Steigende Aggressivität im zwischenmenschlichen Bereich

Immer häufiger kommt es vor, dass ich bei Aktivitäten außer Haus feststelle, dass die Menschen um mich herum voll von Aggressionen und Wut sind. Es gibt verschiedene Situationen in denen ich das schon festgestellt habe und ich frage mich, ob es früher genauso war und ich es nicht wahrgenommen habe oder ob die Menschheit allgemein schneller gereizt ist.

Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit war an der Kasse einer Drogeriekette. Eine ältere Frau beschwerte sich bei der Kassiererin, dass sie einen Artikel für 20 Cent zu viel gekauft habe, obwohl dieser günstiger im Werbeheft zu finden sei. Die Kassiererin, die von sich selbst sagte, dass sie noch Auszubildende ist, musste nach ihrem Chef klingeln, um einen Stornovorgang durchzuführen.

Es dauerte einige Minuten bis der Chef da war, in dieser Zeit war die Kasse natürlich unbrauchbar und die Schlange mit ungefähr 10 Personen musste einige Augenblicke warten. Ich habe mich gefühlt wie in einer Horde wild gewordener Affen, die Leute haben geschimpft, sogar die Kassiererin wurde beleidigt. Ich kann das absolut nicht nachvollziehen, warum die Menschen bei solchen Banalitäten, die ja nicht aus Böswilligkeit geschehen, so schnell aggressiv werden.

Mir hat die Kassiererin echt Leid getan und ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich nichts daraus machen soll, dass die Leute eben heute alle noch furchtbar wichtige Termine haben und Geduld eine Tugend ist, die längst nicht mehr jeder lernt.

Solche Sachen habe ich aber schon öfters beobachtet, wegen Kleinigkeiten werden die Leute sauer. Zu lange Kassenschlange, zu lange die Ampel rot, ein versehentlicher Schubser beim Einsteigen in den Bus, die Liste ist lang. Kennt ihr das auch, dass Menschen wegen Nichtigkeiten aus der Haut fahren? Habt ihr selbst auch den Eindruck, dass die Aggressivität zunimmt oder sagt ihr eher, dass es schon immer so war? Seid ihr vielleicht selbst jemand, der schnell aus der Haut fährt und könnt die Ungeduld und Wut der Menschen nachvollziehen?

Ich kann mir schon gut vorstellen, dass in deiner Beobachtung tatsächlich ein bisschen Wahrheit steckt. Die Menschen werden immer mehr Druck und Stress ausgesetzt, man muss immer mehr Dinge beachten, erledigen, im Kopf behalten. Man muss allein nur mal überlegen, wie viel Zeit man in Wahl, Abschluss und Verwaltung der ganzen inzwischen üblichen Versicherungen stecken muss.

Und das ganze führt dazu, dass emotionale Probleme wie Depressionen oder die von dir beobachteten Aggressionen im Prinzip eine Volkskrankheit ist. Typische Situationen, in denen man solches Verhalten beobachten kann, findet man neben den Schlangen an einer Kasse auch im Straßenverkehr. Ich habe irgendwo mal von einer Studie gelesen, in der ein Großteil der untersuchten Studenten (ich glaube es waren um die 70%) so stark unter Aufschieben, also auch einem typischerweise stressbedingten emotionalen Problem, litten. Und das in einer Ausprägung, dass sie eigentlich eine Therapie benötigen würden.

Es gibt in unserer Gesellschaft und unserem Bildungssystem noch kein richtiges Konzept, wie man systematisch mit diesen Stressfaktoren umgeht. Das Wissen ist im Prinzip vorhanden, schließlich können Psychologen solche emotionale Probleme selbst in schweren Fällen inzwischen sehr gut und effektiv behandeln. Die dort erprobten Methoden eignen sich aber im Prinzip auch, um in Eigenregie mit emotionalen Problemen in leichten Fällen umgehen zu können. Nur ist das Bewusstsein in der Gesellschaft dafür nicht vorhanden, um dieses Wissen systematisch zu nutzen. Meiner Meinung nach gehört es zur Allgemeinbildung und sollte in Schulen unterrichtet werden. Damit könnte man Aggressivität und Depressionen in der Gesellschaft sicherlich stark reduzieren.

Natürlich habe ich derlei unschöne Szenen im Alltag auch schon beobachtet, glaube aber nicht zwingend, dass die Aggressivität wirklich zugenommen hat. Man merkt sich eben die wenigen Male, wo jemand die Beherrschung verliert und nicht die Dutzenden ganz normalen und höflichen zwischenmenschlichen Begegnungen im Alltag. Ich glaube, da spielen oft selektive Wahrnehmung und Vorurteile eine große Rolle.

Ich verbringe beispielsweise jeden Tag ein paar Stunden in gut gefüllten Zügen, Straßenbahnen und U-Bahnen, also in einem recht stressigen Umfeld. Da ist es oft mal eng, Verspätungen kommen gerade im Winter auch häufig vor und Kinderwägen, Gepäck und Hunde sind gerne mal im Weg. Trotzdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die überwältigende Mehrheit der Betroffenen auch dann ruhig und halbwegs höflich bleibt, wenn das Gedränge wirklich extrem oder die Verspätung mal wieder kaum auszuhalten ist.

Daher kann ich aus eigener Erfahrung nicht behaupten, dass die Leute sich aggressiver verhalten als "früher". Dafür müsste man sowieso als erstes Vergleichswerte bestimmen. "Früher" vor der Erfindung der Eisenbahn haben sich die Leute vielleicht einfach nur wegen anderer Dinge angezickt und "früher" im Sinne von im Jahre 1985 war die Situation meiner Meinung nach bestimmt auch nicht besser als heute.

Ich habe nicht festgestellt, dass die Aggressivität größer wird. Früher gab es auch Ausfälle, wenn die Leute zu dicht aufeinandergehockt sind. Meistens sind die Leute relativ geduldig, wenn sie in der Schlange stehen. Wenn jemand blöde Bemerkungen macht, dann wird er meistens von den anderen zurechtgewiesen. Aber objektiv kann ich natürlich nichts dazu sagen. Es ist meine subjektive Beobachtung in meinem Umkreis, dass sich das menschliche Verhalten eigentlich wenig verändert hat.