsche geprägt. Mein Standort war an demselben Ort angesiedelt wo ich heute arbeite. Das Gelände ist heute als zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber mehr oder weniger frei zugänglich, trotzdem bin ich nie dorthin gefahren um es mir noch einmal anzuschauen. Nun ergab es sich dass ich aus beruflichen Gründen auf das Gelände musste.

Schon bei der Durchfahrt beschlich sich bei mir ein ungutes Gefühl als ich das ehemals schwer bewachte Eingangstor passierte. Dann ging es an der ehemaligen Kantine vorbei wo wir immer antreten und im Laufschritt einrücken mussten. Zum Essen blieben immer nur ein paar Minuten, mir fiel wieder ein dass ich mir immer schnell eine Schnitte schmierte und sie so wie sie war in die Hosentasche steckte damit ich später noch etwas hatte. Dann ging es wieder im Laufschritt zurück zum Wohnblock. Das war dann auch meine weitere Fahrt mit dem Auto.

Auf der Straße vor der damaligen Unterkunft mussten wir immer antreten, da wurden dann zum Beispiel die Rasur oder die Kragenbinden auf Sauberkeit kontrolliert. Direkt davor war noch ein freier Platz wo man täglich seine Stiefelputzen musste und wo man in der Regel auch noch einmal am späten Abend stand weil sie angeblich nicht blank genug waren. Dort war auch der Raucherplatz, aber wehe man stellte sich dort wirklich hin. Der Spieß und der Unteroffizier vom Dienst hatte alles im Blick und wer dort stand hatte nichts zu tun und man bekam eine Aufgabe. Überhaupt wurde alles nur brüllend übermittelt und im Laufschritt erledigt, selbst wenn man nur über den Flur lief.

Ich ging dann noch hinein und schaute mir den Flur an, dort sah es genauso aus wie früher, nur noch etwas schmutziger. Es gab auch noch den keimigen Waschraum in dem es nur kaltes Wasser und keinerlei Duschen gab. Auch die Gemeinschaftstoiletten waren noch da, dort stellte sich morgens immer der Unteroffizier davor damit niemand auf die Idee kam noch vor dem Frühsport auf die Toilette zu gehen. Ich musste auch oft dort tagsüber so eine Art Wache stehen und kontrollieren wer die Aufgänge benutzte, aber im Prinzip war man nur der Blitzableiter für frustrierte Vorgesetzte.

Ich besuchte auch mein ehemaliges Zimmer. Heute ist es ein Büro für zwei Personen, damals standen dort sechs Doppelstockbetten für 12 Kameraden auf allerengstem Raum. Ich kann mich auch noch gut an die ständigen Stubendurchgänge erinnern wo dann der Spind oder der Bettenbau kontrolliert wurde. Wehe es lag etwas nicht auf Kante oder man hatte vergessen Zeitungspapier zwischen die Wäsche zu legen damit man einen schönen runden Bogen bekam. Abends musste immer noch das „Päckchen“ gebaut werden. Hier handelte es sich um die Unterwäsche die man tagsüber trug und sie musste in einer bestimmten Größe zusammengelegt werden. Da fiel mir auch wieder ein dass die Unterwäsche nur auf Befehl gewechselt werden durfte und in den ersten drei Wochen kam niemand mit dem entsprechenden Befehl. Dass die Kniebögen durch das robben durch den Schlamm schön schwarz war zählte noch zu den geringsten Übeln.

Am schlimmsten waren aber die Schikanen und das ständige Gebrüll. Ich kann mich noch an eine entwürdigende Situation erinnern in die ich einfach so geriet ohne etwas machen zu können. Bei der Armee ist es üblich dass der Stubenälteste oder derjenige der den Vorgesetzten zuerst entdeckt „Achtung“ zu rufen und eine Meldung zu machen hat. Mich traf es einmal nur mit meinen Badelatschen bekleidet und die hatte ich auch nur in der Hand. Ich zögerte etwas wegen der Meldung und schon hatte ich einen gehörigen Anschiss weg.

Ich könnte noch etliche Dinge aufzählen wie die ständigen ideologischen Schulungen, die öffentliche Kontrolle der Pakete und der Post, das gammelige Essen, dass man uns nie in den Ausgang lies und dass es in dem halben Jahr nur einmal für ein verlängertes Wochenende Urlaub gab, aber ich denke jedem wird klar sein dass ich und meine Kameraden dort keine frohen Tage hatten. Heute ist alles etwas verfallen, Grünzeug wuchern über die ehemaligen Anlagen und die Bewohner schlendern ziemlich relaxt durch die Gegend.

Als ich das Gelände verlies muss ich sagen dass mich das doch noch ziemlich lange beschäftigt hatte, auch noch Tage danach hatte es mich ziemlich mitgenommen. Das ist zwar schon alles eine halbe Ewigkeit her und diese Zeiten sind zum Glück vorbei, aber trotzdem habe ich mich über mich und meine Reaktion gewundert. Ich hatte mich doch für abgeklärt genug gehalten diese Zeiten zu vergessen.

Könnt ihr meine Reaktion nachvollziehen oder habt ihr auch schon einmal solche Situationen erlebt wo alte und längst vergessen geglaubte Begebenheiten wieder aus dem Gedächtnis hervorgeholt wurden?

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» hooker » Beiträge: 7217 » Talkpoints: 50,67 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



Das ist wirklich eine heftige Geschichte. Das wünscht man wirklich keinem, so etwas zu erleben. Warum Menschen anderen so etwas antun und vielleicht sogar noch Gefallen daran finden ist mir ein Rätsel. Vor allem, dass ein Staat seine eigenen Bürger so schikaniert, und auch noch ernsthaft davon überzeugt ist, für eine bessere Welt einzutreten.

Zu deiner Frage fällt mir ein, dass Erinnerungen sozusagen „geogetagged“ sind. Das heißt, dass du dich, wenn du dich an gewisse Orte begibst, vermehrt auf Erinnerungen zugreifen kannst, die auch dort abgespeichert wurden. Manchmal reicht es auch aus, sich einfach vorzustellen, dass man an diesen Ort geht. Vom Prinzip her ist es der selbe Effekt, der auftritt, wenn man in die Küche geht, um irgendetwas zu holen. Aber was? Es fällt einem genau dann ein, wenn man zurück ins Wohnzimmer gegangen ist, wo man den Entschluss gefasst hat.

» Rabat » Beiträge: 302 » Talkpoints: 1,76 » Auszeichnung für 100 Beiträge


Das waren ja Schikanen über Schikanen, die ihr erdulden musstet. Nach allem, was du dort erleben musstest, wird es für dich schrecklich gewesen sein, diese Gebäude erneut nach Jahren wieder zu betreten. Wie kann es sein, dass ihr erst nach drei Wochen die Unterwäsche wechseln durftet? Ihr müsste alle Mann ziemlich streng geduftet haben, oder?

Alle diesen negativen Erinnerungen, die vergraben waren, sind bei dem Anblick der Gebäude wieder hochgekommen. Das ist total nachvollziehbar. Ich glaube dir auch, dass du froh warst, wieder richtig atmen zu können, nachdem du diese Stätte der Erniedrigung in jeder Beziehung wieder hinter dir lassen konntest. Nein, an ähnlich schlimme Dinge kann ich mich nicht erinnern.

» Cid » Beiträge: 20027 » Talkpoints: -1,03 » Auszeichnung für 20000 Beiträge



Danke für die Wortmeldungen und dass ihr meine Geschichte nachvollziehen könnt. Ich habe nichts übertrieben, das war alles so wie beschrieben. Inzwischen sind diese neuen Erinnerungen auch schon wieder etwas verblasst und ich bin auch nicht mehr so unruhig, manchmal hilft es ja auch wenn man es aufschreibt oder mit anderen darüber spricht.

Das mit dem geogetagged leuchtet mir auch irgendwie ein, das habe ich auch schon gehört dass die Gedächtniskünstler so ihre Daten ablegen. Allerdings hätte ich es damit wirklich nicht in Verbindung gebracht.

@cid, das mit dem Geruch hatte sich eigentlich sehr schnell relativiert. Die ersten Tage gab es nur ganz dicke Erbsensuppe weil die neuen Rekruten in der Küche noch nichts anderes konnten und bei 12 Mann im Zimmer und Winterzeit..., denn Satz kannst du selber vollenden. :lol:

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» hooker » Beiträge: 7217 » Talkpoints: 50,67 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



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