In welcher Situation seid Ihr über Euch hinaus gewachsen?

Mir ist gestern eine ganz blöde Situation passiert. Ich wollte nach der Arbeit zu meinem Schatz nach Berlin fahren. Und dann kam plötzlich, eine Stunde vor Feierabend die Meldung, dass genau die Autobahn, auf der ich fahren muss, zwischen zwei Abfahrten gesperrt ist, da dort ein schwerer Verkehrsunfall verursacht wurde. Ausgerechnet, als ich nun da lang fahren musste!

Also habe ich mir über Google Maps eine Alternativroute ausgedruckt. Ich habe zwar ein Navi in meinem Handy, aber das habe ich noch nie benutzt, weil ich immer Angst hatte, mit der Technik nicht klar zu kommen. Jedenfalls fuhr ich die besagte Route, fuhr aber dann doch falsch, so dass ich ganz woanders ankam, als ich eigentlich dachte. Mein Herz schlug, ich hatte weiche Knie und wusste nur, ich muss jetzt irgendwie zu meinem Freund kommen.

Als ich dann an einer längeren Ampelphase stand, schnappte ich mir mein Handy, aktivierte das Navigationssystem und sprach mein Ziel ein. Durch das GPS hatte das System meinen aktuellen Standort von alleine geortet. Und von da an leitete mich dieses Navi bis zu meinem Ziel. Als ich merkte, wie gut alles klappt, wurde ich langsam ruhiger. Und als ich dann endlich am Ziel ankam, war ich sogar ein bisschen stolz auf mich, denn wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mal alleine durch Berlin fahre, ohne zu wissen, wohin ich muss, hätte ich demjenigen einen Vogel gezeigt.

Dieses Erlebnis hat mir sogar geholfen, meine Angst zu überwinden, unbekannte Strecken zu fahren. Ich wurde quasi unfreiwillig ins kalte Wasser geworfen und habe aber so schwimmen gelernt. In dieser Situation bin ich über mich hinaus gewachsen, denn ich hätte nie gedacht, dass ich das alleine schaffen würde.

Kennt Ihr auch Situationen, in denen Ihr das Gefühl hattet, über Euch hinaus zu wachsen? Was für Situationen waren das?

Bist Du ernsthaft stolz auf Dich, weil Du es „geschafft“ hast, Dich von einem Navigationssystem navigieren zu lassen? Das finde ich sehr erstaunlich, Jacqui_77, denn sonderlich schwierig oder nicht selbsterklärend finde ich das nun ehrlich gesagt nicht und ich denke auch nicht, dass man eine solche Situation als eine bezeichnen kann, in der man über sich selbst hinauswächst oder stolz auf sich sein müsste. Ich wüsste jedenfalls nicht, weshalb.

Wenn jemand über sich hinauswächst, dann bedeutet das meiner Meinung nach etwas komplett anderes, nämlich, dass jemand Stärken oder Fähigkeiten entwickelt, die er immer wieder versucht hat, zu beweisen, ohne das jemals zuvor geschafft zu haben. Wenn jemand einfach nur Angst vor der Technik hat und diese also meidet, ohne sie auszuprobieren, dann wächst er meiner Meinung nach jedoch nicht über sich hinaus, wenn er sich dann an einen technischen Gegenstand heranwagt und es auch schafft, mit diesem klarzukommen.

Was mich selbst betrifft, so würde ich sagen, dass ich ein paar wenige Male das Gefühl hatte, über mich hinausgewachsen zu sein, wenn ich Situationen bereinigen konnte, aus denen nicht nur ich selbst Schwierigkeiten hatte, herauszufinden, sondern die so manchen Menschen zum persönlichen Scheitern bringen und die nicht selten auch das Einschreiten von Fachleuten notwendig machen. Ich denke da beispielsweise an eine üble Schuldensituation, in der ich vor vielen Jahren gesteckt habe und bei der es mir dann doch gelungen ist, nach und nach alles zu regeln und abzubezahlen, was niemand für möglich gehalten hat und wofür ich auch keine Unterstützung durch einen Schuldenberater oder ähnliches hatte.

Wenn Jacqui_77 aber nun einmal Angst gehabt hat, ihr Navigationssystem zu bedienen aus der Befürchtung heraus, mit dieser Technik nicht zurecht zu kommen, und sich darüber hinaus auch nicht zugetraut hat, alleine eine unbekannte Route durch eine Großstadt zu fahren, dann finde ich schon, dass sie über sich hinaus gewachsen ist! Und zwar in genau dem Moment, in dem sie gemerkt hat, dass die Situation nur halb so schlimm ist und ihre Angst unbegründet ist. In dem Moment also, in dem ihre weichen Knie wieder fest geworden sind, sozusagen. Ich wäre an ihrer Stelle sicherlich auch stolz gewesen. Klar, objektiv betrachtet ist das jetzt keine große Sache, die sie beschreibt (entschuldige bitte ), aber für sie ist es eine beachtliche Leistung gewesen, diese Situation zu durchstehen.

Ich selber bin im letzten Jahr über mich hinaus gewachsen, als ich wegen der Geburt meines Fohlens und der Stutbucheintragung meiner Schule mit mir total unbekannten Menschen telefonieren musste, die für meinen Zuchtverband arbeiten. Und dabei hasse ich doch nichts mehr, als mit anderen Leuten zu telefonieren! Ob ich sie nun kenne oder nicht, ich bin immer aufgeregt vor einem Telefonat. Und wenn ich dann auch noch mit einem Fremden telefonieren muss, dann werden meine Knie weich, mein Herz fängt an zu rasen und ich kriege kaum einen Ton heraus, weil ich nicht mehr richtig atme.

Nachdem ich aber drei oder vier Leute angerufen hatte und diese alle echt nett zu mir gewesen sind, hatte ich mit den folgenden Telefonaten zunächst keine weiteren Probleme mehr und ich bin sehr stolz auf mich gewesen, dass ich trotz meiner vermutlich durch meinen leichten Autismus hervorgerufenen Telefonphobie so tapfer gewesen bin, mit so vielen Fremden zu telefonieren. Und vor allem, dass es mir dann am Ende auch ganz leicht fiel.

Für andere Menschen ist dies sicherlich ein Witz. Für mich aber stellt ein Telefonat eine große Herausforderung dar und in so einer Situation muss ich tapfer bleiben und eben über mich hinaus wachsen. Dafür habe ich keinerlei Probleme damit, mit einem Pferd über einen Sprung zu springen, der höher ist als ich - wo so manch anderem Menschen der Angstschweiß die Stirn herunter laufen würde. Jeder Mensch hat eben andere Situationen, die ihm schwer fallen. Man muss ja nicht immer nur in einer Notsituation über sich hinaus wachsen können.

Ich bin der Meinung, dass solche Situationen, in denen man über sich hinauswächst, eher jene sind, in denen man bisher vollkommen Ungeahntes tun muss, das einen selbst an seine Grenzen treibt – und eben darüber hinausgehen lässt. Solche Dinge kann man auch in der Regel nicht im Vorfeld üben, im Gegensatz zur Bedienung eines Navigationsgerätes. Telefonate mit völlig fremden Menschen kann man sicherlich üben, gleichzeitig sind diese aber mit viel mehr Unwägbarkeiten verbunden als das Bedienen eines einfachen technischen Gerätes.

Mit Verlaub, ich bin nach wie vor der Meinung, dass es sich hierbei nicht um eine Situation handelt, in der Jacqui_77 über sich hinausgewachsen ist, und dabei spiele ich noch nicht einmal darauf an, dass es sich hierbei um eine verhältnismäßige Kleinigkeit handelt, zumal Navigationsgeräte weder schwer zu bedienen sind noch deren Bedienung irgendwelche Konsequenzen haben wird, die einen in größere Schwierigkeiten bringen. Somit kann man ein Telefonat mit einer fremden Person auch wiederum nicht damit vergleichen, meine ich.

Situationen, in denen man über sich selbst hinauswächst, sind doch solche, in denen man Nervenstärke beweisen und sich durchsetzen muss, aber eben, indem man seine eigenen Grenzen überschreitet – und vermutlich auch die einiger anderer Menschen in einer ähnlichen oder gar der gleichen Situation. Das Bedienen eines Navigationsgerätes kann ich hier nicht wirklich hinzuzählen, zumal es, wie gesagt, längst zu Hause hätte geübt werden können, möglicherweise auch in der gewohnte Umgebung. Davon hängt nichts ab und ein Erstkontakt mit diesem Gerät wäre absolut ohne Tragweite gewesen.