Nikolaus im Jahr 1962
Meine Frau und ich gehören jetzt wohl zu den älteren hier. Am Weihnachtsabend haben wir uns unterhalten, wie wir Nikolaus und Weihnachten als Kinder gefeiert haben und wie viel schöner doch alles war. Meine Frau ist noch ein Stück älter wie ich und ist unter anderen Umständen aufgewachsen. So hat mich ihre Erzählung vom 6. Dezember 1962 doch sehr berührt und davon will ich euch hier erzählen.
Sie war das älteste Kind und hatte noch 5 weitere Geschwister. Als ältestes Kind aufzuwachsen, bedeutete in dieser Zeit, dass man seine Mutter unterstützen musste und mithalf, die Geschwister großzuziehen. Ihre Mutter arbeitete damals auch noch, sodass meine Frau sehr viel Arbeit mit ihren Geschwistern hatte. Dies war natürlich nicht in ihrem Sinne und so gab es auch Momente, in denen sie dann lieber mal an sich dachte und ihr eigenes Leben führen wollte, also auch einmal mit den Freundinnen auf den Spielplatz gehen, auch einmal Fußball spielen oder eben auch einmal einfach nur faulenzen.
Kommen wir jetzt zu dem 6. Dezember. Es gab damals noch keinen Fernseher, also saß man in der guten Stube und hörte mit seinen Geschwistern Weihnachtsmärchen von Schallplatten. Es waren wohl jedes Jahr die gleichen Märchen, aber es war eben etwas Besonderes. Die Türe vom Balkon stand etwas auf, ohne das die Kinder etwas davon gemerkt hatten. Sie waren sowieso mit den Märchen beschäftigt und lauschten den Schallplatten. Auf einmal rollte eine Walnuss durch das Zimmer, dann noch eine und dann rollte eine Mandarine oder eine Apfelsine durch das Zimmer. Das war etwas Aufregendes und jedes der Kinder wusste, jetzt kommt der Nikolaus.
Irgendein Onkel hatte sich in das rote Nikolauskostüm gezwängt und gab sich jetzt als Nikolaus aus, was die Geschwister, wie auch meine heutige Frau nicht wussten, für sie war es eben der Nikolaus. Man sagte seine Gedichte auf, sang ein paar Lieder und wurde beschenkt. Beschenkt werden, das hieß, es gab Nüsse, Obst und ein paar Kleinigkeiten für das tägliche Leben, Malstifte eben oder einen Farbmalkasten, sehr selten etwas zum Spielen, so viel Geld war gar nicht da. Dennoch freute man sich über die leckere Apfelsine, denn es war etwas Besonderes. Nicht so wie heute, wo man alles Obst das ganze Jahr über bekommen kann und es Obst im Überfluss gibt. Obst ist für fast alle immer da und niemand hätte sich über einen schönen, roten Apfel so gefreut, dass er ihn über viele Tage aufgehoben hatte, weil er viel zu schön und zu schade war, ihn gleich aufzuessen.
Dann sprach der Weihnachtsmann auch mit meiner Frau. Er sagte zu ihr, dass er gehört habe, dass sie nicht immer ihrer Mutter so helfen würde, wie sie es verlangt hätte und dass er sehr unzufrieden mit ihr wäre. Er holte eine Kette heraus und kettete die Mutter an sich und sagte, dass er sie deswegen jetzt mitnehmen müsse. Meine Frau war damals sehr entsetzt darüber. Sie war 11 Jahre alt und glaubte an das, was sie gesagt bekam. Sie fing heftig an zu weinen, klammerte sich an ihre Mutter und versprach, sich besser um ihre Geschwister zu kümmern und ihrer Mutter noch besser zu helfen. Das hat wohl geholfen, denn die Mutter wurde nicht mitgenommen. In diesem Moment wurde meiner Frau wohl klar, wie wichtig doch die Mutter war und wie schlimm es wäre, sie nicht mehr im Haus zu haben. Dieser Gedanke fehlt oftmals vielen von uns, alles wird als normal hingenommen, die Mutter wird es schon richten. Alleine der Gedanke, dass der Nikolaus die Mutter mitnimmt, war schrecklich. Leider starb sie ein paar Jahre später und meine Frau musste dann ihre Geschwister alleine großziehen.
Heute würde ein solches Verhalten vom Nikolaus zu größeren Diskussionen führen, viele hätten wohl Angst, dass das Kind dadurch Schaden nehmen könnte, einen Schock fürs Leben bekommt oder depressiv wird. Meine Frau sagt heute noch, dass es nicht verkehrt gewesen wäre, denn so hätte sie erst gemerkt, dass das Mithelfen nicht so schlimm gewesen ist und wie sehr man seine Mutter vermissen würde. Ich fand ihre Geschichte sehr ergreifend. Ich konnte mir den Abend genau vorstellen und sah vor meinem geistigen Auge die Nüsse durch das Wohnzimmer rollen und die glücklichen Augen meiner Frau, als die Mutter im Haus bleiben durfte. Sie hatten nicht viel und bekamen auch nicht viel, dennoch waren sie glücklich, wahrscheinlich glücklicher als die Kinder, die das 15. Spiel für die Playstation vom Nikolaus geschenkt bekommen haben.
Deine Geschichte hat mich sehr berührt und auch ein wenig traurig gemacht. Die Menschen von früher, die sich über ein paar Nüsse oder eine Apfelsine riesig gefreut haben, die gibt es heute leider nicht mehr. Viele der heutigen Kinder können sich in die Welt von 1962 nicht mehr hineinversetzen. Sie lachen über das, was ihnen erzählt wird. Ihr einziges Bestreben ist es, möglichst viel Geschenke zu bekommen, um andere zu übertrumpfen.
Diesen Kindern fehlt die Fantasie. Das ist auch kein Wunder, wenn sie den ganzen Tag nach der Schule und vorher schon vor dem Computer hocken und ihre Video-Spiele ausleben. Es gibt nicht mehr viel, an das sie glauben, aber bestimmt nicht an den Nikolaus. Sie wissen es nicht und können es sich nicht vorstellen, wie Kinder sich damals gefreut haben, wie sie noch an etwas Schönes geglaubt haben, obwohl sie, wie Deine jetzige Frau als 11-jährige doch schon viel mithelfen nußte und später für die Geschwister gesorgt hat. Eigentlich kann sie mir jetzt noch leid tun, weil sie ihre Kindheit nicht richtig ausleben konnte. Aber damals ging es nicht anders, das ist mir klar.
Ich habe öfters den Erzählungen meiner Mutter gelauscht, wenn sie von früher erzählte und da spielte sich Nikolaus ähnlich ab, wie bei deiner Frau. Meine Mutter hatte nur zwei Geschwister, war aber auch die Älteste. Sie musste sowohl ihrer Mutter zu Hause, als auch ihrer Großmutter zu Hause helfen und sich auch um die Geschwister kümmern, wenn die Mutter arbeiten war. Da meine Mutter unter den Geschwistern die fleißigste war und besonders die Jüngste sich kaum im Haushalt beteiligt hatte, wurde der Nikolaustag genutzt, um dies den anderen deutlich zu machen. Und so lief es an einigen Nikolaustagen so ab, dass meine Mutter ein Säckchen voller Obst und Süßigkeiten bekam, während meine beiden Tanten ein Säckchen mit Kohle vom Nikolaus bekamen. Obst und Süßigkeiten waren natürlich etwas besonderes und zu der Zeit in Polen deutlich knapper, als das in Deutschland der Fall war.
Natürlich war das für die beiden Geschwister enttäuschend, aber es war auch nicht jedes Jahr so und diese Methode wurde dazu genutzt, zu zeigen, wer sich ein Geschenk wirklich verdient hatte und wer nicht. Einen Knacks bekommen hat davon auch keiner und ich fand dieses Vorgehen recht witzig, wenn auch etwas erschreckend, weil ich die Kohle als Geschenk immer für eine leere Drohung gehalten habe. Was aber sehr rührend und faszinierend ist, ist eben, dass die Kinder von damals, sich über einen Apfel, eine Orange oder eine Tafel Schokolade riesig freuen konnten, wohin gegen die Kinder von heute Obst schon geradezu verachten und Schokolade als völlig normal hinnehmen. Heute geht es darum, möglichst teure Geschenke zu bekommen. Ich bin daher sogar ein bisschen stolz, wenn ich von meinen Eltern sagen kann, dass sie die Tradition beibehalten haben und ich und mein Bruder zu Nikolaus nach wie vor nur kleine Geschenke, wie Süßigkeiten, einen Pullover oder eine CD bekommen haben. Und ein paar Nüsse und Mandarinen sind nach wie vor dabei.
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