Wann sollte man ein Volksschulkind rückstellen?

vom 24.07.2010, 16:17 Uhr

Ein Mädchen ist derzeit 7 Jahre alt und hat gerade das erste Volksschuljahr (Grundschuljahr) hinter sich. Das Mädchen ist prinzipiell intelligent, das wurde auch mit einem psychologischen Test ausgetestet. Allerdings hat das Kind eine ausgeprägte Legasthenie. Mit viel Geduld kann sie mittlerweile zwar alle Buchstaben erkennen und einzeln lesen und einige kurze Wörter wie "mit, und, der, die, das" und dergleichen kann sie auch rasch zusammenhängend lesen, aber an sich fällt ihr das Lesen schon sehr schwer und braucht dafür auch sehr viel Zeit.

Sie geht regelmäßig in Legasthenietherapie und es sind schon deutliche Fortschritte erkennbar. Die Ansagen und Gedächtnisübungen werden immer besser, auch wenn sie mit viel Geduld vorbereitet werden müssen und auch sonst hat das Kind deutliche Fortschritte gemacht, allerdings sind ihre Klassenkollegen im Schreiben und Lesen doch um einiges weiter fortgeschritten als sie. Da sie es aber geschafft hat, zumindest halbwegs mit dem Tempo mitzuhalten, hat sie prinzipiell die erste Klasse erfolgreich und positiv abgeschlossen und ist somit prinzipiell berechtigt, in die zweite Klasse aufzusteigen. Die Volksschullehrerin hat der Mutter jedoch sehr nahe gelegt, dass das Kind die erste Klasse wiederholen soll, damit sie Lücken im Deutschbereich aufholen kann. In Mathematik hat das Kind prinzipiell keine Probleme, jedoch macht sich auch da immer wieder die Legasthenie bemerkbar, wenn sie eben mathematische Aufgaben falsch löst, weil sie die Textaufgabe eben nicht wirklich lesen kann oder eben viel zu langsam. Die Zeit geht ihr dann natürlich beim Rechnen ab. Aber rein von der mathematischen Seite her gesehen, gibt es keine Defizite.

Die Lehrerin hat die Mutter nun im Prinzip vor zwei Möglichkeiten gestellt. Entweder sie lässt das Kind die Klasse gleich ab September wiederholen, sie kommt also wieder in die 1. Klasse, oder sie lässt das Kind versuchsweise in die zweite Klasse gehen um zu sehen, wie sie sich die Lage entwickelt und inwiefern das Kind mithalten kann. Im Zweifelfall kann sie dann auch im Halbjahr, also im Februar in die erste Klasse zurückgestuft werden. Die Mutter ist nun natürlich am Hin- und Herüberlegen und weiß nicht sorecht, was sie machen soll. Prinzipiell tendiert sie dazu, dass sie das Kind weiter in die 2. Klasse gibt, weiß aber eben nicht, ob das die richtige Entscheidung ist. Das Kind möchte selber auch in die 2. Klasse weitergehen, weil es die Lehrerin so mag, allerdings ist die Legasthenie eben schon derart ausgeprägt, dass es schon fraglich ist, ob sie mithalten kann.

Was wäre für das Kind die beste Lösung? Sollte das Kind in ihrer gewohnten Klasse bleiben, wo es sich prinzipiell wohl fühlt, jedoch in Deutsch doch massive Lücken hat und so versuchen, möglichst lange "mitzuschwimmen"? Oder sollte das Kind die 1. Klasse wiederholen, weil das auch kein so schlechter Zeitpunkt ist, da in der Klasse lauter neue Kinder sind und sie dann nicht die einzige "Neue" ist? So hätte sie auch Zeit, einige Defizite aufzuholen, wobei ich dazu sagen möchte, dass sie wohl auch mit dieser Variante weiterhin eine ausgeprägte Legasthenie haben wird. Die kann man natürlich fördern und daran arbeiten, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie auch mit dieser Variante dann in der zweiten Klasse Schwierigkeiten haben wird.

Ebenso besteht bei dieser Möglichkeit ein wenig die Gefahr, dass sich das Kind in anderen Bereichen als eben bei Deutsch ein wenig langweilt, weil sie sonst eben ganz normal mitkommt und keinerlei Probleme hat.

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» tournesol » Beiträge: 7760 » Talkpoints: 69,99 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



Ich weiß zwar nicht genau, wie das in anderen Schulen, bzw. in der Grundschule ist, aber ich kenne selbst eine Legasthenikerin. Auch sie ist weder dumm oder sonst etwas und hat auch gute Noten, aber sie hat bei jeder Schulaufgabe die Erlaubnis, ungefähr 15min länger zu arbeiten, damit bei ihr durch die Leseschwäche keine größeren Nachteile entstehen. So hat sie Gelegenheit, genauso lange an den Aufgaben zu arbeiten, obwohl sie länger zum Lesen braucht. Natürlich ist sie im Fach Deutsch trotzdem nicht unbedingt Klassenbeste, aber in allen anderen Fächern steht sie gut da.

Gibt es denn keine Art "Richtlinien" für solche Kinder, wie "gut" sie in Deutsch sein müssen? Immerhin ist es ja doch verbreitet. Oder wird es von Schule zu Schule individuell entschieden? Vielleicht könnte man die Klassenlehrerin einmal darauf ansprechen, ob dem Kind nicht in den anderen Fächern einfach etwas mehr Zeit gelassen werden könnte. Schließlich hat es ja sonst eigentlich keine Probleme.

Ob eine Wiederholung der Klasse hier wirklich nötig ist, kann ich nicht sagen, aber durch so etwas wird ja auch die Verbindung zur restlichen Klassengemeinschaft vollständig geändert. Das Kind müsste sich auf neue Mitschüler einstellen. Andererseits dürfte das nach erst einer Klasse kein allzu großes Problem sein. Ich würde dazu tendieren, dass Kind bis zum Halbjahr die zweite Klasse "testen" zu lassen und dann zu entscheiden.

» Tauglanz » Beiträge: 340 » Talkpoints: 8,65 » Auszeichnung für 100 Beiträge


Das ist für mich auch eine etwas merkwürdige Art damit umzugehen. Allerdings kann ich absolut nicht beurteilen, wie es am besten für das Kind wäre, da ich das Mädchen ja noch nicht einmal kenne. Allerdings gab es bei einem Freund von mir zusätzlich immer Hilfe von der Schule, ich müsste noch einmal genau nachfragen, wie sich die äußerte, aber eine Klasse zu wiederholen finde ich schon aus den Gründen nicht so klasse, weil Sie dann halt aus dem Klassenverbund heraus gerissen wird.

Gibt es bei Euch in Österreich denn keinerlei andere Hilfsangebote? So etwas wie eine extra Sprachschule, wo Sie dann mal so etwas wie extra Hilfe bekommen könnte, nebenher zur normalen Schule? So gestaltet in der Art von Nachhilfeunterricht? Zudem würde ich das Kind auch von anderen Personen begutachten lassen, die davon Ahnung haben, in wie weit die Lernschwäche auch außerhalb der Schule vielleicht besser werden kann, durch andere Programme nebenbei. Dann kann man sicherlich besser abwägen, was man machen sollte, denke ich.

» ygil » Beiträge: 2551 » Talkpoints: 37,52 » Auszeichnung für 2000 Beiträge



Auf jeden Fall sollte sich die Kindesmutter einen Experten für Österreich suchen, ich bin nämlich leider nur Experte fürs deutsche Bildungssystem. Ich kann jetzt erklären, was ich raten würde, wenn das Kind in Deutschland eingeschult wäre. Vielleicht sind ja ein paar Anregungen dabei, die die Mutter weiter bringen.

Nur weil man Legasthenie hat, ist man in den seltensten Fällen nicht intelligent. Schulerfolg hängt zum Teil von der Intelligenz der Kinder ab, aber eben nicht ausschlaggebend. Jeder kennt aus seiner Schulzeit noch den ehrgeizigen Schüler, der eigentlich gar nicht so klug aber bienchenfleißig war und deshalb mehr Erfolg hatte, als manches Kind das intelligenter aber fauler war.

Das Problem ist, dass Lesen in der Schule für alle Fächer Schlüsselkompetenz ist. Je höher die Klassenstufe, desto mehr muss man lesen können um Erfolg zu haben. Auch wenn das Kind jetzt in Mathe noch keine Problem hat, können die bald kommen. Das hängt gar nicht mit dem Rechnenkönnen zusammen, sondern vor allem damit, dass es immer mehr Textaufgaben geben wird oder Aufgaben, wo Textverständnis notwendig ist. Auch in allen anderen Schulfächern muss man lesen können und schreiben können. Genau das ist ja der springende Punkt, warum es Migrantenkinder bei gleicher Intelligenz so viel schwerer haben.

Legasthenie ist eine Krankheit, die sehr individuell ist. Je nach Kind ist sie stärker oder schwächer ausgeprägt und behindert so mehr oder weniger das Lernen. Manchmal kommen auch noch andere Erkrankungen hinzu, wie ADHS u. ä. Wie das bei dem einzelnen Kind ist, kann man per Ferndiagnose sowieso nicht beurteilen. Wenn da so ist, wie Du schreibst, dass das Kind nach der ersten Klasse alle Buchstaben kann, ist es zumindest nicht der schlimmste Fall, der eintreten kann. Als Mutter würde ich hier nicht nur die Meinung der Klassenlehrerin einholen, sondern auch den erwähnten Legasthenietherapeuten um eine individuelle Empfehlung bitten.

Manchmal bieten auch Universitäten mit Lehramtsausbildung die Möglichkeit an, dass man da sein Kind einschätzen lassen kann, wie man sich als Eltern weiter verhalten sollte. Es gibt da diverse Tests mit denen man die Leistung eines Kindes ziemlich exakt einschätzen kann, was die schriftsprachliche Leistung angeht.

Als Mutter steht man da vor einer sehr schwierigen Aufgabe. In Deutschland ist die Situation was Legasthenieförderung angeht nicht homogen. Da gibt es Bundesländer, da wird für Legastheniker nichts gemacht und in anderen Bundesländern gibt es spezielle Legasthenieerlasse. Dort wird beispielsweise die schriftliche Produktion in den Fächern außer Deutsch nicht in die Note gezählt u. a.m. Wenn die Situation in Österreich in dem Wohngebiet des Kindes prinzipiell legasthenieförderlich sein sollte, würde ich eher dazu tendieren, an Stelle der Mutter das Kind in die 2. Klasse zu lassen. Das hätte den Vorteil, dass das Kind bei seinen Freunden bleiben kann und nicht deprimiert wird. Man muss ja auch berücksichtigen, dass das Sitzenbleiben einen Knacks in der Seele des Kindes hinterlassen kann. Je nach Kind nimmt es da lockerer oder schwerer auf.

Um das Kind wiederholen zu lassen ist jetzt tatsächlich der günstigste Zeitpunkt. Jetzt tut es am wenigsten weh, sitzen zu bleiben. Wenn es in eine neue erste Klasse kommt, baut sich dort der Freundeskreis erst neu auf. Wenn da ein neues Kind dazu kommt, ist das nicht so stigmatisierend, als wenn das Kind mitten im Jahr neu in eine tiefere Klasse gehen muss. Das fällt mehr auf, weil sich alle Kinder schon kennen und schon Freundschaften gebildet wurden. Außerdem kann man bei solchen Teilleistungsschwächen wie Legasthenie nicht genug Sorgfalt verwenden, um die Grundlagen der Schriftsprache zu verinnerlichen. In dem Aspekt wäre das schon gut für das Kind.

Ich würde so eine Zurückstellung auch davon abhängig machen, wer die Lehrerin wird, zu der mein Kind dann kommen würde. Wenn die es zu nutzen weiß, das Kind dann individuell so zu fördern, dass es nicht im Gleichschritt mit den neuen Schülern lernen muss, kann das Kind durchaus profitieren. In vielen Grundschulklassen ist da heute ja schon so, dass der Lernstoff individuell angepasst wird. Das wäre dann auch gut für das Selbstbewusstsein für das Kind, wenn es quasi freiwillig zurück geht und in der neuen Klasse ein wenig Expertenstatus einnehmen kann. Aber wie das klappt ist sehr stark vom jeweiligen Lehrer abhängig. Für den Lehrer bedeutet das da hat viel Mehrarbeit, weil er unterschiedliche Arbeitsblätter für das Kind anfertigen muss und sich teilweise andere Aufgabenschwerpunkte ausdenken muss.

In Deutschland gibt es in der Schulanfangsphase Schulen, wo am Anfang jahrgangsübergreifender Unterricht gemacht wird. Falls es so etwas bei dem Kind gibt, würde ich versuchen, das Kind an so eine Schule wechseln zu lassen. In der Schulanfangsphase verbleibt das Kind dann so lange, wie es das individuell nötig hat. Vielleicht kann das Kind auch im Rahmen einer idndividuellen Vereinbarung am Mathematikunterricht der 2. Klasse mit teilnehmen. An manchen Schulen hier geht das. Da wäre ein klärendes Gespräch mit der Schulleitung wichtig.

Unabhängig davon, wie sich die Mutter entscheidet ist es fast das wichtigste, wie sie ihre Entscheidung dem Kind verkauft. Wichtig ist, dass für das Kind unter dem Strich klar wird, dass es das beste ist, wie die Eltern entschieden haben. Man muss hier auch ganz gezielt darauf achten, dass das Kind immer wieder vermittelt bekommt, dass es durch diese kleine Schwäche nicht minderwertig ist, sondern dass es einfach besonders gefördert werden muss. Auf keine Fall sollte man dem Kind sagen, dass es zurück gestuft wird, weil es dumm ist oder ähnliches. Das tut dem Kind unheimlich weh. Leider machen immer wieder Eltern diesen Fehler, dass sie ihre Kinder mit solchen Kommentaren verletzen. Ein Kind braucht unbedingt das Gefühl, dass die Eltern und Verwandten an es glauben und es unterstützen. Man sollte nämlich nicht vergessen, dass Kinder gerade in den ersten Schuljahren hauptsächlich deshalb lernen, weil sie ihren Eltern Freude machen wollen. Wenn man da das Kind vor den Kopf stößt, kann man irreparable Schäden erzeugen.

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» trüffelsucher » Beiträge: 12446 » Talkpoints: 3,92 » Auszeichnung für 12000 Beiträge



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