Unterschiedliches Nähebedürfnis bei Erwachsenen angeboren?

vom 30.04.2013, 11:12 Uhr

Bei meinen Kindern habe ich festgestellt, dass sie ein völlig unterschiedliches Verlangen nach Körpernähe haben, und zwar schon von Geburt an. Mein ältester Sohn hat nicht viel Nähe gebraucht. Er war schon als Baby immer mehr auf die Dinge in seiner Umgebung aufmerksam als auf mich. Im Tragetuch hat er sich oft eingeengt gefühlt und ich musste ihn in sein Bettchen legen, wo er sich dann interessiert die Lampe über ihm angeschaut hat.

Mein Zweitältester war das Gegenteil. Er hat sehr lange an mir geklammert und hat meine körperliche Nähe gebraucht. Es ist immer noch so, dass die beiden sehr unterschiedlich sind. Der eine ist eher distanziert, auch im Umgang mit seiner Freundin, während der andere immer viel Körperkontakt zeigt.

Meint ihr auch, dass unterschiedliches Nähebedürfnis bei Erwachsenen schon in der Kindheit vorhanden war und angeboren ist? Oder spielt die Erziehung doch eine gewisse Rolle? Ich wüsste allerdings nicht, was ich bei meinen Kindern unterschiedlich gemacht hätte, außer jeweils auf die verschiedenen, individuellen Bedürfnisse einzugehen, die von Anfang an da waren.

» anlupa » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »



Dieser interessanten Frage gehe ich schon seit längerem nach. Deine Söhne entspringen zwar aus demselben Genpool, jedoch ist es auch vom Charakter und vom Typ des Menschen abhängig.

Deine Söhne sind völlig unterschiedliche Individuen mit einem völlig unterschiedlichen Habitus. Alle zwei denken und fühlen anders, der eine mehr und der andere weniger. Jener, der mehr fühlt, ist empfindsamer und somit anhänglicher. Der andere, der weniger empfindet, der ist autonomer und neigt weniger abhängig zu werden.

Die Forscher wissen es selber nicht genau, ob ein Verhalten angeboren oder viel mehr anerzogen wurde. Es besteht vielmehr eine Komponente dazu und eine genetische Veranlagung (=Disposition). Wenn bei deinem Sohn diese Komponente nicht stark ausgeprägt ist bzw. die Disposition fehlt, dann wird er sich abgrenzen können und freier sein bzw. unabhängiger sein, während dem anderen familiäre Sicherheit wichtiger ist und er die Nähe zur Mutter aufrecht erhalten möchte.

Jeder Mensch ist unterschiedlich und hat verschiedene Prioritäten und setzt verschiedene Parameter. Das Ergebnis zeigt ein Bild von zwei Söhnen, die jedoch in ihrem Empfinden unterschiedlich handeln. Der eine verzichtet auf die Nähe zur Mutter, was ihm Selbstständigkeit bringt, der andere braucht diese Nähe, das er des Gemüts wegen braucht.

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» kleineAmsel » Beiträge: 205 » Talkpoints: 0,57 » Auszeichnung für 100 Beiträge


Ja, das ist schon interessant. Ich habe noch nicht sehr lange Unterricht im Fach Erziehung, allerdings gibt es da verschiedene Bindungstheorien. Wir hatten in dem Bereich bisher Ainsworth mit seinem Feinfühligkeitskonzept und Bowlby durch genommen, wenn Du danach suchst, wirst Du die Theorien recht schnell finden. Auch interessant dazu sind die Annahmen von Tausch & Tausch, dass man für eine Bindung erst einmal verkürzt gesagt Achtung und Respekt füreinander aufbringen muss.

Eine große Rolle spielt her auch Sicherheit, die sich durch eine Erziehung aufbauen lässt, würde ich so sagen wollen. wenn du dich da einliest, verstehst Du die Zusammenhänge sicherlich besser. Aber natürlich spielt auch die Bezugsperson eine große Rolle. meiner Meinung ist es ein sehr umfangreiches Thema, was wir vielleicht auch nicht vollkommen besprochen haben, das weiß ich jetzt nicht. Später kam zu den Bindungstypen auch noch ein weiterer, der von Mary Main eingeführt wurde, dieser nennt sich z.B. "Unsicher - desorganisierte Bindung". Vielleicht helfen Dir diese Informationen schon weiter.

» ygil » Beiträge: 2551 » Talkpoints: 37,52 » Auszeichnung für 2000 Beiträge



Soweit ich weiß, ist der Charakter, also auch die Frage nach dem Nähebedürfnis und Bindungsvermögen, einerseits angeboren, wird aber auch stark durch Erziehung und Erfahrungen im Laufe des Lebens beeinflusst. Allerdings läuft diese Beeinflussung auch nicht immer gleich ab. Es gibt ja schon einige schwere Erlebnisse im Leben, die zu charakterlichen Veränderungen führen können.

Um das mal auf ein Beispiel zu Pfropfen: Man nehme an, die Eltern eines Kindes trennen sich. Einige Kinder entwickeln daraufhin die Tendenz, sehr misstrauisch zu werden und können in Zukunft nur noch schwer enge Bindungen zu anderen Menschen aufbauen. Aber andere Kinder wiederum suchen dann erst recht Nähe und gehen in Zukunft sehr enge, feste Bindungen mit anderen Menschen ein. Dabei ist es auch egal, ob die Trennung der Eltern voller Streit oder eher friedlich verlief. Jeder Mensch reagiert auf den "Input", den er durch Erlebnisse bekommt, anders, und entwickelt sich dementsprechend auch anders.

Es ist auch so, dass sich das Nähebedürfnis während des Lebens verändern kann. Vielleicht gibt es eine Grundtendenz, aber Veränderungen sind dennoch, in einem bestimmten Rahmen, möglich. So war es beispielsweise bei mir so, dass ich in meiner Kindheit immer sehr distanziert war. Körperliche Nähe mochte ich gar nicht, wenn mich meine Mutter oder irgendwelche Tanten umarmen oder küssen wollten, fand ich das unangenehm bis eklig und wäre am liebsten weggelaufen.

Gegenüber meinem Partner hingegen habe ich schon ein überdurchschnittliches Nähebedürfnis. Ich verbringe sehr gerne sehr viel Zeit mit ihm und auf Dauer fände ich einen Mangel an körperlicher Nähe unerträglich. Und damit meine ich keinen Sex, um den Sexualtrieb geht es hier nicht! Sondern ich meine tatsächlich ein unsexuelles, seelisches Nähebedürfnis, beispielsweise nach Umarmungen. Vielleicht können das nicht alle Menschen empfinden, weil einige Nähe zum Partner ohne sexuelle Gedanken nicht erleben können, aber bei mir ist das definitiv möglich und ich differenziere da auch sehr stark zwischen zwei unterschiedlichen Bedürfnissen, die miteinander nicht zwangsläufig etwas zutun haben.

Wie man sieht, kann sich das Nähebedürfnis also mit der Zeit durchaus wandeln. Entweder so, dass es zunimmt, oder aber sicherlich auch gegenteilig. Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass es auch Menschen gibt, die als Kinder extrem anhänglich waren und Nähe als Erwachsene doch eher weniger benötigen, und die sich möglicherweise als Einzelgänger ohne viele Bindungen an andere Menschen einfach viel wohler fühlen.

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» Wawa666 » Beiträge: 7277 » Talkpoints: 23,61 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



Ich habe lange Zeit angenommen, dass das Bedürfnis nach Nähe eher auf Erfahrungen beruht und konditioniert ist, wenn man so will. Ich habe mich aber eines besseren belehren lassen. Meine Nichte ist mittlerweile 6 Jahre alt und sie war von kleinauf sehr kuschelbedürftig und hat immer die Nähe von Mama gesucht.

Bei einer anderen Nichte, die im Moment knapp 7 Monate alt ist, sieht das jedoch anders aus. Die hatte nie so wirklich Lust auf Kuscheln und Nähe und wollte schon immer lieber die Welt erkunden. Ich finde es echt faszinierend wie unterschiedlich Menschen doch sein können.

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» Täubchen » Beiträge: 33305 » Talkpoints: -1,02 » Auszeichnung für 33000 Beiträge


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