Erziehung gegen den "Zeitgeist"?

vom 15.01.2012, 20:25 Uhr

"Erziehung gegen den Zeitgeist – geht das überhaupt?" - Goethe sprach diese Problematik bereits vor etwa 200 Jahren mit seinem Werk "Die Leiden des jungen Werther"an (das Zitat stammt übrigens auch von Goethe). Kann man ein Kind erziehen, seinen Geist und Charakter bilden und es auf das Leben vorbereiten, ohne dass man dabei die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen befolgt? Inwieweit besteht dieses Problem noch heute?

In der konservativen Weltanschauung der letzten paar hundert Jahre musste sich jeder den gesellschaftlichen Konventionen beugen. Gehorsam und Disziplin waren die wichtigsten Tugenden, die man einem Kind im Zuge der Erziehung vermitteln musste. Wie Goethe bereits bemerkt hatte, war es schwierig, solche Normen aufzubrechen und einen eigenen Erziehungsstil zu wählen. Heute würde man denken, dass die Gesellschaft so fortgeschritten und liberal wäre, dass das durchaus möglich wäre. Bei genauerem Hinschauen bemerkt man allerdings, dass das keineswegs der Fall ist. Die Erziehung des derzeitig vorherrschenden Zeitgeistes ist liberaler und dem Kind mehr Freiheit bei Entscheidungen gebend, aber immer noch streng. Wenn ein Kind vollkommen anders erzogen, führt das oft zu Beliebäugelungen und Vorurteilen. Beispielsweise gelten Eltern, die ihre Kinder sehr locker erziehen und wenig Grenzen ziehen, als unfähig und unreif, während Eltern, die stark auf Disziplin setzen, als konservativ und grimmig angesehen werden.

Doch nicht nur die Erziehenden sind von den Folgen der Nichteinhaltung von Sitten betroffen, sondern später auch die Kinder. Diese lernen nämlich erst später, sich diesen fragwürdigen Normen zu fügen. Sie wurden nach anderen Idealen erzogen und leben diese Ideale nun, was bei anderen Kindern auf Ablehnung stoßen kann, allerdings werden auch sie sich früher oder später wahrscheinlich dem Zeitgeist weitgehend anpassen. "Anders" erzogene Kinder finden vermutlich weniger leicht Anschluss und Freunde, weil sich ihr Handeln und ihr Denken von dem der anderen unterscheidet. Kinder, die erfahren haben, alles zu dürfen, werden es schwer haben, sich mit den Regeln der Schule zu identifizieren.

Nicht zuletzt muss Erziehung gegen den Zeitgeist nicht unbedingt an der Gesellschaft scheitern, sondern Erziehung kann auch gesetzlich geregelt sein, ohne dabei den Eltern Entscheidungen zu überlassen. Das beste Beispiel in Österreich ist hierfür die Zeit des Nationalsozialismus: Zu dieser Zeit galt das Prinzip der "totalen Erziehung", die die "arische" Jugend zu Nationalsozialisten und "rassenbewusste Volksgenossen" erziehen sollte. Den sozialen Normen widersprechende Erziehung war damals gar nicht möglich, da Erziehung eben nicht nur im Elternhaus, sondern auch in Schulen und Jugendorganisationen passiert, die streng kontrolliert und geregelt wurden.

Obwohl die Gesellschaft heute schon viel fortgeschrittener ist, als noch vor 200 Jahren, bestehen immer noch Konventionen, die es schwierig gestalten, einen eigenen Erziehungsstil zu wählen. Diese Normen beschränken sich zum Glück auf die Erziehungsrichtung, und legen sich nicht auf einzelne Handlungen fest, sowie während dem Nationalsozialismus der Fall war. Auch wenn die Beispiele teilweise überzogen sind, so können "andersartig" Erziehende sowie Erzogene durchaus auf Ablehnung bei der Gesellschaft stoßen. Natürlich ist das jetzt ein wenig überzogen, doch grundsätzlich denke ich so. Was ist eure Meinung dazu?

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» mendacium. » Beiträge: 750 » Talkpoints: 17,61 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Ja, die Erziehung von Kindern ist in den letzten Jahrzehnten zumindest in Deutschland doch sehr viel lockerer geworden. Zum Glück, würde ich sagen, denn was noch vor fünfzig Jahren von den Kindern zum Teil für ein Gehorsam gefordert wurde, das hat sich definitiv negativ auf die Psyche vieler damaliger Kinder ausgewirkt. Jedenfalls auf die derer, die es gewagt haben, ihren Eltern zu widersprechen. Damals war es ja beispielsweise noch völlig üblich und normal, seine Kinder zu schlagen. Die Menschen damals fanden es zumeist völlig okay und hätten es lächerlich gefunden, wenn sich jemand dagegen ausgesprochen hätte! Ausnahmen bestätigen die Regel, das sei natürlich dazu gesagt. Aber ich denke doch, dass man damals mit den Schlägen den Kindern wirklich keinen Gefallen getan hat. Wie man sieht, seit mehreren Jahrzehnten nämlich, kann man Kinder genauso gut ohne Schläge erziehen. Und es werden dadurch keine "verwahrlosten" oder verweichlichten Typen.

Dennoch gibt es, trotz der heutigen Tendenz zu einer größeren Milde und Liberalität den eigenen Kindern gegenüber, noch immer einige Menschen, bei denen das so noch nicht angekommen ist. Es gibt bestimmte Schichten, die eher zu Strenge tendieren. Ohne verallgemeinern zu wollen, denn das kann man auch in diesem Bereich nicht, so weiß ich aus persönlicher Erfahrung, dass viele Kinder mit neureichen Eltern, die man klischeehaft als "Snobs" hätte bezeichnen könnten, von eben diesen Eltern oft noch extrem streng behandelt wurden. Da wurde dann beispielsweise zum Klavierunterricht gezwungen, auch unter Androhung strengster Strafen, weil man meinte, man müsse das als Angehöre dieser Bevölkerungsschicht eben so machen. Da habe ich wirklich schon schlimme Dinge gehört, von psychischem Druck bis hin zu regelmäßigen Schlägen. Und nein, die allgemeine "Restbevölkerung" hat nicht durchgegriffen.

Nun ist es natürlich dennoch so, dass bestimmte sehr dem Zeitgeist widersprechende Erziehungsmethoden und moralische Werte, die vermittelt werden, obwohl sie heutzutage als veraltet gelten, immer durch die restliche Bevölkerung, die eben anders handelt und denkt, "ausgebremst" werden. Mit einem Beispiel ausgedrückt: Es dürfte schwer sein, seinem Kind Keuschheit bis zur Ehe anzuerziehen, wenn die gesamte Restbevölkerung, verallgemeinern gesprochen, das Gegenteil dessen lebt. Das Kind wird eben immer damit konfrontriert und es ist wahrscheinlich, dass es sich da dann eben nicht der Erziehung des einen Elternteils oder der beiden Elternteile beugt, sondern sich auch an den Werten der anderen Menschen orientiert. Das kann dann übrigens auch damit enden, dass das Kind gegen die "altmodischen" Eltern total rebelliert. Oder auch damit, dass es, falls die Eltern streng sind und oft Strafen androhen und durchführen, nur den Eltern gegenüber "das brave Kind" spielt, und sich ansonsten eben heimlich auslebt. Das kommt auch nicht gerade selten vor, bei strengen Eltern. Auch dies kann ich aus eigener Erfahrung, muss ich leider sagen, bestätigen.

Und ja, auch durch das nicht-familiäre Umfeld selbst können konservativ erzogene Kinder natürlich leiden. Wenn eine Jugendliche bespielsweise der konservativen, strengen Eltern wegen abends nicht auf Parties gehen darf, dann merkt man das ja unter Gleichaltrigen. Und heutzutage würden dann wohl viele Jugendliche dem Mädchen gegenüber nicht etwa mitleidig reagieren, sondern es vielleicht sogar mobben, weil es eben durch diese eine Sache als "andersartig" gilt. Dadurch wird das Kind quasi durch die Strenge der Eltern ausgegrenzt. Nicht nur, indem es eben nicht zur genannten Party darf, sondern auch, weil es zusätzlich zum Außenseiter stilisiert wird. Das bedenken konservative Eltern aber zumeist nicht einmal, oder es ist ihnen egal, was die anderen Menschen denken, da sie diese, aufgrund der geringeren moralischen Strenge, sowieso für sittenlos halten, und daher nicht für jemanden, auf den man hören würde.

Tatsache ist also: Es gibt definitiv Eltern, die sich gegen den Zeitgeist richten, bei der Art, wie und wozu sie ihr Kind erziehen. Das Kind wird allerdings auch immer Impulse aus dem Umfeld erhalten, die es beeinflussen werden. Und auch die Strenge der Eltern selbst kann dafür sorgen, dass ein Kind zum Außenseiter wird und es dadurch anderen Menschen gegenüber schwerer hat.

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» Wawa666 » Beiträge: 7277 » Talkpoints: 23,61 » Auszeichnung für 7000 Beiträge


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