Werden gesellschaftliche Spannungen immer radikaler?

vom 09.08.2011, 18:21 Uhr

Wenn man die gezeigten Bilder aus London sieht bekommt man schon als unbeteiligter Zuschauer richtig Angst. Gewalt und Brutalität sind doch einfach keine Lösung finde ich. Aber gerade bei solchen und ähnlichen Aktionen werden beispielsweise viele menschen schwer verletzt oder sogar getötet. Geht man hier nicht viel zu radikal vor. Das ist doch eigentlich schon nicht mehr normal oder? Wird das jetzt das sogenannte normale Verhalten bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sein? Was meint ihr dazu?

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» karlchen66 » Beiträge: 3563 » Talkpoints: 51,03 » Auszeichnung für 3000 Beiträge



Die Verrohung der Gesellschaft an sich ist ein Prozess, der sich in Deutschland im Grunde seit den 50er/60er Jahren immer weiter fortsetzt. Damals war die Welt noch halbwegs in Ordnung. Ich will es nicht glorifizieren, aber wenn sich damals geprügelt wurde, dann wäre zumindest mal niemand auf die Idee gekommen auf den Kerl, der ohnehin schon am Boden liegt, noch draufzutreten. Der heutige Zustand ist letztlich das Resultat der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, die wir erlebt haben.

Wie sieht das denn heute aus? Jedes Kind bekommt schon im Fernsehen und im Internet vorgeführt, wie brutal die Welt ist und was Erwachsene so treiben. Wieviele schauspielerische Tötungen hat ein Kind mit 15 Jahren schon gesehen? Wieviel Elend und wirklich Tote hat es schon im Fernsehen gesehen? Die Medien überschreiten die Grenzen immer weiter und zeigen immer mehr vom Grauen. Für Kinder ist Gewalt so allgegenwärtig und findet tagtäglich statt, also normal. In den Familien wird kaum noch richtig miteinander gesprochen, Fernsehen und Internet sind die Kommunikationspartner. Resultat sind motorisch, haptisch, sprachlich und emotional unterbelichtete Zombies. Kinder erleben auch zunehmend zerrüttete Ehen, Scheidungen, werden hin- und hergerissen,

Wir haben die Globalisierung erlebt. Kinder und Jugendliche bekommen mit, wenn man sich wie ein Arsch benimmt, kommt man weiter. Ihnen werden Politiker und Manager vorgeführt, die auf der einen Seite mit anderen Menschen umgehen wie Dreck und auf der anderen Seite gerade deshalb enorm erfolgreich im Beruf sind (siehe DSK). Armut nimmt immer mehr zu, die Zukunftsaussichten schwinden für viele. Jeden Tag neue Horrorgeschichten. Kinder werden zur Individualisierung erzogen, kleine Egomanen, denen beigebracht wird, nur Effizienz zählt und das gilt für praktisch jeden Bereich des Lebens. Schule, Beruf, Sport, Beziehungen. Überall gilt das Prinzip: Survival of the Fittest.

Es gibt tausend Gründe, aber das Resultat, nämlich die Radikalisierung und zunehmende Hemmungslosigkeit und Verrohung sind logische Folge so eines Prozesses. Dagegen nun von staatlicher Seite mit Gewalt vorzugehen, mag zwar ein schnell helfendes Rezept sein, aber wie in unserer Gesellschaft anscheinend üblich, es ändert nichts an den Ursachen des Probems und damit letztlich auch nichts am Problem selbst.

Lies dir mal diesen Bericht aus dem Spiegel Nr. 51/1996 durch. Das ist fast 15 Jahre her, passt aber erstaunlich genau auf die jetzige Situation.

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» Richtlinie2 » Beiträge: 1872 » Talkpoints: -0,63 » Auszeichnung für 1000 Beiträge


Vor einer Weile gab es ja ähnliche Krawalle in den ärmeren Vierteln in Frankreich. Auch in anderen europäischen Ländern gab es bis vor kurzem auch heftige Demonstrationen der Jugendlichen gegen ihre miesen Zukunftschancen. Die Wut gegen die derzeitige Situation ist also nicht nur typisch für Großbritannien, sondern ein weiter reichendes Problem. Jetzt wird über die Medien gepredigt, dass angeblich Deutschland nicht gefährdet sei. Aber ich denke, dass die groben Ursachen auch hier in Deutschland gegeben sind.

Einerseits wird die Gesellschaft härter und kälter wie Richtlinie 2 ja schon schreibt. Andererseits zählt immer mehr und mehr materieller Wohlstand als das non plus Ultra unter den Jugendlichen. So schnell, wie der technische Fortschritt rollt, muss man ständig neue Prestigeobjekte besitzen, da gerade die Unterhaltungselektronik schon nach kürzester Zeit wieder veraltet ist. Die heutigen Jugendlichen können sich schon gar kein Leben mehr ohne Handy, Computer, Spielekonsolen und anderen Geräten vorstellen. In meiner Generation der um die 30-jährigen weiß man zumindest noch, wie man ohne solche Geräte überleben kann. Wir wurden in den 80ern auch noch so erzogen, dass Umweltschutz ein wichtiges Gut ist. Das scheint mir bei den Jugendlichen heute ziemlich aus der Mode geraten sein. Unendlich werden wir diesen Lebensstil auf Kosten der Umwelt sowieso nicht mehr halten können. Vor dem Hintergrund befremdet es mich schon, wenn man solche Geräte und solchem Standard so einen immensen Stellenwert zuordnet.

Von meinen Schülern höre ich immer wieder recht dreiste Sprüche, dass man als Jugendlicher ja mächtig Scheiße bauen kann, weil das juristische System extrem zart mit jugendlichen Tätern umgeht. Das ist diesen Kinder voll bewusst und sie gehen da voll an die Grenzen. Natürlich hatte das schon einen guten Grund, die jugendlichen Menschen anders zu behandeln als die Erwachsenen, denn die Jugend ist zu jeder Zeit leichtsinnig und rebellisch, aber ein derartiges Kalkül mit der Nachsicht ist denke ich neu, zumindest in dem Ausmaß. Was mich auch irritiert ist, dass dieser Protest so wenig theoretisch untermauert ist. Im Normalfall entstehen Gegenbewegungen immer auf der Basis einer Theorie oder Ideologie. Das scheint mir hier nicht der Fall zu sein. Der Beweggrund scheint mir hier der reine Egoismus zu sein. Das macht es mir schwer, den Jugendlichen Verständnis entgegen zu bringen.

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» trüffelsucher » Beiträge: 12446 » Talkpoints: 3,92 » Auszeichnung für 12000 Beiträge



Ich bin mir sicher, dass diese radikalen Auseinandersetzungen nur eine Frage der Zeit sind, bis sie auch in Deutschland auftreten. Es fängt doch schon damit an, dass viele Jugendliche nach der Ausbildung es schwer haben, einen festen Job zu bekommen. Und wenn sie erst einmal in Hartz IV abgleiten, kommen sie so schnell nicht dabei raus. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer grösser und irgendwann schlagen die Armen eben zurück und wollen auch etwas vom Aufschwung abhaben. Doch da werden lieber die Diäten bei den Politiker erhöht, als dass die Hartz-IV-Empfänger mehr Geld in der Tasche haben. Auch bei den Renten wird ja auf Teufel komm raus gespart. Während die arbeitende Bevölkerung weiterhin sich über steigende Löhne freuen darf, gehen die Rentner schon seit Jahren leer aus. Hier muss ich dringend etwas ändern, sonst haben wir hier auch bald gewalttätige Auseinandersetzungen.

» kowalski6 » Beiträge: 3399 » Talkpoints: 154,43 » Auszeichnung für 3000 Beiträge



Nun gut, ich denke, dass Deutschland eines der letzten Länder sein wird, in denen es zu so etwas kommen wird. Wir haben noch lange nicht diese sozialen und gesellschaftlichen Zustände, wie in Großbritannien. Aber wir arbeiten natürlich heftig daran. Aber an Großbritannien kann man schön sehen, wohin ein neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell führt. Das sollte man sich stets warnend vor Augen halten.

Wenigstens nehmen die Medien bei uns halbwegs wahr, dass es sich nicht lediglich um randalierende Lümmel handelt - so wie Breivik losgelöst von äußeren Umständen handelnd gesehen wurde - sondern dass das alles in einem Kontext gesehen werden muss. Sogar die FAZ gibt sich kritisch. Die Frage ist nur, ob die Leserschaft auch Parallelen ziehen kann.

Im NBC-Blog brachte es gestern ein Korrespondent etwas plakativ auf den Punkt. Man müsse gar nicht groß nach Ursachen suchen, wenn man sich einfach mal vergegenwärtigt, wie weit weg sich die Welten von Politikern und Plünderen voneinander befinden. Man könne sagen, sie leben auf 2 verschiedenen Planeten, wenn man nur bedenkt, dass z. B. Cameron seinen Urlaub abbrechen musste, den er in einer Villa in Italien verbrachte, die schlappe 10.000 Pfund die Woche kostet. Seine Tennisstunden nahm er bei einem Coach, der aus Großbritannien eingeflogen war. Da fragt man sich eigentlich unweigerlich, wann eigentlich diese Plünderer mal Urlaub gemacht haben. Vermutlich nie. Vielmehr kann man annehmen, die Plünderei wäre deren Urlaub. Es ist Spaß für sie, sogar als die Polizei sie jagte, haben sie gelacht.

Oder das: Eine der besten Londoner Shopping Adressen (106 Bond Street) ist letzte Woche verscherbelt worden. Bezahlt wurden 28.5 Millionen GBP - und zwar Cash. Käufer war der Sohn eines Unternehmers. Er war nicht der einzige Bieter. Er war nur einer von 22.

Oder das: Ein Durchschnittsverdiener, der in London ein Haus kaufen möchte, müsste sein komplettes Gehalt 31 Jaher lang nur dafür hergeben.

Oder das: Das Vermögen der oberen 10% ist mehr als 100 mal so groß, wie das der unteren 10% (Bericht der britischen Regierung aus 2010).

Oder hier: Seit 1998 sind in Großbritannien doch tatsächlich mindestens 333 Menschen in Polizeigewahrsam gestorben. Es hat zig Anklagen gegeben, aber nicht ein Polizeibeamter ist in dieser Zeit deswegen verurteilt worden.

Und das muss man dann auch vor der aktuellen Sparpolitik Camerons sehen (und natürlich auch Thatchers, Blairs und "wie hieß er noch"?). Selbst die Kirche hat Cameron neulich Radikalität vorgeworfen. Der Korrespondent (Martin Fletcher) des Guardian sieht es richtig. Wenn man diese enorme Ungleichheit und auch Entrechtung dauerhaft in einem Land zulässt, zeigt und lebt, verbunden mit all den anderen Umständen (die Entwicklung seit Thatcher), dann muss man sich nicht wundern, wenn es zu solchen Ereignissen kommt. Wer keine Aussicht mehr im Leben hat, wer teilweise entrechtet wird und das evtl. schon in der 3. Generation, der ist eben für so etwas empfänglich, wie jetzt gesehen.

Das rechtfertigt natürlich nicht diese kriminiellen Taten, aber es erklärt sie.

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» Richtlinie2 » Beiträge: 1872 » Talkpoints: -0,63 » Auszeichnung für 1000 Beiträge


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