Kennt ihr Menschen die nur in der Vergangenheit leben?

Besonders ältere Menschen reden viel von der Vergangenheit. Die Gegenwart und die nähere Zukunft sind diesen Menschen nicht besonders wichtig. Sie leben quasi mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart.

Kennt ihr solche Menschen? Geht ihr auf diese Menschen ein oder zeigt ihr ihnen die Gegenwart und sprecht extra mehr von der Zukunft, damit die Menschen auch wieder in die Gegenwart kommen? Wie geht ihr mit solchen Menschen um? Könntet ihr euch vorstellen, dass auch ihr irgendwann eher in der Vergangenheit lebt?

Bei älteren Menschen habe ich das schon oft mitbekommen, umso älter sie werden desto mehr gehen sie in ihre Vergangenheit zurück. Wenn sie dann ganz frühe Kindheitserinnerungen erzählen, steht der Tod meistens schon ganz nah. Wie gesagt, das sind nur meine Beobachtungen. Ich habe mich auf diese Erinnerungen eingelassen und eben neue Sachen erzählt und interessiert zugehört. Man kann meistens eh nichts mehr am Verhalten ändern, bei älteren Menschen.

Ramones, das ist ja erschreckend, dann steht der Tod bei mir direkt vor der Tür. Ich erzähle meinen Kindern auch oft von ganz frühen Kindheitserinnerungen. Es stimmt, dass man, wenn man älter wird, mehr von früher erzählt, aber das ist einfach deswegen so, weil man so viel erlebt hat. Die Vergangenheit ist einfach vielfältiger als die Zukunft.

Ich erzähle aber auch deswegen von früher, weil ich bereue, von meinen Eltern so wenig über ihre Kindheit erfahren zu haben. Ich habe meinen Kindern neulich von meinen Großeltern erzählt und welche Eigenschaften meine Kinder teilweise von ihnen geerbt haben. Sie sind ja sozusagen ein Teil von ihnen und das kann ihnen vielleicht ein Ganzheitsgefühl geben.

Ich höre gerne alten Leuten zu, um Lebenseinstellungen zu vergleichen und zu analysieren, warum Leute so geworden sind, wie sie sind, und was man für sich selber daraus lernen kann. Es gibt sehr weise, alte Menschen, die Ereignisse und Verhaltensweisen in einen großen Zusammenhang stellen können, aber auch sture, die gedanklich sehr unbeweglich sind. Von den weisen Alten könnten die Jugendlichen viel lernen, aber es muss wohl so sein, dass jede Generation ihre Erfahrungen immer wieder neu und gleich machen muss.

Wenn man 80 Jahre gelebt hat, hat man einfach mehr Erinnerungen, als wenn man gerade 20 Jahre alt ist. Diese Erinnerungen müssen wahrscheinlich permanent gewartet und neu sortiert werden, das geht am besten durch Reden darüber.

Ich habe auch schon Leute getroffen, die mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebten. Dabei handelte es sich aber nicht ausschließlich um ältere Personen, obwohl ich auch zustimmen würde, dass man in den älteren Generationen häufiger Personen findet, die eher rückwärtsgewandt sind. Bei den älteren Leuten ist es dann oft so, dass sie in der Gegenwart praktisch nichts mehr haben, an dem sie sich erfreuen können. Wenn der Ehepartner vielleicht schon lange tot ist und die Leute kaum Verwandte und keine Freunde haben, bleibt vielleicht irgendwann nur noch die Vergangenheit, an der sie sich erfreuen können. Das betrifft sicher vor allem diejenigen, die auch sonst nicht mehr so viel haben im Leben, weil sie nicht nur alt, sondern auch krank sind und auch gar nichts mehr unternehmen können.

Bei jüngeren Leuten habe ich so ein Verhalten vor allem bei denjenigen erlebt, die nach persönlichen Niederlagen und Trennungen die Vergangenheit idealisiert haben und sich nicht vorstellen konnten, dass sie in der Gegenwart oder Zukunft jemals wieder so glücklich sein werden wie das vielleicht früher mal waren. Diese Leute reden dann immer wieder über die Vergangenheit und glorifizieren diese. In der Regel ist das aber ein eher vorübergehendes Phänomen, das irgendwann von allein verschwindet, wenn die Leute feststellen, dass sie der Gegenwart doch noch etwas Schönes abgewinnen können und mit positiven Gedanken in die Zukunft gehen.

Ich finde es schwierig, mit solchen Menschen konfrontiert zu sein. Oft ist damit einfach ein gewisser Pessimismus verbunden. Ich halte es grundsätzlich für kritisch, wenn Menschen naiv und auch in den unmöglichsten Situationen zu optimistisch an Sachen herangehen. Allerdings finde ich es auch problematisch, wenn jemand wirklich dauernd schlecht gelaunt und pessimistisch ist. Das nervt mich auch und daher finde ich es besonders anstrengend, wenn Leute die Vergangenheit idealisieren und für die Gegenwart nur schlechte Aussagen übrig haben. Auf so ein Verhalten habe ich wirklich keine Lust und ich versuche dann auch meistens, den Leuten vor Augen zu führen, dass sie selbst auch ihren Beitrag zu der negativen Situation leisten und aus eigener Kraft sicher viel erreichen könnten. Das kommt meistens nicht so gut an. Bei jüngeren Leuten und eher banalen Problemchen würde ich dennoch weiterhin etwas sagen und dann resignieren, wenn absehbar ist, dass derjenige in seiner jämmerlichen Situation verharren möchte. Irgendwann findet er dann von alleine heraus.

Bei älteren Leuten finde ich es schwieriger, mit so einer Einstellung umzugehen. Viele dieser Leute würden nämlich auch mit einiger Anstrengung nicht mehr aus ihrer Situation herauskommen - und selbst wenn, ist das Verharren in der Vergangenheit vermutlich in vielen Fällen attraktiver als die Konfrontation mit der aktuellen Realität und der oft nicht ganz so strahlenden Zukunft. Man sollte also lieber genau abwägen, wie man mit wem in welcher Weise spricht.

Solche Menschen, die nur in der Vergangenheit zu leben scheinen und allem Anschein nach vor allem keine Gegenwart haben, wenn schon keine Zukunftsvorstellungen, kenne ich zwar auch, aber ich kenne eigentlich nur wenige davon. Auch handelt es sich hierbei gar nicht ausschließlich nur um ältere Herrschaften, sondern um Menschen aller Altersgruppen, die aber alle etwas gemeinsam haben: sie haben wirklich keine Gegenwart. Mir fiel bei all diesen Menschen bisher immer recht deutlich auf, dass sie keinen wirklichen Lebensinhalt haben, sondern einem dauernden Trott nachgehen, der sie in einer Art Dauerschleife durch den Tag bringt – ohne Höhen, aber auch ohne Tiefen. Ihr Leben scheint bewegungslos zu sein und sie können die Gegenwart wohl nicht wirklich erfassen, weil sie einfach nichts bietet, außer eben dem, was sie schon einige Zeit lang kennen. Ihre Höhen holen sie sich also aus der Vergangenheit zurück, um etwas zu haben, woran sie sich erfreuen können, weil die Gegenwart ihnen dahingehend nichts bietet und die Zukunft wohl zu weit weg erscheint, oder möglicherweise auch als eine logische Weiterführung der langweiligen Gegenwart, die also auch keine nennenswerte Veränderung mit sich bringen wird.

Wirklich einwirken will ich auf diese Menschen nicht so konkret, dass ich auf sie zugehe und versuche, sie in die Gegenwart oder gar in die Zukunft zu befördern, weil ich meine, dass es ihnen nichts hilft, wenn ich sie in diese Richtung stubse. Es wird bedeutend mehr Wert für sie haben, wenn sie sich selbst darüber bewusst werden können, was ihr Problem ist und dass ihnen einfach ein gegenwärtiger Inhalt fehlt. So direkt auf jemanden zuzugehen, weil man meint, er habe ein Problem, finde ich schwierig, zumal ich denjenigen dann ja auch konfrontieren muss. Das kann schon mal vorkommen, dass ich das tue, aber das passiert dann eher unbeabsichtigt und wenig bewusst. Ich konfrontiere zwar meine Freunde damit, wenn ich meine, dass es ihnen besser gehen könnte, aber ich halte grundsätzlich doch mehr davon, wenn jemand selbst im Rahmen eines Gesprächs oder durch eigenes Nachdenken begreift, wie sich seine Situation darstellt, was er für ein Problem hat und wie er dieses lösen kann.

Ich gehe also mit diesen Menschen ganz normal um und ich wüsste auch nicht, wie ich sonst mit ihnen umgehen sollte. Es mag sein, dass ich mal versuche, Impulse zu liefern, wenn ich merke, dass jemand im Begriff ist, sich seine Vergangenheit wirklich so sehr herbeizusehnen, dass ich schwerwiegende Folgen für ihn absehen kann, die in ihrer Auswirkung verheerend sein könnten. Impulse zu geben, finde ich hier nicht ganz verkehrt, zumal ich damit niemandem etwas aufdränge, sondern lediglich versuche, ihn etwas wachzurütteln. Ob er sich erwecken lassen will und inwieweit das möglich ist, stellt sich dann im Einzelfall dar und ist ganz unterschiedlich. Mir ist aber auch aufgefallen, dass die Menschen, die in der Vergangenheit leben, ganz häufig durchaus wahrnehmen, wie es den Menschen um sie herum geht und sie wissen wohl auch, dass ihnen irgendetwas fehlt, denn mir ist nicht selten untergekommen, dass diese in der Vergangenheit lebenden Menschen feststellen und äußern, dass andere mitten im Leben stehen und viel Spaß haben, tolle Pläne machen oder denjenigen eben so einiges gelingt. Das ist doch immerhin schon mal gar nicht übel als Grundlage für eine Veränderung, zumal es für die eigene Situation sensibilisiert, wie ich meine.

Dass ich selbst mal in der Vergangenheit lebe, kann ich mir durchaus vorstellen, ja. Es handelt sich hierbei sicherlich um einen schleichenden Prozess, den man als Betroffener nicht zwingend wahrnimmt. Außerdem denke ich gerne zurück, aber eben auch gerne in die Zukunft, bei mir ist das momentan sicherlich noch ausgewogen. Dass dies irgendwann einmal eine Veränderung dahingehend nehmen könnte, dass ich nur noch zurückblicken kann, darf ich aber nicht ausschließen, eben, weil ich meine, dass das jedem mal passiert und wohl auch schon jedem von uns so gegangen ist, allerdings aber vermutlich nur über eine kurze Zeitspanne, in der wir einen mentalen Einbruch hatten. Da nicht mehr herauszukommen, muss wohl jeder von uns in Betracht ziehen, auch, wenn das sicherlich nichts ist, worauf auch nur irgendjemand von uns ganz gezielt hinarbeitet, denn erstrebenswert ist ein solcher Zustand ja nun nicht wirklich.