Die Umstände und Zustände in der Türkei

Vielleicht haben ein paar von Euch schon mitbekommen, dass momentan in der Türkei die Hölle los ist. Ich möchte ein bisschen darauf eingehen und euch die Situation in der Türkei schildern, da ich selber in der Türkei lebe. Ich lebe jetzt seit mehreren Jahren hier und es ist das erste Mal, dass so etwas extremes passiert. Aber ich fange am Besten von vorne an.

Das Ganze fing in Istanbul an. In Istanbul gibt es einen Park und der Präsident, also Tayyip Erdoğan, wollte dort Bäume abreißen lassen, damit er ein Einkaufszentrum machen kann. Das wollte das Volk aber nicht, weil sie der Meinung sind, dass es in Istanbul schon zu wenig Grünflächen gibt. Anfänglich war auch alles sehr friedlich, leider ist dann die Polizei sehr brutal eingegriffen und hat mehrere Menschen verletzt und sogar 1400 Menschen verhaftet, das sind die offiziellen Zahlen! Erst nach dieser Situation fingen die ganzen Demonstrationen an und das Thema ist nicht mehr nur die Bäume, sondern die eigentliche Führung des Landes.

Tayyip Erdoğan hat in seiner Amtszeit Schritte eingeleitet, die die meisten Menschen sehr schlecht finden. Er möchte nicht, dass auf den Schule Unterricht über Mustafa Kemal Atatürk gegeben wird. Ich möchte nicht näher auf Mustafa Kemal Atatürk eingehen, aber hier könnt das Wichtigste über ihn lesen. Außerdem hat Tayyip Erdoğan strenge Gesetze gegen den Alkohol und gegen die Zigaretten erhoben und möchte eine ''3-Kind-Politik'' einführen. Unteranderem möchte er das Land ''religiöser'' machen, allerdings fehlen ihm dazu momentan die Mittel. Das sind nur einige Punkte, die das Volk nicht in Ordnung finden.

In vielen Großstädten der Türkei gehen die Leute auf die Straße. Ich selber lebe in Izmir und war heute auch unterwegs, damit ich mir die Atmosphäre genauer angucken kann. Es ist so, dass viele junge Leute auf die Straßen gehen, sich auf großen Plätzen versammeln und friedlich demonstrieren. Es wird geschrien und nur wenig beleidigt. Die ganzen Situationen eskalieren nur dann, wenn die Polizei eingreift. Ein Streitpunkt ist, wie schon beschrieben, die Brutalität der Polizei. Und genau aus diesem Grund greift das Volk auch die Polizei zurück an und es eskaliert. Ich möchte keine Seite als richtig betiteln!

Ich möchte gerne Mal wissen, wie ihr das in Deutschland so miterlebt. Wie wird die Situation in den Medien dargestellt? Ich bin auch gerne für Fragen offen, aber möchte eine geordnete, also ohne Beschimpfungen, Diskussion führen.

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich die Ereignisse nicht verfolgt habe. Ich komme in letzter Zeit nicht so sehr zum Nachrichtenlesen wie sonst. Aber vor Wochen ist mir dein Beitrag aufgefallen und nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Jetzt hab ich endlich mal nachgelesen, was in der Türkei los ist.

Ich finde die Bezeichnung "türkischer Frühling" in Anlehnung an den Arabischen Frühling gar nicht so verkehrt, auch wenn ihn viele Demonstranten ablehnen. Sicher ist Erdogan kein Diktator vom Kaliber eines Mubarak und schon gar nicht eines Assad. Aber auch in der Türkei hat eine kleine Unzufriedenheit - immerhin ging es anfangs "nur" um ein paar Bäume - zu landesweiten Protesten gegen viele Unzufriedenheiten geführt.

Und die Unzufriedenheit kann ich sehr gut verstehen. Schärfere Alkoholgesetze und vor allem auch die geplante Reform der Abtreibungsgesetze wären riesige Schritte nach hinten. Ich will niemandem den westlichen Lebensstil vorschreiben, aber ich empfinde es nun mal als normalen Werdegang einer Gesellschaft sich mit der Zeit immer mehr zu öffnen anstatt zu verschließen. Aber andererseits ist die Verschließung auch eine Antwort auf die Probleme, die mit der Öffnung einhergehen, die ich auch nachvollziehen kann. Aber das muss das Volk schon wollen!

Auch der sehr extrem vorangetriebenen Bau von Einkaufzentren leuchtet mir nicht ein und steht mit den geplanten Reformen nicht im Einklang. Wer soll denn dort einkaufen gehen? Die Menschen, denen Spaß und schöne Kleidung verboten sein wird? Die sich auf ihre Religion konzentrieren und nicht dem Westen nacheifern sollen? Das passt doch gar nicht zusammen. Außerdem muss man da auch auf Stadtplaner und andere Experten hören. Istanbul und Ankara haben jetzt schon genug Einkaufsmöglichkeiten pro Einwohner. Was sollen neue Zentren also der Wirtschaft helfen? Der Schuss geht doch nach hinten los und endet in Bauruinen, Investmentruinen und Schulden. Das klingt für mich alles nach Geldmacherei, wenn Erdogan jedes mal Geld bekommt oder nach Größenwahn, wofür auch seine Pläne sich zum Staatspräsidenten küren lassen zu wollen, sprechen.

Das Vorgehen mit Gewalt gegen Demonstranten ist auch ein richtiges Armutszeugnis für die Türkei. Erdogan fragte mal sarkastisch: „Was hätten wir tun sollen? Vor diesen Leuten niederknien und sie bitten, die Banner zu entfernen?“ Die Antwort ist: Ja. Man knüppelt sein Volk nicht nieder, sondern redet mit ihm. Aber ganz ehrlich: dadurch erst wurde der Protest so berühmt, dadurch kamen mehr Menschen und nun geht es eben nicht mehr nur um ein paar Bäume, sondern um sehr wichtige Forderungen. Und ich hoffe, dass die Opfer der Demonstranten nicht umsonst sein werden. Es wurde Zeit, dass sich das Volk zu Wort meldet.

Die Frage ist, ob Erdogan von sich aus Kompromisse eingehen wird. Entweder er will einfach nur an der Macht bleiben, auch wenn sie dann nicht mehr seinen Vorstellungen entspricht. Oder er will unbedingt mit seinen Vorstellungen an der Macht bleiben. Dann müsste man die nächsten Wahlen abwarten. Es ist ja nun schon seine zweite Amtszeit und eine dritte darf es nicht geben, oder?! Leider ist das Wahlsystem noch nicht ganz ausgereift hinsichtlich Demokratie und Benachteiligungen anderer Parteien, aber das kann ja dann die nächste Regierung in Angriff nehmen. Wenn das Volk sich bis dahin nicht hat kleinkriegen lassen.