Individualität wirklich nur selbst geschaffene Illusion?

Ich habe mich vor kurzem mit einem Freund darüber unterhalten, dass ihm bei vielen Menschen die Individualität fehlt. Er sagte, dass die meisten Menschen einfach alle gleich sind und es nur wenige gibt, die sich wirklich von der Masse abheben. Das ist auch einer der Gründe, warum er sich mit den meisten Personen, die er so kennenlernt, keine Beziehung vorstellen kann. Er ist schon eine ganze Weile Single. Grundsätzlich kann ich diese Aussage nachvollziehen und mir geht es auch oft so, dass ich Leute kennenlerne, die zu sehr im Mainstream verankert sind.

Aber ich denke, dass man die Sache auch anders herum betrachten kann. Ich habe diese Äußerung, dass man etwas Besonderes sucht, schon von mehreren Leuten gehört. Ich habe früher auch schon häufiger gesagt, dass mir viele Leute zu „normal“ sind. Parallel dazu gibt es immer wieder einzelne Personen, die sich ein wenig von der Masse abheben. Ich frage mich dabei aber, ob die selbsternannten Individualisten wirklich so individuell sind. Mittlerweile würde ich diese Frage eigentlich verneinen.

Es wird immer Menschen geben, mit denen man nicht so viel anfangen kann und die einem langweilig erscheinen. Aber ich glaube nicht, dass man besonders individuell ist, nur weil man sich in manchen Punkten von der breiten Masse abhebt. Dadurch dass es genug Leute gibt, die sich wiederum abheben, bilden diese auch wieder eine größere Gruppe und damit ist es wieder vorbei mit dem Dasein als Individualist.

Gibt es eurer Meinung nach Menschen, die wirklich individuell sind? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine breite Masse, zu der doch alle Menschen gehören und in der die Unterschiede gar nicht so riesig sind. Ist das Gefühl, sich von der Masse abzuheben, nicht einfach nur eine Illusion, also der Wunsch, sich von der Masse abheben zu können?

Ich glaube nicht, dass das Gefühl, sich von der Masse abzuheben, nur eine Illusion ist, weil man den Wunsch danach hegt, sich von der breiten Masse abzuheben. Natürlich, man kann sich so lange eingehend betrachten, bis man eine ausreichende Zahl an Merkmalen gefunden hat, die einen offensichtlich von der breiten Masse abheben. Auch dann, wenn selbige breite Masse sagen würde, dass man selber kein Stück anders ist als sie. Da hat man dann wirklich den Wunsch gehabt, anders zu sein als der Rest und man hat dann so lange gesucht, bis man diese Unterschiede gefunden hat.

Es geht aber auch anders. Es gibt viele Menschen, bei denen ich sagen würde, dass sie sich von der Masse abheben oder eben nicht zum mainstream gehören. Wenn ich nur mal ein ganz einfaches Beispiel anfügen möchte, dann würde ich schon einen Autisten dazu anführen. Natürlich gibt es eine Menge Autisten und viele von ihnen sind sich in ihrem Verhalten sehr ähnlich. Aber die große Masse der Menschen ist eben nicht autistisch. Hier hebt sich eine Person von der Masse ab. Zwar nur wegen der Symptomatik einer Krankheit, aber sie tut es eben.

Ich selber würde von mir behaupten, dass ich nicht in die breite Masse hinein passe. Und viele Freunde und Bekannte haben mir schon mehrfach versichert, dass ich einfach anders bin. Ich passe in kein Schema und falle durch jedes Raster. Als einen Individualisten habe ich mich persönlich noch nicht bezeichnet und ich bin mir auch nicht sicher, ob das so wirklich passen würde, aber ich bin bestimmt niemand, der dem mainstream angehört. Und so wie es mich gibt, gibt es noch viele andere. Das kuriose ist, dass viele dieser Individualisten, wenn man sie so nennen möchte, selber gerne "ganz normal" sein würden beziehungsweise sich so sehen und keinen Unterschied zur breiten Masse sehen. Es kann also gar nicht immer eine persönliche Illusion sein.

Die meisten Menschen richten sich nach dem Mainstream. Es ist sehr wichtig für sie, was die anderen tun und machen, welche Markenkleidung sie tragen, wie sie ihre Freizeit verbringen. Nur ja nicht auffallen, gucken, was andere tun, dann haben sie das Gefühl, richtig zu liegen. Nur wenige schaffen es, sich ihre Individualität zu bewahren. Sie tragen den Wunsch in sich, sich von der Masse abzuheben, was sie denn auch tun.

Nimmst du die einzelnen Individualisten zusammen, wiederum als Masse, hast du deine größere Gruppe. Aber trotzdem muss es nicht bei der Illusion bleiben. Denn von dieser Masse werden sich wieder einzelne abspalten und anders sein, weil sie es wollen und sich nicht zugehörig fühlen zur Gruppe. Ja, es gibt sie, die Individualisten. Sie sind einmalig und unverwechselbar.

Ich sehe eigentlich jeden einzelnen Menschen als ein Individuum. Natürlich bewegen wir uns alle in großen sozialen Gruppen, das ist anders ja auch überhaupt nicht möglich, aber innerhalb dieser großen Gruppe ist für mich wirklich jeder Mensch ein Individualist. Jeder von uns hat doch andere Erfahrungen gesammelt und somit andere Ansichten und andere Dinge zu erzählen.

Was mir nicht besonders gut gefällt ist, dass man oft anhand der Kleidung oder des Musikgeschmacks nach Mainstream oder Individualist unterscheidet, ich hingegen finde diese Punkte völlig irrelevant. Nur weil jemand auffällig gekleidet ist heißt das noch lange nicht, dass er die Welt anders sieht oder andere politische Ziele verfolgt, er trägt einfach nur Dinge, die nicht jeder anhat. Das macht die Person für mich aber keineswegs interessanter. Genauso kann es aber auch andersherum sein, dass jemand auf den ersten Blick sehr unscheinbar und unauffällig wirkt, es sich im Gespräch aber herausstellt, dass diese Person völlig neue, eigene Ideen und Ziele verfolgt. Und dennoch: in beiden Fällen entscheide ich für mich, wen ich als Individualisten ansehe, doch mein Blick ist auch von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe getrübt, es ist also nur meine sehr persönliche Sichtweise, nicht aber eine allgemeingültige Realität.

Ich finde die Aussage deines Freundes übrigens ein klein wenig überheblich. Für mich klingt sie ein wenig danach, als würde er sich als besser ansehen, da er selbst in seinen Augen wohl nicht dem Mainstream angehört und daher interessanter ist als andere Menschen. Das finde ich ein klein wenig verbohrt, weil man sich mit einer solchen Einstellung nur schwer auf Leute einlassen kann, die einem im ersten Moment vielleicht als „zu glatt“ erscheinen, die den eigenen Horizont aber vielleicht um ein vielfaches erweitern könnten.

Gibt es eurer Meinung nach Menschen, die wirklich individuell sind? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine breite Masse, zu der doch alle Menschen gehören und in der die Unterschiede gar nicht so riesig sind. Ist das Gefühl, sich von der Masse abzuheben, nicht einfach nur eine Illusion, also der Wunsch, sich von der Masse abheben zu können?

Es gibt sicher Menschen, die weniger angepasst sind als andere und wenn man einzelne Merkmale heraus nimmt gibt es natürlich Menschen, die zu einer größeren Masse gehören und Menschen, die zu einer kleineren Masse gehören. Aber jemand, der absolut individuell ist, dürfte es wohl sehr schwer haben sich überhaupt in irgendeiner Weise in die Gesellschaft zu integrieren. Der Umgang innerhalb einer Spezies basiert ja irgendwo darauf, dass man Gemeinsamkeiten hat, die gleichen Verhaltensmuster in anderen entdeckt und so weiter.

Ein Stück weit ist Individualität also sicher eine Illusion und vor allem werden ja auch gerade die Menschen, die stark um Individualität bemüht sind, extrem durch die Masse definiert. Sie kaufen dann zum Beispiel nicht eine bestimmte angesagt Marke sondern entscheiden sich bewusst für eine andere Marke. Aber der Grund für ihre Entscheidung ist ja auch der Trend und damit sind sie dann auch wieder vom Trend abhängig. Amüsant finde ich immer die Aussagen bei Modethemen, die auf den ganz eigenen Stil hinweisen und dann stellt sich heraus, dass der "eigene Stil" auch nur von der Stange kommt und aus Massenware besteht.

Was aber das Thema Partnerschaft und Individualität betrifft - wenn man die richtige Person trifft dann ist es doch immer so, dass diese aus der Masse heraus sticht und, dass diese Person dann etwas ganz besonderes ist. Für mich hat das jetzt wenig damit zu tun, was die Person für außergewöhnliche Hobbys hat, Kleidung trägt oder Ansichten hat.