Eine Todesliste führen?
Im Ort wird man eigentlich laufend auf dem neuesten Stand gehalten, unter anderem durch seine Verwandten. Aber es passiert wirklich auch generell täglich etwas, sei es nun etwas wirklich Wichtiges oder nur Gerüchte, die den Umlauf machen. Jedoch gibt es natürlich auch Todesfälle im Ort, schließlich macht der Tod auch vor keiner Ortschaft halt. Da man manche Leute vom Namen her kennt, lese ich mir auch ab und zu abends die Todesanzeigen durch, die bei uns an ein paar Stellen im Ort in einem Kasten aufgehängt werden.
Da ich heute mit dem Fahrrad vorbei kam und ich bemerkte, dass wieder ein Zettel ausgehängt war, hielt ich kurz an, um mir die Anzeige durch zu lesen. Ich kannte die Frau nicht, die gestorben war, aber es war nichts Ungewöhnliches, sie war knapp 85 Jahre alt geworden. Neben mir stand eine ältere Frau, um die 80 Jahre. Auch das war auf den ersten Blick nicht gerade ungewöhnlich, jedoch sprach sie mich dann an, sie habe ihre Lesebrille daheim vergessen, ob ich ihr nicht den Namen vorlesen könne und die Adresse der Verstorbenen.
Ich dachte mir nichts Besonderes dabei und las den Namen der Frau vor, sowie die zugehörige Adresse. Ich las erst ganz normal, dann bat mich die Frau jedoch, das alles noch einmal langsam zu wiederholen. Erst da bemerkte ich, dass sie einen Stift sowie einen Block heraus gekramt hatte aus ihrer Tasche. Ich wollte nicht unhöflich wirken und las noch einmal vor, zum Mitschreiben dieses Mal. Die Frau bedankte sich und packte wieder ihr Zeug ein. Ich wollte mich aber damit dann doch nicht geschlagen geben und fragte sie freundlich, was sie mit dem Namen machen würde.
Da sagte sie in ganz normalen Tonfall, dass sie daheim eine große Todesliste mit allen Verstorbenen aus dem Ort der letzten paar Jahre habe und dass sie diese täglich auf dem neuesten Stand halten würde. Sie hätte schon mehrere Notizbücher mit den Listen voll geschrieben. Nach diesen Worten bedankte sie sich noch und ging in die entgegengesetzte Richtung, in die ich musste. Ich war erst einmal sprachlos und fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause. Und jetzt grübele ich schon die ganze Zeit darüber, was man denn davon hat, wenn man eine Todesliste führt.
Ich verstehe ja, dass man als Rentner die Zeit dazu hat und das besser ist, als nur daheim herum zu sitzen, aber ein wenig absurd finde ich das Ganze schon. Ich habe auch die Frau noch nie gesehen und noch nie etwas von ihr gehört. Kennt ihr auch jemanden, der eine "Todesliste" führt? Ist das vielleicht etwas ganz Normales bei älteren oder gläubigen Menschen? Findet ihr das nicht auch ungewöhnlich und ein bisschen absurd? Was soll das für einen tieferen Nutzen haben?
Ich finde das eigentlich schon fast normal. Ich kenne zwar selbst niemanden, der das macht, aber ich finde das nicht so ungewöhnlich. Schließlich ist es so, dass die Leute den ganzen Tag nur zu Hause sind und in den meisten Fällen nichts mehr zu tun haben. Des weiteren ist es so, dass die Leute dann eine Beschäftigung haben und immer wissen, wer aus dem Dorf gerade gestorben ist.
Ich selbst würde das nie machen, weil ich den Tod grausam finde und es schrecklich fände, wenn ich eine Liste, sogar mehrere Notizblöcke, mit Namen der verstorbenen Leuten habe. Ich würde mich immer daran erinnern und mir denken, warum denn so viele Menschen sterben und gestorben sind. Das würde mich wahrscheinlich depressiv machen.
Ich finde es auch auf der einen Seite total absurd,denn was soll die Dame damit machen? Macht sie das nur, weil sie soviel Zeit hat als Rentnerin oder ist dahinter ein Sinn? Genau kann man sowas bestimmt nicht sagen aber soll sie doch machen, ist ja auch nichts falsches was sie tut. Naja und wie gesagt auf der anderen Seite finde ich es Ok. Wenn ihr das Spaß macht und sie damit ihre Zeit vertreibt dann soll sie es machen.
Ich weiß, dass sich ältere Menschen oft mit so etwas befassen. Ob nun als Listen oder einfach nur durch genaues studieren der Todesanzeigen. Mir persönlich ist so etwas fast lieber, als wenn sie Listen über ihre Nachbarn führen. Was ich insgesamt bemerke ist, dass solche Annoncen zumindest in der Stadt mehr und mehr abnehmen. Oftmals gibt es sowieso nur noch wenige Angehörige und es werden zusätzliche Kosten gespart.
Na ja, so normal finde ich das zwar nicht und ich wäre wohl auch erstmal irritiert gewesen, aber mir fiel schon ein paarmal auf, dass ältere Menschen mit dem Tod ganz anders umgehen als eben die jüngeren und auch häufig darüber geredet wird, wer schon alles gestorben ist – aus der eigenen Straße, zwei Straßen weiter, irgendwo sonst im Dorf. Das scheint irgendwann von großem Interesse zu sein und ich weiß noch gut, dass meine Oma meiner Mutter immer erzählt hat, wer aus der Straße mittlerweile alles gestorben ist und sie hat jedes Jahr wirklich auch immer sämtliche Namen aufgezählt, das hat sie wohl sehr beschäftigt.
Dieses Notieren der Verstorbenen ist ja auch eine Art Dokumentation bestimmter Ereignisse, in diesem Fall eben der jeweiligen Todestage. Genauso gut könnte man diese Totentafeln aus den Zeitungen ausschneiden, die wöchentlich jeweils veröffentlicht werden, und diese in irgendein Notizbuch kleben. Warum diese ältere Dame, die Du kennengelernt hast, die Namen aufschreibt, kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen, vielleicht will sie die Zeitung nicht kaufen, möglicherweise ist sie ihr zu teuer oder sie notiert grundsätzlich die Adresse der Verstorbenen und diese geht aus den Totentafeln in der Zeitung wiederum nicht hervor.
Schwer zu sagen, was ihre genauen Beweggründe für ihre Vorgehensweise sind, aber ich denke, dass sie sich aus ganz menschlichen und weniger gruseligen Gründen für dieses Thema interessiert. Aber vielleicht triffst Du sie ja nochmal und kannst sie fragen, warum sie die Namen und Anschriften der Verstorbenen aufschreibt. Sag ihr doch bei der Gelegenheit einfach mal, dass das auf Dich irgendwie gruselig wird, ich könnte mir gut vorstellen, dass sich daraus ein wirklich interessantes Gespräch entwickelt.
Das würde ich wirklich tun, falls ich sie ein weiteres Mal antreffen sollte. Und da sie ja wohl jeden Tag anwesend ist, dürfte das auch kein Problem sein. Ja, aus der Zeitung einfach kopieren würde auch gehen, das muss ich sie auch mal fragen, warum sie das nicht macht. Oder vielleicht sucht sie einfach ein wenig Bewegung und macht es deswegen. So ein bisschen was Kirchliches steckt aber bestimmt dahinter, das könnte ich wetten und das habe ich im Gefühl, so wie sie vorhin gesprochen hat. Aber ich möchte keine Urteile über sie fällen und werde sie beim nächsten Sehen noch einmal dazu fragen, zu ihrem außergewöhnlichem Hobby.
Das scheint mir ja ein sehr außergewöhnliches Hobby von der Dame zu sein. Ich persönlich würde dies natürlich nicht machen und ehrlich gesagt habe ich auch nicht wirklich reges Interesse den Tot von Menschen zu dokumentieren wenn ich sie noch nicht mal kannte. Ich denke mal das es ein wenig Neugier und vielleicht auch ein kleines Hobby dahinter steckt.
Nun ja, ein solches Hobby hört sich für mich schon etwas anormal an. Ich kann mir nicht vorstellen, warum man die Namen von verstorbenen Personen sammeln könnte. Und momentan fällt mir auch keine logische, andere Erklärung dafür ein, als dass das einfach eine Art Hobby dieser Dame war, die du da getroffen hast. Ich finde das fast schon gruselig. An deiner Stelle hätte ich in dem Moment wohl auch nicht weiter nachgefragt, aber interessant wäre es wohl doch gewesen, einmal eine Erklärung dieser Frau zu hören, die ja offensichtlich auch in Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gewesen zu sein scheint.
Darüber hinaus muss ich aber auch meinen Vorrednern zustimmen. Alte Menschen haben eine völlig andere „Beziehung“ zum Tod als es jüngere Menschen haben. Je älter die Menschen werden, desto mehr Menschen sterben in ihrem gleichaltrigen Umfeld. Und auch bei ihnen selber steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie das zeitliche Segnen. Dort beginnt man wohl mehr, sich wirklich mit dem Tod auseinander zu setzen.
Ich kenne das ein klein wenig von mir selber. Als das erste Mal in meinem Leben ein Mensch, der mir sehr nahe stand, gestorben ist, habe ich das erste Mal angefangen mit dem Tod zu beschäftigen und war überrascht, dass ich mir einige wirklich wichtige Fragen noch nicht früher gestellt hatte. Als junger Mensch lebt man einfach nicht im ständigen Bewusstsein des Todes. Zumindest ich habe mich damit eigentlich immer weniger damit beschäftigt, weil ich nie direkt betroffen war.
Genauso stelle ich mir das vor, wenn man älter wird. Die Leute haben immer mehr mit dem Tod zu tun, werden konfrontiert durch Todesfälle in ihrem näheren Umfeld und machen sich gezwungenermaßen immer mehr Gedanken. Daraus entstehen dann wohl solche merkwürdigen Hobbys, wobei ich mir eigentlich, auch jetzt, wo ich das so aufschreibe, nicht wirklich vorstellen kann, dass das ein gängiges Hobby unter Rentern ist und diese Frau wohl doch eher ein Einzelfall war. Schade, es wäre wohl wirklich sehr aufschlussreich und interessant gewesen, zu hören, was sie dazu sagt.
Ich persönlich würde nie auf die Idee kommen, eine solche Liste zu führen, das kann ich mit Sicherheit jetzt schon sagen. Es ist schon schrecklich genug, so ständig den Tod präsent zu haben. Da würde ich mich nicht auch noch täglich mit Verstorbenen beschäftigen wollen.
Die Situation finde ich auch ein wenig skurril, allerdings nicht wirklich erschreckend. Diese Kästen mit den Todesanzeigen hängen hier auch an den jeweiligen Häusern der Gemeinde. Dort versammeln sich dann regelmäßig kleine Grüppchen von älteren Herrschaften die dann ihren Nachmittagsplausch halten. Ich denke über den Tod zu reden ist eine gute Möglichkeit noch irgendwie Kommunikation zu pflegen, weil dieses Thema dann doch alle betrifft.
In der Zeitung stand aber auch einmal ein Artikel über eine Dame hier im Ort beziehungsweise an meinem damaligen Wohnort, welche sich die runden Geburtstage aus der Zeitung suchte und an diese Leute eine Geburtstagskarte schickte. Dies hat sie getan, weil ihr Hobby das basteln von Karten war und sie anderen eine Freude bereiten wollte. Vielleicht hat die Dame an dem Brett mit den Todesanzeigen ja ganz ähnliches vor? Vor allem wenn man sich so oft mit dem Thema Tod beschäftigt, hat man doch manchmal den Drang es auch nach außen zu zeigen, hier vielleicht mit einer Beileidskarte. Vielleicht notiert sich die Dame aber auch nur die Adressen für den Plausch mit anderen Leuten, die nicht mehr so mobil sind und trotzdem auf dem neuesten Stand bleiben möchten, nicht das die beste Grundschulfreundin von damals stirbt und man keine Beileidskarte schickt, weil man dies schlicht nicht weiß.
So ungewöhnlich finde ich dieses Hobby der alten Dame nicht. Ich glaube nicht, dass sie diese Auflistung macht, weil sie Langeweile als Rentnerin hat. Dann würde sie sich ein freundlicheres Hobby suchen. Ich vermute, sie ist in dem Örtchen geboren und hat bis jetzt ihr Leben dort verbracht. Sie kennt die Menschen, die mit ihr in den Kindergarten gegangen sind und mit ihr die Schulbank drückten.
Sicherlich hat sie zusätzlich alle Meldungen über Hochzeiten der ihr bekannten Personen notiert und ebenso ein Geburtenregister geführt. Nun fügt sie alle Ereignisse hinzu und sieht auf einen Blick, was aus ihrem Spielkameraden von früher geworden ist, ob er eine Familie hat und Enkelkinder und ob er noch lebt. Sie macht praktisch die Arbeit eines Beamten: Geburtenregister, Hochzeiten, Sterberegister. Wenn sie Spaß daran hat, warum nicht.
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